Über ein
halbes Jahr haben vier Jugendliche in ihrer Klasse ein Klima der Angst
verbreitet. Sie erpressen Mitschüler, verprügeln sie und drohen ihnen mit dem
Tod. Eine Chronologie der Angst.
"Wir benahmen uns wie Bosse", NZZ, 13.5. von Florian Schoop
Ein gewöhnlicher Nachmittag im Jahr 2015: Marco* ist krank und allein zu
Hause. Plötzlich klingelt es an der Wohnungstür. Marco vermutet, dass es seine
Schwester ist, die von der Schule nach Hause kommt. Doch vor der Tür steht
Milo*, ein grosser, furchteinflössender 14-Jähriger. Milo, der Klassenkamerad.
Milo, der Junge, vor dem die ganze Schule Angst hat. Er katapultiert Marco mit
einem kräftigen Stoss von der Tür weg und tritt zusammen mit seinem Kumpel
Alec* in die Wohnung. Milo packt den verängstigten Marco und drückt ihn gegen
einen Schrank. Er wisse, dass er ihn beim Lehrer verpetzen wolle. Wehe ihm,
wenn er jenem von seinen Erpressungen erzähle, droht er. Dann knallt er Marco
eine Ohrfeige ins Gesicht.
Der Schrecken geht weiter. Milo befiehlt seinem Opfer, einem seiner
Handlanger Geld zu geben. Dann versetzt er Marco einen Stoss und zwei Schläge.
«Ich werde dich umbringen, wenn du das Geld nicht schleunigst auftreibst»,
herrscht er Marco an – während sein Kumpel Alec die ganze Szene mit dem Handy
filmt.
Über ein halbes Jahr lang terrorisiert Milo seine Klasse. In der Zürcher
Schule errichtet er ein regelrechtes Schreckensregime. Ihm zur Seite stehen
nebst Alec, seinem Stellvertreter, zwei Mitläufer, Raffael* und Ozan*. Zusammen
schüchtern sie ihre Mitschüler ein, erpressen und verprügeln sie. Und sie
fordern sie dazu auf, «Scheiss zu machen», den Unterricht zu stören.
Konflikte unter Jugendlichen rütteln immer wieder die Öffentlichkeit
auf. Jüngst so geschehen bei einer Schlägerei im Einkaufszentrum Tivoli im
aargauischen Spreitenbach. Von Jugendgangs ist dann die Rede, von «Ghettoehre»
oder einem Bandenkrieg um den krassesten Ort. Dabei gibt es im Kanton Zürich
laut der Jugendanwaltschaft keine Jugendgangs (zum Interview). Auch von Bandenkriegen könne
nicht die Rede sein. Dennoch steigt die Zahl der Verzeigungen von
Gewaltdelikten seit drei Jahren wieder an. Viele dieser Taten fanden im
öffentlichen Raum statt und lösten teilweise grosse Debatten aus.
Machtdemonstration auf dem Pausenhof
Im Fall von Milo findet die Gewalt im Schulumfeld statt. Er und seine
Mitläufer drangsalieren ihre Kollegen nicht nur während des Unterrichts, sie
stellen ihre Macht auch auf dem Pausenhof offen zur Schau. Ein Teenager wird
zur Abschreckung vor den Augen zahlreicher Mitschüler in den Schwitzkasten
genommen und verprügelt. Seinem Opfer versucht Milo schliesslich noch, mit den
Knien gegen den Kopf zu treten. Der Jugendliche kann die Schläge gerade noch
abwehren. Es ist diese Szene, welche die Macht der Gruppe vergrössert. Die
ganze Schule geht den vier Jugendlichen von nun an aus dem Weg.
Das Klima der Angst, welches Milos Clan aufbaut, verfehlt seine Wirkung
nicht. Der kräftige 14-Jährige muss gar nicht mehr zuschlagen. Selbst die
Androhung von Prügel ist irgendwann nicht mehr nötig. Die reine Präsenz der
vier lässt die Angst aufflammen, sie allein genügt, um die Mitschüler einzuschüchtern.
