6. Juni 2019

Religiöse Privatschulen


Im 19. Jahrhundert entreisst der liberale Staat die Volksschule den Kirchen und macht sie zum Instrument der Integration. Katholiken und Reformierte gründen daraufhin eigene Schulen. Heute dominieren Evangelikale die religiöse Szene.
Evangelikale Privatschulen: Wo Gottes Wort weiterhin Pflicht ist, NZZ, 6.6. von Urs Hafner


Die Gretchenfrage ist unvermeidbar: Wie hält es Ihre Privatschule mit der Sexualität? Eric Flurys Antworten bleiben vage. Die Eltern nähmen an Weiterbildungen teil, damit sie die sexuelle Entwicklung ihrer Kinder besser verstehen und sie in der Identitätsfindung begleiten könnten. Und die Homosexualität? Die Schule befasse sich nun mit dem Sexualunterricht und werde die Sichtweise definieren. Auf jeden Fall werde die Freiheit der Jugendlichen respektiert, ihre sexuelle Orientierung zu bestimmen, schiebt Flury nach.
Flury ist Leiter der Schulkooperative, einer christlichen, bibelfundierten Privatschule in Biel und Thun mit über hundert Schülerinnen und Schülern. Sie ist vom Kanton Bern anerkannt. Flury, der an einer Dissertation zur evangelischen Lehrerbildungsgeschichte arbeitet, lebt offensichtlich für seine Schule. Er berichtet von der engagierten Zusammenarbeit der Lehrerinnen mit den Eltern, von Theateranlässen, die von einigen hundert Jugendlichen der Volksschule besucht werden, von Sozialeinsätzen der Schüler «bei Leuten mit Migrationshintergrund». Die öffentliche Schule spreche über Religion, sagt Flury, die Schulkooperative aber praktiziere den Glauben. Das Gebet ist Teil des Unterrichts.

Das Salz der Erde?
Zusammen mit neun weiteren Schulen der Deutschschweiz, die etwa «Saat», «Visionja» und «Salem» heissen, ist die Schulkooperative Mitglied der Initiative für christliche Bildung (ICB). Deren Präsident David Schneider ist zugleich Vorstandsmitglied der Evangelischen Allianz Winterthur, FDP-Gemeinderat und Gründer der Privatschule SalZH. Das Akronym bedeutet einerseits Schulalternative Zürich und verweist andererseits auf das Evangelium, in welchem Jesus seinen Jüngern sagt, sie seien das Salz der Erde.

In einem Interview mit dem «Prophetischen Bulletin» sagt Schneider: «Heute werden die Kinder schon im Kindergarten mit allen möglichen kulturellen Variationen konfrontiert. Wir glauben, dass dies nicht gut ist.» Bedenklich findet er auch das «Gender-Mainstreaming» – also die Gleichstellung der Geschlechter. Das zerstöre letztlich die Familie. Er lässt sogar durchblicken, dass im Kontext der Volksschule das «Menschenrecht auf Religion» verletzt werde.

«Heute werden die Kinder schon im Kindergarten mit allen möglichen kulturellen Variationen konfrontiert. Wir glauben, dass dies nicht gut ist.»
David Schneider, Präsident der Initiative für christliche Bildung und Gründer der Privatschule SalZH

Die Initiative für christliche Bildung ist nicht das einzige evangelikale Schulnetzwerk hierzulande. «Instruire.ch», dem Verband der christlichen Schulen der Romandie, gehören zehn Institutionen an. Viel ist das nicht im Vergleich mit den Volksschulen, und doch sind christlich-fundamentalistische Privatschulen seit dem Ende des 20. Jahrhunderts auf dem Vormarsch. Fast alle sind Neugründungen.

Weiter weist das Feld der christlichen Privatschulen rund 35 katholische Institutionen auf, die im Verband Katholische Schulen der Schweiz vereint sind. Sie sind stärker auf die Sekundarstufe II ausgerichtet und älter als die evangelischen «Bekenntnisschulen». Sie heben denn auch ihre katholische Tradition hervor, die in den mittelalterlichen Klosterschulen gründe. Das klingt nach edler Bildung.

Und sie praktizieren keinen Biblizismus. Für ihre «christlichen Werte», die sowohl in der Volksschule als auch in der säkularisierten Gesellschaft zu kurz kämen, können sich auch Religionsferne problemlos erwärmen: Offenheit, Achtsamkeit, Wertschätzung. Manche katholischen Schulen arbeiten zudem mit reformpädagogischen Ansätzen.

