Mittagstisch,
Tagesschule, Flexibilität: Manchmal entscheiden sich Eltern aus überaus
praktischen Überlegungen für eine Privatschule. Doch haben ihre Kinder
gegenüber den Schülern an öffentlichen Einrichtungen wirklich einen
Vorteil?
Anteile Privatschüler auf Primar- und Sekundarstufe, in ausgewählten Kantonen, in Prozent
Bundesamt für Statistik – Grafik: brt.
Privatschulen zeigen, was die Volksschule besser machen könnte, NZZ, 6.6. von Robin Schwarzenbach
«Die Einschulung ist Sache der
Schulleitung, da haben Sie gar nichts zu sagen!» Ungefähr so kann man sich den
letzten Kontakt von Anne Sybil Götschi mit einer öffentlichen Schule
vorstellen. Götschis Tochter war nach einem Jahr in einem zweisprachigen
Kindergarten in Thalwil bereits für schulreif befunden worden. Doch die
Primarschule (beziehungsweise deren Mitarbeiterin am Telefon) wollte von dem
Anliegen der Mutter nichts wissen. Also schauten sich Götschi und ihr Mann nach
Alternativen um – und fanden eine Privatschule, die ihre Erwartungen erfüllte.
Beide Eltern arbeiten viel, sie als Inhaberin eines
Management-Unternehmens und Verwaltungsratspräsidentin mehrerer Firmen, er als
Psychiater. Neben Tagesschulstrukturen suchten sie einen Ort, wo man ihnen auch
sonst entgegenkommt. «Eine Dispens für einen Besuch der Art Basel oder für den
Klimastreik vor zwei Wochen in Zürich zu bekommen, war kein Problem», erzählt
Götschi. Im Gegenteil: Der Schulleiter unterstütze solche Aktivitäten
ausserhalb des Unterrichts.
«Wir wollten uns nicht abhängig
machen»
Bei Leonie Troxler war es ähnlich. Sie und ihr Mann sind ebenfalls beide
berufstätig. Die Hedge-Fund-Managerin wollte ebenfalls sichergehen, dass die
Schule ihres Kindes ihren Bedürfnissen entsprach und nicht etwa umgekehrt.
Betreuung über Mittag und nach Schulschluss gab es in ihrer damaligen
Wohngemeinde nicht. «Wir wollten uns nicht von einer Nanny abhängig machen»,
sagt Troxler. Ausserdem sollte die Tochter nach einem (in der Zwischenzeit
erfolgten) Umzug in eine andere Gemeinde weiter dieselbe Schule besuchen
können.
Heute gehen die beiden Kinder an die Swiss International School (SIS) im
schwyzerischen Pfäffikon, in die vierte und in die sechste
Primarklasse. Es ist der jüngste Standort des Unternehmens, das auch im
Grossraum Zürich, in Basel, Winterthur und in Rotkreuz im Kanton Zug präsent
ist.
Alle Schulen von SIS haben ein klares Konzept: Unterrichtet wird
immersiv – die eine Stunde findet auf Deutsch, die andere auf Englisch statt.
Die eine mit dem einen Lehrer, die andere mit der anderen Lehrerin. Im einen
und im anderen Klassenzimmer. Materialien, Plakate und Zettel an den Wänden der
Räume sind jeweils nur in einer Sprache gehalten. Die Lehrer müssen
Muttersprachler sein. Und sie müssen sich gut absprechen über den Stoff, da sie
ihre Schüler in den gleichen Fächern, aber eben in unterschiedlichen Sprachen
unterrichten.
Die Schule in Pfäffikon liegt an einem Autobahnzubringer etwas
ausserhalb des Zentrums. Der kantige Neubau verfügt über ein Fussballfeld,
einen Spielplatz, eine grosszügige Mensa und eine Turnhalle. Auch sonst gibt es
viel Platz in dem Gebäude. Derzeit gehen 135 Kinder und Jugendliche in
überschaubaren Klassen hier zur Schule. Konzipiert ist die Anlage für gut
doppelt so viele. «Unser Ziel liegt bei 15 Schülern pro Klasse», sagt Andrea
Furgler, der CEO.
Es ist kein Zufall, dass die SIS am oberen Zürichsee investiert hat. Die
umliegenden Gemeinden Freienbach, Wollerau und Feusisberg zählen zu den
steuergünstigsten der Schweiz. Hier leben viele wohlhabende Familien, die es
sich leisten können, den Nachwuchs für rund 25000 Franken pro Jahr in eine
Privatschule zu schicken. Machen sie es sich zu einfach, wenn sie meinen, ihr
Kind sei in einer solchen Umgebung besser aufgehoben als an einer öffentlichen
Schule?