Sie bringt sie dazu, alles zu machen, was Milo will. Und was er will, ist
simpel. Milo will Geld, Geld für seinen Marihuanakonsum. Manchmal nimmt er
seinen Kameraden auch den Znüni ab, einmal sogar das Handy. Vor allem auf die
Knaben in seiner Klasse hat er es abgesehen, doch auch Schulkollegen aus den
unteren Jahrgangsstufen fallen ihm zum Opfer.
Wie hat das alles angefangen? Wie kann es dazu kommen, dass ein einziger
Schüler so viel Macht ausübt? Eine Antwort darauf geben Akten und Unterlagen,
in welche die NZZ in anonymisierter Form Einblick erhalten hat. Ihren Lauf nahm
die Geschichte nach den Sommerferien 2014. Milo beginnt, Mitschüler zu
drangsalieren, wenn sie ihm kein Geld geben. Die Masche greift. Doch Milo will
mehr. Also verschafft er sich in Alec, Raffael und Ozan drei nützliche
Handlanger, die für ihn Geld eintreiben. Wie das System funktioniert, geht aus
der Befragung der Jugendanwaltschaft von Mitläufer Ozan hervor:
Wie genau lief das Ganze ab?
«Milo sagte, wenn wir zu viert sind, können wir am schnellsten Geld
holen. Ich musste also sagen: Gib Milo Geld, sonst schlägt er dich.»
Wurde Milo jedes Mal erwähnt?
«Genau. Ich habe nie gesagt, gib mir Geld.»
Und wer hat das Geld letztlich bekommen?
«Milo. Er war der Chef. Er hat uns gesagt, was wir zu tun hatten. Und
wenn Milo nicht da war, war Alec der Chef.»
Und warum hast du da mitgemacht?
«Ich wollte keine Probleme mit Milo und den anderen. Ich hatte Angst,
dass sie sonst auch Geld von mir wollen und mich bedrohen. Milo ist gross und
stark. Ich hatte Angst vor ihm.»
Milo hat also nicht nur in der Klasse Angst verbreitet, auch seine
Helfer fürchteten sich vor ihm. Einmal erteilt er einem Mitschüler gar den Auftrag,
Raffael, also einen seiner Verbündeten, zu verprügeln. Gleichzeitig geniessen
Milos Helfer die Macht, welche ihnen ihre Nähe zu Milo verschafft. Am klarsten
wird dies in der Befragung von Raffael:
Wie hast du dich in dieser Machtposition gefühlt?
«Für uns vier war es ein gutes Gefühl. Wir benahmen uns wie Bosse und
konnten vieles machen.»
Wie haben sich wohl deine Mitschüler gefühlt?
«Sie fühlten sich sicher von uns ausgeschlossen.»
Und wie siehst du heute deine Taten?
«Ich habe gemerkt, dass mich diese Machtposition nicht weiterbringt –
weder beruflich noch persönlich. Das, was wir gemacht haben, war Blödsinn.»
Zu Beginn sind die Vergehen noch vergleichsweise harmlos. Die Gruppe
stiehlt oder versteckt Leuchtstifte und Schreiber ihrer Mitschüler. Doch mit
der Zeit entwickelt sich ein regelrechtes System der Geldeintreibung, wie Ozan
berichtet:
Von wem hast du Geld genommen?
«Tim* hat am zweitmeisten gegeben.»
Und wer hat am meisten gegeben?
«Marco. Alle haben dann Milo das Geld gegeben.»
Weshalb hat Milo das Geld nicht selbst eingetrieben?
«Er hatte keine Zeit dazu. Er war mit seinen Kollegen unterwegs, ist
mit ihnen abgehangen. Er hatte einfach keine Zeit zum Fragen.»
Und wie oft hast du Dario* erpresst?
«Zwei- bis dreimal die Woche.»
Für wie lange?
