6. Juni 2019

Sind Privatschulen besser?


Mittagstisch, Tagesschule, Flexibilität: Manchmal entscheiden sich Eltern aus überaus praktischen Überlegungen für eine Privatschule. Doch haben ihre Kinder gegenüber den Schülern an öffentlichen Einrichtungen wirklich einen Vorteil?

Anteile Privatschüler auf Primar- und Sekundarstufe, in ausgewählten Kantonen, in Prozent
Bundesamt für Statistik – Grafik: brt.
Privatschulen zeigen, was die Volksschule besser machen könnte, NZZ, 6.6. von Robin Schwarzenbach


 «Die Einschulung ist Sache der Schulleitung, da haben Sie gar nichts zu sagen!» Ungefähr so kann man sich den letzten Kontakt von Anne Sybil Götschi mit einer öffentlichen Schule vorstellen. Götschis Tochter war nach einem Jahr in einem zweisprachigen Kindergarten in Thalwil bereits für schulreif befunden worden. Doch die Primarschule (beziehungsweise deren Mitarbeiterin am Telefon) wollte von dem Anliegen der Mutter nichts wissen. Also schauten sich Götschi und ihr Mann nach Alternativen um – und fanden eine Privatschule, die ihre Erwartungen erfüllte.

Beide Eltern arbeiten viel, sie als Inhaberin eines Management-Unternehmens und Verwaltungsratspräsidentin mehrerer Firmen, er als Psychiater. Neben Tagesschulstrukturen suchten sie einen Ort, wo man ihnen auch sonst entgegenkommt. «Eine Dispens für einen Besuch der Art Basel oder für den Klimastreik vor zwei Wochen in Zürich zu bekommen, war kein Problem», erzählt Götschi. Im Gegenteil: Der Schulleiter unterstütze solche Aktivitäten ausserhalb des Unterrichts.

«Wir wollten uns nicht abhängig machen»
Bei Leonie Troxler war es ähnlich. Sie und ihr Mann sind ebenfalls beide berufstätig. Die Hedge-Fund-Managerin wollte ebenfalls sichergehen, dass die Schule ihres Kindes ihren Bedürfnissen entsprach und nicht etwa umgekehrt. Betreuung über Mittag und nach Schulschluss gab es in ihrer damaligen Wohngemeinde nicht. «Wir wollten uns nicht von einer Nanny abhängig machen», sagt Troxler. Ausserdem sollte die Tochter nach einem (in der Zwischenzeit erfolgten) Umzug in eine andere Gemeinde weiter dieselbe Schule besuchen können.

Heute gehen die beiden Kinder an die Swiss International School (SIS) im schwyzerischen Pfäffikon, in die vierte und in die sechste Primarklasse. Es ist der jüngste Standort des Unternehmens, das auch im Grossraum Zürich, in Basel, Winterthur und in Rotkreuz im Kanton Zug präsent ist.

Alle Schulen von SIS haben ein klares Konzept: Unterrichtet wird immersiv – die eine Stunde findet auf Deutsch, die andere auf Englisch statt. Die eine mit dem einen Lehrer, die andere mit der anderen Lehrerin. Im einen und im anderen Klassenzimmer. Materialien, Plakate und Zettel an den Wänden der Räume sind jeweils nur in einer Sprache gehalten. Die Lehrer müssen Muttersprachler sein. Und sie müssen sich gut absprechen über den Stoff, da sie ihre Schüler in den gleichen Fächern, aber eben in unterschiedlichen Sprachen unterrichten.

Die Schule in Pfäffikon liegt an einem Autobahnzubringer etwas ausserhalb des Zentrums. Der kantige Neubau verfügt über ein Fussballfeld, einen Spielplatz, eine grosszügige Mensa und eine Turnhalle. Auch sonst gibt es viel Platz in dem Gebäude. Derzeit gehen 135 Kinder und Jugendliche in überschaubaren Klassen hier zur Schule. Konzipiert ist die Anlage für gut doppelt so viele. «Unser Ziel liegt bei 15 Schülern pro Klasse», sagt Andrea Furgler, der CEO.

Es ist kein Zufall, dass die SIS am oberen Zürichsee investiert hat. Die umliegenden Gemeinden Freienbach, Wollerau und Feusisberg zählen zu den steuergünstigsten der Schweiz. Hier leben viele wohlhabende Familien, die es sich leisten können, den Nachwuchs für rund 25000 Franken pro Jahr in eine Privatschule zu schicken. Machen sie es sich zu einfach, wenn sie meinen, ihr Kind sei in einer solchen Umgebung besser aufgehoben als an einer öffentlichen Schule?

