Überlastung und Anpassungsdruck war das Thema der
2. Tagung «Time for Change?» in Wuppertal, die durch ihre ungeschminkten Analysen
Mut machte für einen Kurswechsel im deutschsprachigen Bildungswesen.
Mut zur Freiheit, 7.5. von Urs Kalberer
Der
Konferenzleiter Jochen Krautz von der Bergischen Universität Wuppertal stellt
in seinem Eröffnungsreferat fest, dass das Kerngeschäft des Unterrichtens
anspruchsvoller, die Ressourcen jedoch knapper geworden sind. Die Bewältigung
der herrschenden Bildungsmisere mit dem unübersehbaren Sinken des
Leistungsniveaus wird jedoch denjenigen überlassen, die nicht dafür
verantwortlich sind: den Lehrern. Gleichzeitig sollen diese nicht über Sinn und
Unsinn der erfolgten Reformen diskutieren, dafür sorgt eine konsequent tief
gehaltene hegemoniale Diskursschranke. Weisungen sollen nicht diskutiert,
sondern ausgeführt werden. Wichtiger als eine inhaltliche Verbesserung ist der
Bildungspolitik die glänzende Aussenwirkung, beispielsweise im Bereich der ICT.
Widerstand gegen das Rennen im Hamsterrad
Der
«rasende Stillstand», wie die Reformhektik auch an Schweizer Schulen erlebt
wird, sei ein verkapptes Machtinstrument. Krautz knüpft dabei an die
letztjährige Konferenz an, wo erläutert wurde, wie die Erhöhung des
Leidensdrucks ein bewusstes Mittel des Chance Managements darstellt. Das
Hecheln und Hasten im Hamsterrad – die Metapher diente als Tagungsmotto - löst
aber keine Probleme. Im Gegenteil: Die Schule wird zu einem «parasitären System
des Verschleisses», zu einer «Burnout-Maschine». Es wird den Lehrern
vorgegaukelt, dass subjektive Achtsamkeit (genügend Schlaf, gesunde Ernährung,
Umgang mit Konflikten etc.) genüge, um das objektiv existierende Problem der
Überlastung zu lösen.
Silja
Graupe (Cusanus Hochschule Bernkastel-Kues) schliesst sich in ihrer Analyse
Krautz an: Systemische Probleme können wir nicht individuell lösen. Es bringe
nichts, wenn die Lehrer lernten, Stress zu managen. Das Hamsterrad könne und
müsse mit gemeinsamem Widerstand gestoppt werden.
In Wuppertal war auch
eine ansehnliche Schweizer Delegation dabei. Bild: Jennifer Lubahn
Keine Alternative zur Freiheit
Matthias
Burchardt (Universität zu Köln) greift diesen Faden auf und wird dabei in
Anlehnung an Rio Reiser überdeutlich: «Kaputt machen, was uns kaputt macht».
Für ihn ist die pädagogische Freiheit die Voraussetzung für das Wahrnehmen von
Verantwortung. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen – doch wurde
speziell die erstere in den letzten Jahren durch Anpassungsdruck untergraben.
Gegängelte «Lehrercomputer» können keine freien Wesen erziehen. Nicht die
zahlreich erfolgten «Innovationen» sind alternativlos, wie uns von politischer
Seite pausenlos versichert wird. Alternativlos ist die pädagogische Freiheit –
sie ist die Quelle aller Alternativen, ohne sie werde die Schule zum Ort der
organisierten Verantwortungslosigkeit.
Aus
Schweizer Sicht bedeutungsvoll war der Vortrag von Carl Bossard (PH Zug), der
Freiheit mit zwei «W» verankerte: Wilhelm Tell und Wilhelm von Humboldt. Aus
seinem reichen Erfahrungsschatz zeigte Bossard eindrucksvoll, wie Freiheit mit
Verantwortung untrennbar verknüpft ist. Die fundamentale Aufgabe der
Schulleitung ist es laut Bossard, die Garantin dieser pädagogischen Freiheit zu
sein. Dabei gelte es jedoch immer, die Balance zu halten zwischen Freiheit und
(notwendigen) Regeln.
Karl-Heinz
Dammer (PH Heidelberg) beleuchtet die Qualitätskontrolle an Schulen in
Nordrhein-Westfalen und stellt dabei fest, dass die Kriterien nicht
ausschliesslich auf wissenschaftlicher Basis fussen. Es gibt beispielsweise
keine empirischen Grundlagen für die Wirksamkeit des selbstgesteuerten Lernens.