«Natürlich wollen Eltern das Beste für ihre Kinder. Aber damit ist
häufig das Beste für sich selbst gemeint.»
Margrit Stamm, Erziehungswissenschafterin
Margrit Stamm, emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften an
der Universität Freiburg und Inhaberin eines eigenen Forschungsinstituts,
findet: Ja – auch wenn es schwierig sei, das öffentlich zu sagen. «Natürlich
wollen Eltern das Beste für ihre Kinder», sagt Stamm. «Aber damit ist häufig
das Beste für sich selbst gemeint.»
Man wolle den Status der Familie sichern, also setze man alles daran,
dass das Kind dank spezieller Förderung an einer Privatschule auch ja ins
Gymnasium komme. Man erwarte Erfolg, setze aber gleichzeitig auf ein
«reibungsarmes» Verhältnis zu Schulleitung und Lehrern, da man selber ja schon
genug eingespannt sei. «Das entlastet und beruhigt gleichermassen», sagt Stamm.
Sie meint es durchaus kritisch.
«The younger the better!»
Anne Sybil Götschi («viel weniger Ärger als an einer öffentlichen
Schule») und Leonie Troxler («zu wenig Unterstützung für Berufstätige in vielen
Gemeinden») könnte man auf den ersten Blick ebenfalls mit solchen Eltern von
Privatschulkindern verwechseln. Doch der Eindruck täuscht. Beide Mütter wirken
nicht so im Gespräch, als sei die Schulbildung ihrer Kinder für sie mit dem
Bezahlen der Rechnung der Privatschule erledigt.
Götschi erzählt begeistert, wie sehr Projektarbeiten und das Halten von
Vorträgen ihre Tochter schon früh vorangebracht hätten. Troxler und ihr Mann
hatten weitere Privatschulen geprüft und sich Schreibproben verschiedener
Klassen geben lassen, bevor sie sich für die SIS entschieden. Für die Schule in
Pfäffikon habe auch gesprochen, dass sie kantonal anerkannt sei, sagt Troxler,
was einen Übertritt an eine öffentliche Schule nach der Primarstufe
erleichtere.
Der zweisprachige, internationale Ansatz ist natürlich ein weiteres
Argument. Götschi und Troxler sind keine Ausnahme. 50 Prozent der Kinder der
SIS in Pfäffikon stammen aus Expatkreisen, doch die anderen 50 Prozent sind
Schweizer. «The first two months they won’t speak a word»,
sagt eine Lehrerin in einer Pause. «But then they catch on. The younger
the better!» – «Now I like it», bestätigt ein Zweitklässler, der vor zwei
Jahren noch gar kein Englisch konnte und dem die ersten Wochen an der Schule
daher auch nicht gefielen.
Die Herkunft entscheidet
Haben Kinder wie dieser Knabe einen Vorteil, der weniger privilegierten
Schülern an der Volksschule nicht vergönnt ist? Bildungsaffine Eltern
flüchteten aus einem Schulsystem, in dem die Hälfte der Sechstklässler den
Anforderungen der Sekundarstufe in Deutsch nur knapp genügten, sagte Carl
Bosshard in der «NZZ am Sonntag» im
vergangenen November. Dem Dozenten und früheren Rektor der
Pädagogischen Hochschule Zug macht diese Entwicklung Sorgen. Das Portemonnaie
dürfe nicht über die Bildung der Kinder entscheiden, sagte Bosshard.
Diese Gefahr ist überschaubar, zumindest was Privatschulen angeht. In
den Wirtschaftszentren Genf, Basel und Zug gehen zwar mehr Schüler an private
Schulen als in anderen Kantonen. Doch ihr Anteil insgesamt ist immer noch klein
(siehe Grafik). Das spricht auch für die Qualität der Volksschule.
Doch die Leistungen an staatlichen Primarschulen sind tatsächlich
unterschiedlich. Nichtdeutschsprachige Kinder verfügen über einen
minderentwickelten Wortschatz und können dieses Defizit ohne Unterstützung zu
Hause auch nicht ausgleichen, wie eine Studie der Universität
Zürich zeigt. Aber ist das für die Entwicklung einheimischer
Schülerinnen und Schüler wirklich ein Problem?
Die Bildungsforscherin Margrit Stamm hält die Vorbehalte gegenüber
national und sozial durchmischten Primarklassen für gesucht. Zum einen
bevorzugten wohlhabende Eltern ohnehin Quartiere und Gemeinden, die ihrer
eigenen Herkunft entsprächen. Brennpunkte mit einem erdrückenden
Ausländeranteil aus bildungsfernen Schichten gehören nicht dazu.