«Natürlich wollen Eltern das Beste für ihre Kinder. Aber damit ist häufig das Beste für sich selbst gemeint.»
Margrit Stamm, Erziehungswissenschafterin

Margrit Stamm, emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg und Inhaberin eines eigenen Forschungsinstituts, findet: Ja – auch wenn es schwierig sei, das öffentlich zu sagen. «Natürlich wollen Eltern das Beste für ihre Kinder», sagt Stamm. «Aber damit ist häufig das Beste für sich selbst gemeint.»
Man wolle den Status der Familie sichern, also setze man alles daran, dass das Kind dank spezieller Förderung an einer Privatschule auch ja ins Gymnasium komme. Man erwarte Erfolg, setze aber gleichzeitig auf ein «reibungsarmes» Verhältnis zu Schulleitung und Lehrern, da man selber ja schon genug eingespannt sei. «Das entlastet und beruhigt gleichermassen», sagt Stamm. Sie meint es durchaus kritisch.

«The younger the better!»
Anne Sybil Götschi («viel weniger Ärger als an einer öffentlichen Schule») und Leonie Troxler («zu wenig Unterstützung für Berufstätige in vielen Gemeinden») könnte man auf den ersten Blick ebenfalls mit solchen Eltern von Privatschulkindern verwechseln. Doch der Eindruck täuscht. Beide Mütter wirken nicht so im Gespräch, als sei die Schulbildung ihrer Kinder für sie mit dem Bezahlen der Rechnung der Privatschule erledigt.

Götschi erzählt begeistert, wie sehr Projektarbeiten und das Halten von Vorträgen ihre Tochter schon früh vorangebracht hätten. Troxler und ihr Mann hatten weitere Privatschulen geprüft und sich Schreibproben verschiedener Klassen geben lassen, bevor sie sich für die SIS entschieden. Für die Schule in Pfäffikon habe auch gesprochen, dass sie kantonal anerkannt sei, sagt Troxler, was einen Übertritt an eine öffentliche Schule nach der Primarstufe erleichtere.

Der zweisprachige, internationale Ansatz ist natürlich ein weiteres Argument. Götschi und Troxler sind keine Ausnahme. 50 Prozent der Kinder der SIS in Pfäffikon stammen aus Expatkreisen, doch die anderen 50 Prozent sind Schweizer. «The first two months they won’t speak a word», sagt eine Lehrerin in einer Pause. «But then they catch on. The younger the better!» – «Now I like it», bestätigt ein Zweitklässler, der vor zwei Jahren noch gar kein Englisch konnte und dem die ersten Wochen an der Schule daher auch nicht gefielen.

Die Herkunft entscheidet
Haben Kinder wie dieser Knabe einen Vorteil, der weniger privilegierten Schülern an der Volksschule nicht vergönnt ist? Bildungsaffine Eltern flüchteten aus einem Schulsystem, in dem die Hälfte der Sechstklässler den Anforderungen der Sekundarstufe in Deutsch nur knapp genügten, sagte Carl Bosshard in der «NZZ am Sonntag» im vergangenen November. Dem Dozenten und früheren Rektor der Pädagogischen Hochschule Zug macht diese Entwicklung Sorgen. Das Portemonnaie dürfe nicht über die Bildung der Kinder entscheiden, sagte Bosshard.

Diese Gefahr ist überschaubar, zumindest was Privatschulen angeht. In den Wirtschaftszentren Genf, Basel und Zug gehen zwar mehr Schüler an private Schulen als in anderen Kantonen. Doch ihr Anteil insgesamt ist immer noch klein (siehe Grafik). Das spricht auch für die Qualität der Volksschule.

Doch die Leistungen an staatlichen Primarschulen sind tatsächlich unterschiedlich. Nichtdeutschsprachige Kinder verfügen über einen minderentwickelten Wortschatz und können dieses Defizit ohne Unterstützung zu Hause auch nicht ausgleichen, wie eine Studie der Universität Zürich zeigt. Aber ist das für die Entwicklung einheimischer Schülerinnen und Schüler wirklich ein Problem?

Die Bildungsforscherin Margrit Stamm hält die Vorbehalte gegenüber national und sozial durchmischten Primarklassen für gesucht. Zum einen bevorzugten wohlhabende Eltern ohnehin Quartiere und Gemeinden, die ihrer eigenen Herkunft entsprächen. Brennpunkte mit einem erdrückenden Ausländeranteil aus bildungsfernen Schichten gehören nicht dazu.

