10. Mai 2019

Mut zur Freiheit


Überlastung und Anpassungsdruck war das Thema der 2. Tagung «Time for Change?» in Wuppertal, die durch ihre ungeschminkten Analysen Mut machte für einen Kurswechsel im deutschsprachigen Bildungswesen.
Mut zur Freiheit, 7.5. von Urs Kalberer


Der Konferenzleiter Jochen Krautz von der Bergischen Universität Wuppertal stellt in seinem Eröffnungsreferat fest, dass das Kerngeschäft des Unterrichtens anspruchsvoller, die Ressourcen jedoch knapper geworden sind. Die Bewältigung der herrschenden Bildungsmisere mit dem unübersehbaren Sinken des Leistungsniveaus wird jedoch denjenigen überlassen, die nicht dafür verantwortlich sind: den Lehrern. Gleichzeitig sollen diese nicht über Sinn und Unsinn der erfolgten Reformen diskutieren, dafür sorgt eine konsequent tief gehaltene hegemoniale Diskursschranke. Weisungen sollen nicht diskutiert, sondern ausgeführt werden. Wichtiger als eine inhaltliche Verbesserung ist der Bildungspolitik die glänzende Aussenwirkung, beispielsweise im Bereich der ICT.

Widerstand gegen das Rennen im Hamsterrad
Der «rasende Stillstand», wie die Reformhektik auch an Schweizer Schulen erlebt wird, sei ein verkapptes Machtinstrument. Krautz knüpft dabei an die letztjährige Konferenz an, wo erläutert wurde, wie die Erhöhung des Leidensdrucks ein bewusstes Mittel des Chance Managements darstellt. Das Hecheln und Hasten im Hamsterrad – die Metapher diente als Tagungsmotto - löst aber keine Probleme. Im Gegenteil: Die Schule wird zu einem «parasitären System des Verschleisses», zu einer «Burnout-Maschine». Es wird den Lehrern vorgegaukelt, dass subjektive Achtsamkeit (genügend Schlaf, gesunde Ernährung, Umgang mit Konflikten etc.) genüge, um das objektiv existierende Problem der Überlastung zu lösen.

Silja Graupe (Cusanus Hochschule Bernkastel-Kues) schliesst sich in ihrer Analyse Krautz an: Systemische Probleme können wir nicht individuell lösen. Es bringe nichts, wenn die Lehrer lernten, Stress zu managen. Das Hamsterrad könne und müsse mit gemeinsamem Widerstand gestoppt werden.


In Wuppertal war auch eine ansehnliche Schweizer Delegation dabei. Bild: Jennifer Lubahn

Keine Alternative zur Freiheit
Matthias Burchardt (Universität zu Köln) greift diesen Faden auf und wird dabei in Anlehnung an Rio Reiser überdeutlich: «Kaputt machen, was uns kaputt macht». Für ihn ist die pädagogische Freiheit die Voraussetzung für das Wahrnehmen von Verantwortung. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen – doch wurde speziell die erstere in den letzten Jahren durch Anpassungsdruck untergraben. Gegängelte «Lehrercomputer» können keine freien Wesen erziehen. Nicht die zahlreich erfolgten «Innovationen» sind alternativlos, wie uns von politischer Seite pausenlos versichert wird. Alternativlos ist die pädagogische Freiheit – sie ist die Quelle aller Alternativen, ohne sie werde die Schule zum Ort der organisierten Verantwortungslosigkeit.

Aus Schweizer Sicht bedeutungsvoll war der Vortrag von Carl Bossard (PH Zug), der Freiheit mit zwei «W» verankerte: Wilhelm Tell und Wilhelm von Humboldt. Aus seinem reichen Erfahrungsschatz zeigte Bossard eindrucksvoll, wie Freiheit mit Verantwortung untrennbar verknüpft ist. Die fundamentale Aufgabe der Schulleitung ist es laut Bossard, die Garantin dieser pädagogischen Freiheit zu sein. Dabei gelte es jedoch immer, die Balance zu halten zwischen Freiheit und (notwendigen) Regeln.