Staatsdiener statt Geistliche
Bis ins 18. Jahrhundert waren in der Schweiz alle Schulen christlich: die Klosterschulen natürlich, aber auch die städtischen Lateinschulen und die ersten Landschulen. Die Lehrer waren Geistliche, Ordensleute und Pfarrer. Der Unterricht fusste auf dem religiösen Katechismus, über den die Kirche wachte. Selbst die an den Universitäten und theologischen Hochschulen gelehrten Naturwissenschaften hatten theologiekompatibel zu sein.

Mit den liberalen Revolutionen der 1830er Jahre entsteht in den Kantonen die säkularisierte Volksschule. Sie ist obligatorisch und kostenlos. 1874 wird sie in der Bundesverfassung verankert. Die Väter der Volksschulen sind die liberalen Eliten, die den neuen Staat unter anderem gegen religiöse Spannungen und Sonderinteressen durchsetzen. Die Volksschule soll alle Bürger und – eher halbherzig – Bürgerinnen integrieren. Die Lehrer und Lehrerinnen sind nun keine Geistlichen mehr, sondern von Lehrerseminarien approbierte Staatsdiener.

Das passt vielen Religiösen nicht. Sie lehnen den «erzieherischen Staat» ab. Im Zuge der Säkularisierung der christlichen Schulen werden im 19. Jahrhundert konfessionelle Privatschulen gegründet. Während auf katholischer Seite insbesondere weibliche Kongregationen aktiv sind, etwa die Menzinger Schwestern, machen sich für die Reformierten die Pietisten stark. Sie treiben die Entstehung der modernen Pädagogik voran, indem sie die klassische Trichterpädagogik ablehnen (was der Lehrer hineinstopft, muss der Schüler ausspucken).

Beispielhaft ist die 1820 von Basler und deutschen Pietisten gegründete Armenschule und Ausbildungsstätte Beuggen in Baden-Württemberg, unweit von Basel. Die in einem Schloss untergebrachte Schule strahlte in den gesamten deutschen Sprachraum aus.

«Ein sogenanntes Christentum ohne Christus, ohne Glauben, ohne Liebe, ohne Trost und ohne Lebenskraft verbreitete sich wie eine Sintflut und öffnete der Sittenverderbnis alle Türen und Tore.»
Christian Heinrich Zeller, pietistischer Schulleiter in Beuggen bei Basel, 1820

In seiner Eröffnungsrede umreisst der Kirchenlieddichter und Pietist Christian Heinrich Zeller die Mission der neuen Institution, die er von Feinden umzingelt sah: «Ein sogenanntes Christentum ohne Christus, ohne Glauben, ohne Liebe, ohne Trost und ohne Lebenskraft verbreitete sich wie eine Sintflut und öffnete, weil es kein Salz hatte oder dumm gewordenes Salz war, der Sittenverderbnis alle Türen und Tore, welches wie eine geistige Fäulnis den ganzen Körper des Christenvolks der Verwesung preiszugeben drohte.»
Dagegen will Zeller, der sich an der Pädagogik Pestalozzis orientiert, Lehrer und Schüler für das Reich Gottes erziehen, das «Himmel und Erde umfasst und alle Völker durchdringen will».

Man bleibt unter sich
Den Liberalen in der Schweiz geht diese millenaristische Frömmigkeit zu weit. Als Zeller 1829 den Tod eines Mädchens in Beuggen als Zeichen für Gottes Präsenz in der Institution deutet, attackiert der Schriftsteller Heinrich Zschokke in seinem in Aarau erscheinenden «Schweizer Boten» sowohl den Pietisten als auch den behandelnden Arzt. «Der fromme Wahnsinn hat gemordet», das Kind sei ein Opfer des religiösen Fanatismus geworden. Zeller habe das Mädchen so lange mit seinen Lehren bearbeitet, bis dessen eh schon angegriffenes Hirn den Geist aufgegeben habe, schreibt der «Bote».

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstehen in Reaktion auf die Säkularisierung weitere reformierte Privatschulen, etwa in Bern (Freies Gymnasium, Evangelisches Seminar Muristalden), in Zürich und in der Ostschweiz. In der Westschweiz gründen Freikirchen mehrere Schulen, in Lausanne die Mädchenschule Ecole Vinet und für Knaben das Collège Galliard.

Doch viele der konfessionellen privaten Institutionen des 19. Jahrhunderts gehen wieder ein. Sie sind schlicht zu teuer. Viele weitere legen mit der Zeit den religiösen Eifer der Gründerjahre ab.

Was die christlichen Privatschulen bei allen konfessionellen und pädagogischen Unterschieden eint: Eltern haben die Gewissheit, dass die Lehrpersonen die gleiche Weltanschauung wie sie vertreten und sich wie Eric Flury von der Schulkooperative stark mit der Schule identifizieren. Und die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder mit Schülern aus Südosteuropa oder Afrika in Kontakt kommen, ist eher gering.

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