Im
19. Jahrhundert entreisst der liberale Staat die Volksschule den Kirchen
und macht sie zum Instrument der Integration. Katholiken und Reformierte
gründen daraufhin eigene Schulen. Heute dominieren Evangelikale die religiöse
Szene.
Evangelikale Privatschulen: Wo Gottes Wort weiterhin Pflicht ist, NZZ, 6.6. von Urs Hafner
Die Gretchenfrage ist unvermeidbar: Wie hält es Ihre Privatschule mit
der Sexualität? Eric Flurys Antworten bleiben vage. Die Eltern nähmen an
Weiterbildungen teil, damit sie die sexuelle Entwicklung ihrer Kinder besser
verstehen und sie in der Identitätsfindung begleiten könnten. Und die
Homosexualität? Die Schule befasse sich nun mit dem Sexualunterricht und werde
die Sichtweise definieren. Auf jeden Fall werde die Freiheit der Jugendlichen
respektiert, ihre sexuelle Orientierung zu bestimmen, schiebt Flury nach.
Flury ist Leiter der Schulkooperative, einer
christlichen, bibelfundierten Privatschule in Biel und Thun mit über hundert
Schülerinnen und Schülern. Sie ist vom Kanton Bern anerkannt. Flury, der an
einer Dissertation zur evangelischen Lehrerbildungsgeschichte arbeitet, lebt
offensichtlich für seine Schule. Er berichtet von der engagierten
Zusammenarbeit der Lehrerinnen mit den Eltern, von Theateranlässen, die von
einigen hundert Jugendlichen der Volksschule besucht werden, von Sozialeinsätzen
der Schüler «bei Leuten mit Migrationshintergrund». Die öffentliche Schule
spreche über Religion, sagt Flury, die Schulkooperative aber praktiziere den
Glauben. Das Gebet ist Teil des Unterrichts.
Das Salz der Erde?
Zusammen mit neun weiteren Schulen der Deutschschweiz, die etwa «Saat»,
«Visionja» und «Salem» heissen, ist die Schulkooperative Mitglied der Initiative
für christliche Bildung (ICB). Deren Präsident David Schneider
ist zugleich Vorstandsmitglied der Evangelischen Allianz Winterthur,
FDP-Gemeinderat und Gründer der Privatschule SalZH. Das
Akronym bedeutet einerseits Schulalternative Zürich und verweist andererseits
auf das Evangelium, in welchem Jesus seinen Jüngern sagt, sie seien das Salz
der Erde.
In einem Interview mit dem
«Prophetischen Bulletin» sagt Schneider: «Heute werden die
Kinder schon im Kindergarten mit allen möglichen kulturellen Variationen
konfrontiert. Wir glauben, dass dies nicht gut ist.» Bedenklich findet er auch
das «Gender-Mainstreaming» – also die Gleichstellung der Geschlechter. Das
zerstöre letztlich die Familie. Er lässt sogar durchblicken, dass im Kontext
der Volksschule das «Menschenrecht auf Religion» verletzt werde.
«Heute werden die Kinder schon im Kindergarten mit allen möglichen
kulturellen Variationen konfrontiert. Wir glauben, dass dies nicht gut ist.»
David Schneider, Präsident der Initiative für christliche Bildung
und Gründer der Privatschule SalZH
Die Initiative für christliche Bildung ist nicht das einzige
evangelikale Schulnetzwerk hierzulande. «Instruire.ch», dem
Verband der christlichen Schulen der Romandie, gehören zehn Institutionen an.
Viel ist das nicht im Vergleich mit den Volksschulen, und doch sind
christlich-fundamentalistische Privatschulen seit dem Ende des
20. Jahrhunderts auf dem Vormarsch. Fast alle sind Neugründungen.
Weiter weist das Feld der christlichen Privatschulen rund 35 katholische
Institutionen auf, die im Verband Katholische Schulen der
Schweiz vereint sind. Sie sind stärker auf die Sekundarstufe II
ausgerichtet und älter als die evangelischen «Bekenntnisschulen». Sie heben
denn auch ihre katholische Tradition hervor, die in den mittelalterlichen
Klosterschulen gründe. Das klingt nach edler Bildung.
Und sie praktizieren keinen Biblizismus. Für ihre «christlichen Werte»,
die sowohl in der Volksschule als auch in der säkularisierten Gesellschaft zu
kurz kämen, können sich auch Religionsferne problemlos erwärmen: Offenheit,
Achtsamkeit, Wertschätzung. Manche katholischen Schulen arbeiten zudem mit
reformpädagogischen Ansätzen.
