Flüchtlingseltern
kritisieren die internen Schulen in Bündner Asylzentren und schlagen Alarm. Das
Migrationsamt weist die Vorwürfe zurück.
Eltern schlagen Alarm - Wenn das Recht auf Volksschule nicht für alle
gilt, SRF, 26.6. von Stefanie Hablützel
Gleich
die ganze Familie ist ins Radiostudio gekommen. Wortführerin ist die 40-jährige
Perihan. Die Mutter bittet, nur ihren Vornamen zu nennen. Sie befürchte
Repressionen aus ihrer alten Heimat. Die Familie mit zwei Töchtern kommt aus
der Türkei. Perihan unterrichtete dort Physik an der Oberstufe.
Die
Familie flüchtete letztes Jahr. Auslöser war die mehrmalige Inhaftierung des
Vaters wegen seiner Nähe zur Gülen-Bewegung. Vor sieben Monaten fand die
Familie Asyl in der Schweiz und landete in Graubünden.
«Die
Lehrer unterrichten nicht»
Im
Gegensatz zu anderen Kantonen wohnen im Bergkanton alle Asylsuchenden in
Heimen. Schulpflichtige Kinder besuchen dort einen internen Unterricht. Die
Klassen sind klein, Primarschüler von der ersten bis zur sechsten Klasse werden
zusammen unterrichtet.
Wichtigstes
Ziel laut offiziellem Schulkonzept: Die Kinder sollen individuell gefördert und
so auf die reguläre Volksschule vorbereitet werden – mit viel Deutsch und einer
Einführung in das hiesige Schulsystem.
Doch die
Mutter und Oberstufenlehrerin zweifelt stark an der Qualität der Schule: «Die
Lehrer unterrichten nicht. Sie geben den Schülern Deutsch- und Mathematikbücher
und lassen sie dann selbstständig lernen». Kurz, ihre Tochter würde mit den
Büchern alleine gelassen. Perihan hat beobachtet, dass andere Kinder den
internen Unterricht mehr als zwei Jahre besuchten, ohne ein Volksschulniveau zu
erreichen.
«Wir
haben sehr gute Erfahrungen gemacht»
Eine ganz
andere Sicht der Dinge hat Marcel Suter, Leiter des Bündner Migrationsamts.
Kompetente Lehrpersonen würden die Kinder individuell fördern, er weise den
Vorwurf der Mutter zurück. Die Rückmeldungen der Gemeinden, in welchen Kinder
eingeschult wurden, seien durchwegs positiv.
Die
Tradition der Mini-Schulen an Bündner Asylzentren ist alt. Vor Jahrzehnten kam
der Kanton so den Gemeinden entgegen, die ein Asylzentrum im Dorf akzeptieren
mussten – aber nicht noch zusätzlich alle Flüchtlingskinder in ihrer Schule
wollten. Heute stehe die Förderung der Flüchtlingskinder im Vordergrund, sagt
Suter.
Diese
Förderung benötige je nachdem Zeit. Jene, die länger an den Heimschulen seien -
manche sogar vier Jahre - müssten zuerst lesen und schreiben lernen und würden
nicht genügend Deutsch für die Volksschule sprechen. «Zweitens sind manche
Kinder traumatisiert, was zu Schwankungen bei der Leistungsfähigkeit der Kinder
führt», erklärt der Leiter des Migrationsamts.
Kontakt
nur mit Flüchtlingskindern
Traumatisierte
Kinder, die Mühe mit Deutsch haben, seien ein problematisches Umfeld für sein
Kind, sagt ein weiterer Vater. Davut ist 36 und Bauingenieur aus der Türkei.
Seit einem Jahr besucht sein sechsjähriger Sohn den Kindergarten in einem
anderen Transitzentrum.
Die
Lehrpersonen seien zwar gut und würden professionell arbeiten. Doch statt in
der Schweiz anzukommen, habe sein Kind nur Kontakt mit Flüchtlingskindern. Sein
sechsjähriger Bub leide darunter: «In diesem Umfeld erhalten meine Kinder keine
gute Schulbildung», lautet die Einschätzung des Vaters.
Übertritt
ja – bloss wann
Unter den
Eltern kursieren verschiedene Informationen, wann ein Übertritt an die
Volksschule möglich ist. Davut erhielt im Heim die Auskunft, dass es für einen
Übertritt zuerst einen positiven Asylentscheid brauche – was Jahre dauern kann.
Ein
anderer Vater erfuhr im Elterngespräch, dass ein Übertritt frühestens nach zwei
Jahren an der Heimschule geprüft würde.
Die
offizielle Antwort des Migrationsamts lautet nochmals anders. Schriftlich
heisst es zuerst, ein Übertritt würde frühestens nach eineinhalb Jahren
geprüft. Im Gespräch erklärt Marcel Suter, ein Wechsel sei auch früher möglich:
«Wenn ein Kind nach einem halben Jahr bereit ist, kann es an die Volksschule
wechseln».
Ob die
Voraussetzungen erfüllt seien, würden mehrere Fachpersonen miteinander
beurteilen. Der Stand des Asylverfahrens spiele keine Rolle, unterstreicht
Marcel Suter. Auch hier steht also Aussage gegen Aussage.
Wie lange
Kinder im Schnitt die Heimschule besuchen, darüber führt der Kanton keine
Statistik. Was auffällt: Knapp 90 Kinder besuchen eine der asylinternen
Schulen, mehr als die Hälfte länger als zwei Jahre. Aktuell haben es nur neun
Kinder an eine öffentliche Schule geschafft.
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