Fisch und Fischteicheffekt
Und zum anderen sei es häufig umgekehrt, sagt Stamm und verweist auf den
sogenannten Fischteicheffekt: Starke Schüler werden von schwächeren Kameraden
nicht etwa aufgehalten – sie profitieren vielmehr von ihnen, weil sie positiv
auffallen und so auch Verantwortung übernehmen können in der Klasse.
«Vielleicht würden manche Privatschüler in einer einfachen Schule besser
fahren», sagt Stamm. «Denn dort wären sie der Star!» Die Forschung geht davon
aus, dass solche grossen Fische im kleinen Teich ein ausgeprägtes
Selbstbewusstsein entwickeln. In ebenso homogenen wie leistungsstarken Klassen
ist das weit weniger der Fall.
Privatschüler sind auch nicht unbedingt besser als Kinder an
öffentlichen Schulen. In einer vergleichenden Pisa-Studie schneiden Privatschüler
zwar besser ab; ihr Vorsprung entspricht drei Vierteln eines Schuljahrs. Dieser
Unterschied ist jedoch in erster Linie auf soziale Faktoren zurückzuführen:
Privatschüler können auf Unterstützung und Ansporn gebildeter Eltern zählen.
Das macht sie leistungsfähiger in der Schule.
Schüler mit einem vergleichbaren Hintergrund erzielen an staatlichen
Schulen allerdings ähnliche oder – wie im Fall der Schweiz in dieser
Untersuchung von 2009 – sogar leicht bessere Resultate. Neuere
Daten liegen nicht vor. Doch an dem Befund, dass vor allem Bildungsstand und
Umfeld der Eltern über den Erfolg in der Schule entscheiden, dürfte sich wenig
geändert haben. Die Debatte um (fehlende) Chancengleichheit bildungsferner
Kinder vor einem allfälligen Übertritt ins Gymnasium deutet in eine ähnliche
Richtung.
Würfel, Quader, Platten
Privatschulen bedienen besondere Bedürfnisse. Sie wirken mitunter wie
eine heile Welt. An der Schule Dandelion in
Zürich Altstetten dürfen, ja sollen die Schüler selber sagen, welche Lernziele
sie angehen wollen. Die Unternehmerin und dreifache Mutter Angela Joerg hat die
Schule vor gut zwei Jahren gegründet – aus Unzufriedenheit mit dem Schulsystem.
Bei Dandelion konzentriere man sich aufs Können der Kinder, nicht aufs
Nicht-Können wie an staatlichen Schulen. Das zieht offenbar. Zu den bisherigen
600 gemieteten Quadratmetern in dem Gebäude sollen bald 500 dazukommen.
«Wir verwöhnen unsere Schüler nicht. Wir unterstützen sie lediglich
darin, eigene Lösungsstrategien zu entwickeln.»
Verena Schüepp-Lanz, Leiterin der Montessori-Schule «d'Insle» in
Zürich
Auch die Montessori-Schule mit dem vielsagenden Namen «d’Insle»im vornehmen Mühlebachquartier in
Zürich ist mit einem gewöhnlichen Schulbetrieb nicht zu vergleichen: weniger
Kinder, mehr Lehrerinnen, konzentrierte Stille und viele Lernmaterialien aus
Holz, die die Primarschüler jederzeit hervorholen dürfen.
Zwei kleine Mädchen beschäftigen sich mit grünen Würfeln, blauen Quadern
und roten quadratischen Platten in verschiedenen Grössen. Haptisch, optisch,
schriftlich – so verinnerlichen sie Zahlenreihen von 1 bis 1 000 000.
«Wir verwöhnen unsere Schüler nicht», sagt Verena Schüepp-Lanz, die
Schulleiterin. «Wir unterstützen sie lediglich darin, eigene Lösungsstrategien
zu entwickeln.» Das Konzept verfängt vor allem bei Eltern von Kindergärtlern
und Schülern der unteren Primarklassen. Danach wirkt der Unterschied von
Montessori-Schulen für viele nicht mehr so zwingend.
Was kommt danach? Die Tochter von Anne Sybil Götschi hätte sich für das
zweisprachige Gymnasium der Swiss International School in Wallisellen
entscheiden können. Doch sie wollte an eine Kantonsschule in Zürich wechseln,
trat zur Prüfung fürs Gymnasium an und bestand – obwohl Vornoten von
Privatschülern nicht berücksichtigt werden.
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