Fisch und Fischteicheffekt
Und zum anderen sei es häufig umgekehrt, sagt Stamm und verweist auf den sogenannten Fischteicheffekt: Starke Schüler werden von schwächeren Kameraden nicht etwa aufgehalten – sie profitieren vielmehr von ihnen, weil sie positiv auffallen und so auch Verantwortung übernehmen können in der Klasse.

«Vielleicht würden manche Privatschüler in einer einfachen Schule besser fahren», sagt Stamm. «Denn dort wären sie der Star!» Die Forschung geht davon aus, dass solche grossen Fische im kleinen Teich ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein entwickeln. In ebenso homogenen wie leistungsstarken Klassen ist das weit weniger der Fall.

Privatschüler sind auch nicht unbedingt besser als Kinder an öffentlichen Schulen. In einer vergleichenden Pisa-Studie schneiden Privatschüler zwar besser ab; ihr Vorsprung entspricht drei Vierteln eines Schuljahrs. Dieser Unterschied ist jedoch in erster Linie auf soziale Faktoren zurückzuführen: Privatschüler können auf Unterstützung und Ansporn gebildeter Eltern zählen. Das macht sie leistungsfähiger in der Schule.

Schüler mit einem vergleichbaren Hintergrund erzielen an staatlichen Schulen allerdings ähnliche oder – wie im Fall der Schweiz in dieser Untersuchung von 2009 – sogar leicht bessere Resultate. Neuere Daten liegen nicht vor. Doch an dem Befund, dass vor allem Bildungsstand und Umfeld der Eltern über den Erfolg in der Schule entscheiden, dürfte sich wenig geändert haben. Die Debatte um (fehlende) Chancengleichheit bildungsferner Kinder vor einem allfälligen Übertritt ins Gymnasium deutet in eine ähnliche Richtung.

Würfel, Quader, Platten
Privatschulen bedienen besondere Bedürfnisse. Sie wirken mitunter wie eine heile Welt. An der Schule Dandelion in Zürich Altstetten dürfen, ja sollen die Schüler selber sagen, welche Lernziele sie angehen wollen. Die Unternehmerin und dreifache Mutter Angela Joerg hat die Schule vor gut zwei Jahren gegründet – aus Unzufriedenheit mit dem Schulsystem.
Bei Dandelion konzentriere man sich aufs Können der Kinder, nicht aufs Nicht-Können wie an staatlichen Schulen. Das zieht offenbar. Zu den bisherigen 600 gemieteten Quadratmetern in dem Gebäude sollen bald 500 dazukommen.

«Wir verwöhnen unsere Schüler nicht. Wir unterstützen sie lediglich darin, eigene Lösungsstrategien zu entwickeln.»
Verena Schüepp-Lanz, Leiterin der Montessori-Schule «d'Insle» in Zürich

Auch die Montessori-Schule mit dem vielsagenden Namen «d’Insle»im vornehmen Mühlebachquartier in Zürich ist mit einem gewöhnlichen Schulbetrieb nicht zu vergleichen: weniger Kinder, mehr Lehrerinnen, konzentrierte Stille und viele Lernmaterialien aus Holz, die die Primarschüler jederzeit hervorholen dürfen.

Zwei kleine Mädchen beschäftigen sich mit grünen Würfeln, blauen Quadern und roten quadratischen Platten in verschiedenen Grössen. Haptisch, optisch, schriftlich – so verinnerlichen sie Zahlenreihen von 1 bis 1 000 000.

«Wir verwöhnen unsere Schüler nicht», sagt Verena Schüepp-Lanz, die Schulleiterin. «Wir unterstützen sie lediglich darin, eigene Lösungsstrategien zu entwickeln.» Das Konzept verfängt vor allem bei Eltern von Kindergärtlern und Schülern der unteren Primarklassen. Danach wirkt der Unterschied von Montessori-Schulen für viele nicht mehr so zwingend.
Was kommt danach? Die Tochter von Anne Sybil Götschi hätte sich für das zweisprachige Gymnasium der Swiss International School in Wallisellen entscheiden können. Doch sie wollte an eine Kantonsschule in Zürich wechseln, trat zur Prüfung fürs Gymnasium an und bestand – obwohl Vornoten von Privatschülern nicht berücksichtigt werden.

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