«Ich weiss es nicht mehr genau, aber es ging immer weiter.»
Weshalb mussten gerade Tim, Marco und Dario Geld geben?
«Weil sie nicht bei uns in der Gruppe waren.»
Hatte es noch andere Knaben bei euch in der Klasse?
«Nein, nur Manuel*. Den haben wir erst gefragt, wenn die anderen nichts
gegeben haben. Manuel war dann der Notfall.»
Irgendwann genügt Milo aber auch das Geld seiner Mitschüler nicht mehr.
Er durchsucht die Schultasche seines Lehrers und stiehlt 40 Franken aus dem
Portemonnaie – während die anderen Schmiere stehen. Wie perfide er dabei seine
Handlanger einspannt, zeigt die Befragung von Ozan.
Was geschah mit den 40 Franken?
«Milo gab mir eine 20er-Note, damit ich diese verstecken konnte. Das
habe ich dann getan. Die andere Note hat Alec versteckt. Nach der Schule haben
wir ihm das Geld auf dem Pausenplatz wieder gegeben.»
Und weshalb hast du das Geld von Milo überhaupt versteckt?
«Weil Milo uns das so gesagt hat.»
Milo lässt seine Komplizen die Drecksarbeit machen, lässt sie für sich
arbeiten. Denn die drei sind ihm aus Angst ebenso hörig wie die ganze Klasse.
Als Mitläufer üben sie selbst zwar keine Gewalt aus, aber sie helfen, Milos
Macht auszuweiten. Dabei machen sie sich in zahlreichen Fällen und in
unterschiedlicher Konstellation strafbar. Mehrfache Erpressung, mehrfache
Nötigung, Sachbeschädigung, mehrfacher Diebstahl, mehrfache Übertretung des
Betäubungsmittelgesetzes: Die Deliktliste der Zürcher Jugendanwaltschaft ist
lang.
Und die Clique kennt kein Pardon. Mal werden Mitschüler zum Stehlen von
Zigaretten angestiftet, mal zerstört Alec eine Zwischenwand im Schul-WC – und
zwingt einen Mitschüler dazu, die Tat, die dieser nicht begangen hat, der
Schulleitung zu gestehen.
Keine Empathie, keine Zuwendung
Im Bericht der Jugendanwaltschaft heisst es, Milo empfinde kaum Empathie
gegenüber seinen Opfern. Er sehe Gewalt vielmehr als legitimes Mittel, um die
Oberhand über Gleichaltrige zu behalten. Laut der psychologischen Einschätzung
ist der 14-Jährige eigentlich einsam und in seiner Altersgruppe nicht
eingebunden, denn: Die Drohkulisse und die Gewalt bringen ihm zwar Macht und
Erfolg, aber keine wirkliche Zuneigung.
Milo ist in der Schweiz geboren, beginnt früh mit Kiffen und wird von
der alleinerziehenden Mutter betreut. Deren Erziehungsstil wird als nachgiebig
beschrieben, dem jungen Mann fehle es an richtigen Leitplanken. Auch der Vater
stehe als Identifikationsfigur nicht zur Verfügung. Gegenüber Erwachsenen gibt
sich der Jugendliche als wohlerzogener, angepasster junger Mann. Dies ist wohl
auch ein Grund dafür, dass er einfach immer weitermachen kann, ohne dass die
Schule eingreift. Das Geld fliesst zuverlässig in Milos Tasche. Mal sind es
Zwei- oder Fünffränkler, mal eine 10er- oder eine 20er-Note. Das summiert sich.
In der Befragung schildert Dario, eines seiner Opfer, wie er bedrängt wurde:
Wieso hast du Geld gegeben?
«Sie sagten mir: Gib mir das Geld, oder ich hole es mir. Ich wusste,
dass sie mich durchsucht hätten, wenn ich gesagt hätte, ich habe kein Geld.»
Woher hattest du das Geld?
«Von mir, von meinem Kässeli. Ein paar Mal hat mir auch meine Mutter
Geld mitgegeben, für den Pausenkiosk.»