Staatsdiener statt Geistliche
Bis ins 18. Jahrhundert waren in der Schweiz alle Schulen
christlich: die Klosterschulen natürlich, aber auch die städtischen Lateinschulen
und die ersten Landschulen. Die Lehrer waren Geistliche, Ordensleute und
Pfarrer. Der Unterricht fusste auf dem religiösen Katechismus, über den die
Kirche wachte. Selbst die an den Universitäten und theologischen Hochschulen
gelehrten Naturwissenschaften hatten theologiekompatibel zu sein.
Mit den liberalen Revolutionen der 1830er Jahre entsteht in den Kantonen
die säkularisierte Volksschule. Sie ist obligatorisch und kostenlos. 1874 wird
sie in der Bundesverfassung verankert. Die Väter der Volksschulen sind die
liberalen Eliten, die den neuen Staat unter anderem gegen religiöse Spannungen
und Sonderinteressen durchsetzen. Die Volksschule soll alle Bürger und – eher
halbherzig – Bürgerinnen integrieren. Die Lehrer und Lehrerinnen sind nun keine
Geistlichen mehr, sondern von Lehrerseminarien approbierte Staatsdiener.
Das passt vielen Religiösen nicht. Sie lehnen den «erzieherischen Staat»
ab. Im Zuge der Säkularisierung der christlichen Schulen werden im
19. Jahrhundert konfessionelle Privatschulen gegründet. Während auf
katholischer Seite insbesondere weibliche Kongregationen aktiv sind, etwa die
Menzinger Schwestern, machen sich für die Reformierten die Pietisten stark. Sie
treiben die Entstehung der modernen Pädagogik voran, indem sie die klassische
Trichterpädagogik ablehnen (was der Lehrer hineinstopft, muss der Schüler
ausspucken).
Beispielhaft ist die 1820 von Basler und deutschen Pietisten gegründete
Armenschule und Ausbildungsstätte Beuggen in Baden-Württemberg, unweit von
Basel. Die in einem Schloss untergebrachte Schule strahlte in den gesamten
deutschen Sprachraum aus.
«Ein sogenanntes Christentum ohne Christus, ohne Glauben, ohne Liebe,
ohne Trost und ohne Lebenskraft verbreitete sich wie eine Sintflut und öffnete
der Sittenverderbnis alle Türen und Tore.»
Christian Heinrich Zeller, pietistischer Schulleiter in Beuggen bei
Basel, 1820
In seiner Eröffnungsrede umreisst der Kirchenlieddichter und Pietist
Christian Heinrich Zeller die Mission der neuen Institution, die er von Feinden
umzingelt sah: «Ein sogenanntes Christentum ohne Christus, ohne Glauben, ohne
Liebe, ohne Trost und ohne Lebenskraft verbreitete sich wie eine Sintflut und
öffnete, weil es kein Salz hatte oder dumm gewordenes Salz war, der
Sittenverderbnis alle Türen und Tore, welches wie eine geistige Fäulnis den
ganzen Körper des Christenvolks der Verwesung preiszugeben drohte.»
Dagegen will Zeller, der sich an der Pädagogik Pestalozzis orientiert,
Lehrer und Schüler für das Reich Gottes erziehen, das «Himmel und Erde umfasst
und alle Völker durchdringen will».
Man bleibt unter sich
Den Liberalen in der Schweiz geht diese millenaristische Frömmigkeit zu
weit. Als Zeller 1829 den Tod eines Mädchens in Beuggen als Zeichen für Gottes
Präsenz in der Institution deutet, attackiert der Schriftsteller Heinrich
Zschokke in seinem in Aarau erscheinenden «Schweizer Boten» sowohl den
Pietisten als auch den behandelnden Arzt. «Der fromme Wahnsinn hat gemordet»,
das Kind sei ein Opfer des religiösen Fanatismus geworden. Zeller habe das
Mädchen so lange mit seinen Lehren bearbeitet, bis dessen eh schon
angegriffenes Hirn den Geist aufgegeben habe, schreibt der «Bote».
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstehen in Reaktion auf die
Säkularisierung weitere reformierte Privatschulen, etwa in Bern (Freies Gymnasium, Evangelisches Seminar Muristalden), in Zürich
und in der Ostschweiz. In der Westschweiz gründen Freikirchen mehrere Schulen,
in Lausanne die Mädchenschule Ecole Vinet und für
Knaben das Collège Galliard.
Doch viele der konfessionellen privaten Institutionen des
19. Jahrhunderts gehen wieder ein. Sie sind schlicht zu teuer. Viele
weitere legen mit der Zeit den religiösen Eifer der Gründerjahre ab.
Was die christlichen Privatschulen bei allen konfessionellen und
pädagogischen Unterschieden eint: Eltern haben die Gewissheit, dass die
Lehrpersonen die gleiche Weltanschauung wie sie vertreten und sich wie Eric
Flury von der Schulkooperative stark mit der Schule identifizieren. Und die
Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder mit Schülern aus Südosteuropa oder Afrika
in Kontakt kommen, ist eher gering.
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