6. Juni 2019

"Den eigenen Weg finden"


Für Tanja Brodbeck und Raphael Vanzella war es keine Frage. Als vor elf Jahren ihre Tochter Anna zur Welt kam, wurden die Weichen für die Einschulung an einer Rudolf-Steiner-Schule gestellt. Die Eltern, einst selber Steiner-Schüler, suchten ein neues Zuhause. Dass sie in Gehdistanz zur Steiner-Schule in Winterthur ein Haus im ehemaligen Arbeiterquartier Töss erstehen konnten, bezeichnet der Architekt als unglaublichen Glücksfall. Auch die achtjährige Leonie und der fünfjährige Jonas gehen dort zur Schule. Das Schulgeld orientiert sich am Einkommen der Eltern und steigt bei mehreren Kindern nur unwesentlich an.
Tanja Brodbeck und Raphael Vanzella schicken ihre Kinder an eine Steiner-Schule - warum? NZZ, 6.6. von Natalie Avanzino


Brodbeck und Vanzella identifizieren sich sehr mit dem Unterricht. Das zeigt sich auch im Gespräch. «Diese Pädagogik müsste allen Kindern offenstehen», sagt Brodbeck. Gemeint sind die Grundsätze der 1919 von Rudolf Steiner gegründeten Schule für die damalige Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart, die für die Arbeiterkinder Bildung ermöglichen sollte.

Es sei heute aber keineswegs so, dass alle Eltern vollumfänglich mit dem anthroposophischen Weltbild Steiners und der Waldorfpädagogik übereinstimmten. Für die Ärztin steht der konsequent auf die Entwicklungsbedürfnisse des Kindes abgestimmte Lehrplan im Vordergrund. «Dies fördert ein kreatives, lebendiges Denken», sagt die 43-Jährige. Dazu gehört auch, dass Primarschulkinder von Handy und Internet lange ferngehalten werden müssen.

Ist das nicht bevormundend? Brodbeck und Vanzella sind anderer Meinung. Die Vereinbarungen zum Medienkonsum, die an Elternabenden festgelegt werden, sehen sie vielmehr als Unterstützung im Umgang mit einem schwierigen Thema. Auch die Frage, ob Steiner-Kinder nach den vielen musischen und gestalterischen Elementen im Unterricht ausreichend gerüstet seien für ein Studium, können die beiden Akademiker nicht nachvollziehen. «Gerade die ganzheitliche Förderung lässt die Kinder ihr Potenzial richtig ausschöpfen», sagt Vanzella.

Er und seine Frau haben sich vor 24 Jahren bei der Vorbereitung auf die eidgenössische Matur kennengelernt. «Wir waren so wissbegierig, gerade weil wir in unserer Schulzeit so viel anderes lernen und erleben durften – und nicht nur nach Schulbuch gebüffelt haben», erzählen die beiden. Mittlerweile haben es die Schülerinnen und Schüler der Privatschule einfacher, sie können an der angegliederten Atelierschule in Zürich eine Hausmatur ablegen.

Ob die Kinder der Familie Brodbeck-Vanzella dereinst den Weg einer akademischen Ausbildung gehen oder nicht, sehen die Eltern gelassen. «Wesentlich ist für uns, dass sie darin gestärkt werden, ihren eigenen Weg zu finden», sagt Brodbeck.


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