Musstest du dich einschränken, weil du kein Geld mehr hattest?
«Na ja, ich brauche mein Geld aus dem Kässeli meistens für mich, um
Sachen zum Knabbern zu kaufen. Also insofern hat mir das Geld nicht gefehlt, um
wichtige Sachen zu kaufen.»
Warum hast du dich nicht gewehrt?
«Mir war die Schule wichtig. Ich möchte einen guten Beruf, ein gutes
Zeugnis haben. Ich kann es mir nicht leisten, beim Verhalten schlechte Einträge
zu haben.»
Das ganze System kollabiert erst nach jenem verhängnisvollen Nachmittag
im Jahr 2015, als Milo und Alec in Marcos Wohnung stürmen, ihn drangsalieren
und verprügeln. Obwohl sie Marco sogar mit dem Tod drohen, findet der Teenager
den Mut, gegen seine Peiniger aufzustehen. Er erstattet Strafanzeige.
Erst dann handelt auch die Schulleitung. Sie wirft Milo, Alec und
Raffael im Frühling 2015 von der Schule. Nur Ozan darf in seiner Klasse
bleiben. Die anderen drei werden von der Polizei verhaftet und sitzen zum Teil
über zwei Wochen in Untersuchungshaft. Später bestraft die Jugendanwaltschaft
alle vier mit einer persönlichen Leistung. Milo wird in einer
Erziehungseinrichtung untergebracht. Zudem ordnet der Richter eine ambulante
Behandlung in Form einer Therapie an. Ihm sowie dem Stellvertreter Alec und dem
Mitläufer Raffael wird ein Kontaktverbot zu den früheren Klassenkameraden und
den Mittätern auferlegt.
Dennoch versucht Milo, von ausserhalb weiter seine Macht auszuüben. Er
beauftragt Ozan, den einzigen in der Klasse Verbliebenen, damit, zwei Mädchen
zum Schweigen zu bringen. Wenn sie weiter petzten, werde er sie umbringen
lassen. Die Drohung aber wirkt nicht mehr. Milo hat seine Macht verloren.
In der Befragung bereuen die Erpresser ihre Taten – jedoch in
unterschiedlichem Ausmass. Raffael gibt Folgendes zu Protokoll: «Das war nicht
korrekt von uns. Das war kein Spass mehr.» Auch Alec sagt, ihm täten die Opfer
leid. Er hätte sich nach den Drohungen schlecht gefühlt. Die gesamte
Verantwortung schiebt er aber Milo zu. Er selbst habe sich nur aus Angst zu den
Taten hinreissen lassen. Ohnehin habe er nicht gewusst, dass es sich dabei um
Straftaten gehandelt habe.
Ozan wiederum schildert das Vergangene so:
Wie läuft es heute in der Schule?
«Es ist ruhiger geworden, es gibt nicht mehr so viele Probleme, es
werden nicht mehr so viele Handys geklaut.»
Hast du dich bei den Opfern entschuldigt?
«Nein.»
Ist dir das nie in den Sinn gekommen?
«Doch, aber ich habe es nachher vergessen.»
Und Milo? Er sagt später aus, dass es ihm leidtue, was er seinen
Mitschülern angetan habe. «Es war einfach dumm von mir. Ich möchte mich bei
meinen Opfern entschuldigen.» Nach seinem Rauswurf von der Schule wird Milo
spezialbeschult. In der Erziehungseinrichtung läuft es anfangs gut, doch dann
beginnt es zu kriseln. Irgendwann ist Milo «auf der Kurve». Das heisst, er haut
ab, taucht nicht mehr in der Einrichtung auf, ist zur Fahndung ausgeschrieben.
Der Jugendanwalt kann ihn aber zu einer Aussprache in seinem Büro überreden.
Nach dieser Unterredung findet Milo schliesslich auf den richtigen Weg.
Er beginnt ein Praktikum – und bleibt straffrei. Bis heute.
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