Karl-Heinz Dammer (PH Heidelberg) beleuchtet die Qualitätskontrolle an Schulen in Nordrhein-Westfalen und stellt dabei fest, dass die Kriterien nicht ausschliesslich auf wissenschaftlicher Basis fussen. Es gibt beispielsweise keine empirischen Grundlagen für die Wirksamkeit des selbstgesteuerten Lernens. Trotzdem erscheint dies auf den Beobachtungsbögen der Evaluatoren. Interessant ist, dass Schulleitungen eher an die Wirksamkeit der externen Unterrichtsbeobachtung glauben als Lehrer. Effektiv zeigt sich aber eine kaum feststellbare Wirkung auf den Unterricht, da nur wenig Bezug zur faktischen Arbeit gemacht wird. Dazu kommt, dass die Lehrer aus Anlass der Beobachtung «potemkinschen Unterricht» abhalten, der wenig mit der üblichen Praxis gemein hat.

Rezepte für Schulleiter
Welche Mittel einer Schulleitung zur Verfügung stehen, zeigte auf eindrückliche Weise Michael Rudolph (Bergius-Schule Berlin). Laut Rudolph stützt sich eine gute Schule auf zwei Säulen: 1. Unterricht, der die Schüler an ihre Leistungsgrenze bringt und 2. Erziehung – Regeln müssen durchgesetzt werden. Aussagekräftiger und kostengünstiger als die externe Schulevaluation sei eine kurze Inspektion der Schulhaus-Toiletten – hier zeige sich die Schulqualität. Bezüglich der Methoden gibt sich der Schulleiter pragmatisch: Für ihn gibt es nur zwei Arten von Unterricht: wirksamen und unwirksamen. Ist für Bossard der Schulleiter der Garant für die Freiheit seiner Lehrer, sieht sich Rudolph schlicht als Dienstleister der Lehrer.

Den Abschluss der Vortragsreihe macht Volker Ladenthin (Universität Bonn), der die Umstrukturierung der Lehrer-Ausbildung kritisch hinterfragt. So wurde die Rollenverteilung zwischen Universität und dem Zentrum für Lehrerbildung in dem Masse umgebaut, dass die Universität neuerdings praxisorientiert zu sein habe: Nicht mehr das wissenschaftliche Durchdringen des Faches, sondern Themen aus der Praxis sollen behandelt werden. Darin sieht Ladenthin eine problematische Unterordnung. Die Lehrerbildung werde so zum Spielball politischer Interessen und die Wissenschaft zur «Akzeptanzbeschaffung» für zweifelhafte Entscheide degradiert und pervertiert.

Die sinnvoll strukturierten Themenblöcke ermöglichten es, dass die Referenten häufig Verbindungen zu bereits Gehörtem machen konnten. Ausserdem erlaubten die zahlreich eingebetteten Diskussionsrunden einen Einblick in die Gemütslage der Lehrerschaft. Die Teilnehmer wurden durch die hochstehenden Beiträge und durch das Zusammentreffen mit Gleichgesinnten ermutigt, für die pädagogische Freiheit einzutreten und sie auch wahrzunehmen.

Ein ausführlicher Bericht über die Tagung vom 4. März 2019 ist zu finden auf der Webseite der Gesellschaft für Bildung und Wissen GBW https://bildung-wissen.eu

2 Kommentare:

  1. Bei allem Respekt vor den Inhalten und den Veranstaltern: Ich lese die gleichen berechtigten Aussagen und Ansprüche wie nach der ersten Veranstaltung. Scheinbar ist man machtlos vor dem System. Als Resultat der Tagung, die pädagogische Freiheit als Werkzeug der Verbesserung des Systems anzubieten, erscheint mir ziemlich fantasie- und hielflos.Die Öffentlichkeit müsste durch alle geeigneten Demonstrationsformen informiert werden, um gegen den neoliberalen Geist mit seinem technogratischen Kopf vorzugehen, sonst wird sich nichts ändern. Der Argumente sind genug gesammelt, wie auch die Realität zeigt. Wann wird gehandelt?

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  2. In der Schweiz ist die grosse Mehrzahl der Lehrkräfte und Eltern für die Reformen. Reformkritische Stimmen werden in den Medien kaltgestellt. Die Bildungspolitik weicht Debatten systematisch aus. Die Pädagogischen Hochschulen stellen sicher, dass weiterhin genügend reformfreudige Junge nachrücken, denen man in der Ausbildung gründlich abgewöhnt hat, kritische Fragen zu stellen. Der allergrösste Teil der Lehrkräfte arbeitet nur noch Teilzeit und engagiert sich längst nicht mehr für pädagogische Fragen, sondern setzt nur noch um, was von oben angeordnet wird.
    Angesichts dieser Situation ist es billig, den Veranstaltern Phantasie- und Hilflosigkeit vorzuwerfen.

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