13. Mai 2019

Klima der Angst


Über ein halbes Jahr haben vier Jugendliche in ihrer Klasse ein Klima der Angst verbreitet. Sie erpressen Mitschüler, verprügeln sie und drohen ihnen mit dem Tod. Eine Chronologie der Angst.
"Wir benahmen uns wie Bosse", NZZ, 13.5. von Florian Schoop


Ein gewöhnlicher Nachmittag im Jahr 2015: Marco* ist krank und allein zu Hause. Plötzlich klingelt es an der Wohnungstür. Marco vermutet, dass es seine Schwester ist, die von der Schule nach Hause kommt. Doch vor der Tür steht Milo*, ein grosser, furchteinflössender 14-Jähriger. Milo, der Klassenkamerad. Milo, der Junge, vor dem die ganze Schule Angst hat. Er katapultiert Marco mit einem kräftigen Stoss von der Tür weg und tritt zusammen mit seinem Kumpel Alec* in die Wohnung. Milo packt den verängstigten Marco und drückt ihn gegen einen Schrank. Er wisse, dass er ihn beim Lehrer verpetzen wolle. Wehe ihm, wenn er jenem von seinen Erpressungen erzähle, droht er. Dann knallt er Marco eine Ohrfeige ins Gesicht.

Der Schrecken geht weiter. Milo befiehlt seinem Opfer, einem seiner Handlanger Geld zu geben. Dann versetzt er Marco einen Stoss und zwei Schläge. «Ich werde dich umbringen, wenn du das Geld nicht schleunigst auftreibst», herrscht er Marco an – während sein Kumpel Alec die ganze Szene mit dem Handy filmt.

Über ein halbes Jahr lang terrorisiert Milo seine Klasse. In der Zürcher Schule errichtet er ein regelrechtes Schreckensregime. Ihm zur Seite stehen nebst Alec, seinem Stellvertreter, zwei Mitläufer, Raffael* und Ozan*. Zusammen schüchtern sie ihre Mitschüler ein, erpressen und verprügeln sie. Und sie fordern sie dazu auf, «Scheiss zu machen», den Unterricht zu stören.

Konflikte unter Jugendlichen rütteln immer wieder die Öffentlichkeit auf. Jüngst so geschehen bei einer Schlägerei im Einkaufszentrum Tivoli im aargauischen Spreitenbach. Von Jugendgangs ist dann die Rede, von «Ghettoehre» oder einem Bandenkrieg um den krassesten Ort. Dabei gibt es im Kanton Zürich laut der Jugendanwaltschaft keine Jugendgangs (zum Interview). Auch von Bandenkriegen könne nicht die Rede sein. Dennoch steigt die Zahl der Verzeigungen von Gewaltdelikten seit drei Jahren wieder an. Viele dieser Taten fanden im öffentlichen Raum statt und lösten teilweise grosse Debatten aus.

Machtdemonstration auf dem Pausenhof
Im Fall von Milo findet die Gewalt im Schulumfeld statt. Er und seine Mitläufer drangsalieren ihre Kollegen nicht nur während des Unterrichts, sie stellen ihre Macht auch auf dem Pausenhof offen zur Schau. Ein Teenager wird zur Abschreckung vor den Augen zahlreicher Mitschüler in den Schwitzkasten genommen und verprügelt. Seinem Opfer versucht Milo schliesslich noch, mit den Knien gegen den Kopf zu treten. Der Jugendliche kann die Schläge gerade noch abwehren. Es ist diese Szene, welche die Macht der Gruppe vergrössert. Die ganze Schule geht den vier Jugendlichen von nun an aus dem Weg.
Das Klima der Angst, welches Milos Clan aufbaut, verfehlt seine Wirkung nicht. Der kräftige 14-Jährige muss gar nicht mehr zuschlagen. Selbst die Androhung von Prügel ist irgendwann nicht mehr nötig. Die reine Präsenz der vier lässt die Angst aufflammen, sie allein genügt, um die Mitschüler einzuschüchtern. Sie bringt sie dazu, alles zu machen, was Milo will. Und was er will, ist simpel. Milo will Geld, Geld für seinen Marihuanakonsum. Manchmal nimmt er seinen Kameraden auch den Znüni ab, einmal sogar das Handy. Vor allem auf die Knaben in seiner Klasse hat er es abgesehen, doch auch Schulkollegen aus den unteren Jahrgangsstufen fallen ihm zum Opfer.

Wie hat das alles angefangen? Wie kann es dazu kommen, dass ein einziger Schüler so viel Macht ausübt? Eine Antwort darauf geben Akten und Unterlagen, in welche die NZZ in anonymisierter Form Einblick erhalten hat. Ihren Lauf nahm die Geschichte nach den Sommerferien 2014. Milo beginnt, Mitschüler zu drangsalieren, wenn sie ihm kein Geld geben. Die Masche greift. Doch Milo will mehr. Also verschafft er sich in Alec, Raffael und Ozan drei nützliche Handlanger, die für ihn Geld eintreiben. Wie das System funktioniert, geht aus der Befragung der Jugendanwaltschaft von Mitläufer Ozan hervor:

Wie genau lief das Ganze ab?
«Milo sagte, wenn wir zu viert sind, können wir am schnellsten Geld holen. Ich musste also sagen: Gib Milo Geld, sonst schlägt er dich.»