Trotzdem erscheint dies auf den Beobachtungsbögen der Evaluatoren. Interessant
ist, dass Schulleitungen eher an die Wirksamkeit der externen
Unterrichtsbeobachtung glauben als Lehrer. Effektiv zeigt sich aber eine kaum
feststellbare Wirkung auf den Unterricht, da nur wenig Bezug zur faktischen
Arbeit gemacht wird. Dazu kommt, dass die Lehrer aus Anlass der Beobachtung
«potemkinschen Unterricht» abhalten, der wenig mit der üblichen Praxis gemein
hat.
Rezepte für Schulleiter
Welche
Mittel einer Schulleitung zur Verfügung stehen, zeigte auf eindrückliche Weise
Michael Rudolph (Bergius-Schule Berlin). Laut Rudolph stützt sich eine gute
Schule auf zwei Säulen: 1. Unterricht, der die Schüler an ihre Leistungsgrenze
bringt und 2. Erziehung – Regeln müssen durchgesetzt werden. Aussagekräftiger
und kostengünstiger als die externe Schulevaluation sei eine kurze Inspektion
der Schulhaus-Toiletten – hier zeige sich die Schulqualität. Bezüglich der
Methoden gibt sich der Schulleiter pragmatisch: Für ihn gibt es nur zwei Arten
von Unterricht: wirksamen und unwirksamen. Ist für Bossard der Schulleiter der
Garant für die Freiheit seiner Lehrer, sieht sich Rudolph schlicht als
Dienstleister der Lehrer.
Den
Abschluss der Vortragsreihe macht Volker Ladenthin (Universität Bonn), der die
Umstrukturierung der Lehrer-Ausbildung kritisch hinterfragt. So wurde die
Rollenverteilung zwischen Universität und dem Zentrum für Lehrerbildung in dem
Masse umgebaut, dass die Universität neuerdings praxisorientiert zu sein habe:
Nicht mehr das wissenschaftliche Durchdringen des Faches, sondern Themen aus
der Praxis sollen behandelt werden. Darin sieht Ladenthin eine problematische
Unterordnung. Die Lehrerbildung werde so zum Spielball politischer Interessen
und die Wissenschaft zur «Akzeptanzbeschaffung» für zweifelhafte Entscheide degradiert
und pervertiert.
Die sinnvoll
strukturierten Themenblöcke ermöglichten es, dass die Referenten häufig Verbindungen
zu bereits Gehörtem machen konnten. Ausserdem erlaubten die zahlreich
eingebetteten Diskussionsrunden einen Einblick in die Gemütslage der Lehrerschaft.
Die Teilnehmer wurden durch die hochstehenden Beiträge und durch das
Zusammentreffen mit Gleichgesinnten ermutigt, für die pädagogische Freiheit
einzutreten und sie auch wahrzunehmen.
Ein ausführlicher Bericht über die Tagung vom
4. März 2019 ist zu finden auf der Webseite der Gesellschaft für Bildung und
Wissen GBW https://bildung-wissen.eu
Bei allem Respekt vor den Inhalten und den Veranstaltern: Ich lese die gleichen berechtigten Aussagen und Ansprüche wie nach der ersten Veranstaltung. Scheinbar ist man machtlos vor dem System. Als Resultat der Tagung, die pädagogische Freiheit als Werkzeug der Verbesserung des Systems anzubieten, erscheint mir ziemlich fantasie- und hielflos.Die Öffentlichkeit müsste durch alle geeigneten Demonstrationsformen informiert werden, um gegen den neoliberalen Geist mit seinem technogratischen Kopf vorzugehen, sonst wird sich nichts ändern. Der Argumente sind genug gesammelt, wie auch die Realität zeigt. Wann wird gehandelt?
AntwortenLöschenIn der Schweiz ist die grosse Mehrzahl der Lehrkräfte und Eltern für die Reformen. Reformkritische Stimmen werden in den Medien kaltgestellt. Die Bildungspolitik weicht Debatten systematisch aus. Die Pädagogischen Hochschulen stellen sicher, dass weiterhin genügend reformfreudige Junge nachrücken, denen man in der Ausbildung gründlich abgewöhnt hat, kritische Fragen zu stellen. Der allergrösste Teil der Lehrkräfte arbeitet nur noch Teilzeit und engagiert sich längst nicht mehr für pädagogische Fragen, sondern setzt nur noch um, was von oben angeordnet wird.
AntwortenLöschenAngesichts dieser Situation ist es billig, den Veranstaltern Phantasie- und Hilflosigkeit vorzuwerfen.