Wurde Milo jedes Mal erwähnt?
«Genau. Ich habe nie gesagt, gib mir Geld.»

Und wer hat das Geld letztlich bekommen?
«Milo. Er war der Chef. Er hat uns gesagt, was wir zu tun hatten. Und wenn Milo nicht da war, war Alec der Chef.»

Und warum hast du da mitgemacht?
«Ich wollte keine Probleme mit Milo und den anderen. Ich hatte Angst, dass sie sonst auch Geld von mir wollen und mich bedrohen. Milo ist gross und stark. Ich hatte Angst vor ihm.»

Milo hat also nicht nur in der Klasse Angst verbreitet, auch seine Helfer fürchteten sich vor ihm. Einmal erteilt er einem Mitschüler gar den Auftrag, Raffael, also einen seiner Verbündeten, zu verprügeln. Gleichzeitig geniessen Milos Helfer die Macht, welche ihnen ihre Nähe zu Milo verschafft. Am klarsten wird dies in der Befragung von Raffael:

Wie hast du dich in dieser Machtposition gefühlt?
«Für uns vier war es ein gutes Gefühl. Wir benahmen uns wie Bosse und konnten vieles machen.»

Wie haben sich wohl deine Mitschüler gefühlt?
«Sie fühlten sich sicher von uns ausgeschlossen.»

Und wie siehst du heute deine Taten?
«Ich habe gemerkt, dass mich diese Machtposition nicht weiterbringt – weder beruflich noch persönlich. Das, was wir gemacht haben, war Blödsinn.»

Zu Beginn sind die Vergehen noch vergleichsweise harmlos. Die Gruppe stiehlt oder versteckt Leuchtstifte und Schreiber ihrer Mitschüler. Doch mit der Zeit entwickelt sich ein regelrechtes System der Geldeintreibung, wie Ozan berichtet:

Von wem hast du Geld genommen?
«Tim* hat am zweitmeisten gegeben.»

Und wer hat am meisten gegeben?
«Marco. Alle haben dann Milo das Geld gegeben.»

Weshalb hat Milo das Geld nicht selbst eingetrieben?
«Er hatte keine Zeit dazu. Er war mit seinen Kollegen unterwegs, ist mit ihnen abgehangen. Er hatte einfach keine Zeit zum Fragen.»

Und wie oft hast du Dario* erpresst?
«Zwei- bis dreimal die Woche.»

Für wie lange?
«Ich weiss es nicht mehr genau, aber es ging immer weiter.»

Weshalb mussten gerade Tim, Marco und Dario Geld geben?
«Weil sie nicht bei uns in der Gruppe waren.»

Hatte es noch andere Knaben bei euch in der Klasse?
«Nein, nur Manuel*. Den haben wir erst gefragt, wenn die anderen nichts gegeben haben. Manuel war dann der Notfall.»

Irgendwann genügt Milo aber auch das Geld seiner Mitschüler nicht mehr. Er durchsucht die Schultasche seines Lehrers und stiehlt 40 Franken aus dem Portemonnaie – während die anderen Schmiere stehen. Wie perfide er dabei seine Handlanger einspannt, zeigt die Befragung von Ozan.

Was geschah mit den 40 Franken?
«Milo gab mir eine 20er-Note, damit ich diese verstecken konnte. Das habe ich dann getan. Die andere Note hat Alec versteckt. Nach der Schule haben wir ihm das Geld auf dem Pausenplatz wieder gegeben.»

Und weshalb hast du das Geld von Milo überhaupt versteckt?
«Weil Milo uns das so gesagt hat.»

Milo lässt seine Komplizen die Drecksarbeit machen, lässt sie für sich arbeiten. Denn die drei sind ihm aus Angst ebenso hörig wie die ganze Klasse. Als Mitläufer üben sie selbst zwar keine Gewalt aus, aber sie helfen, Milos Macht auszuweiten. Dabei machen sie sich in zahlreichen Fällen und in unterschiedlicher Konstellation strafbar. Mehrfache Erpressung, mehrfache Nötigung, Sachbeschädigung, mehrfacher Diebstahl, mehrfache Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes: Die Deliktliste der Zürcher Jugendanwaltschaft ist lang.
Und die Clique kennt kein Pardon. Mal werden Mitschüler zum Stehlen von Zigaretten angestiftet, mal zerstört Alec eine Zwischenwand im Schul-WC – und zwingt einen Mitschüler dazu, die Tat, die dieser nicht begangen hat, der Schulleitung zu gestehen.

Keine Empathie, keine Zuwendung
Im Bericht der Jugendanwaltschaft heisst es, Milo empfinde kaum Empathie gegenüber seinen Opfern. Er sehe Gewalt vielmehr als legitimes Mittel, um die Oberhand über Gleichaltrige zu behalten. Laut der psychologischen Einschätzung ist der 14-Jährige eigentlich einsam und in seiner Altersgruppe nicht eingebunden, denn: Die Drohkulisse und die Gewalt bringen ihm zwar Macht und Erfolg, aber keine wirkliche Zuneigung.

Milo ist in der Schweiz geboren, beginnt früh mit Kiffen und wird von der alleinerziehenden Mutter betreut. Deren Erziehungsstil wird als nachgiebig beschrieben, dem jungen Mann fehle es an richtigen Leitplanken. Auch der Vater stehe als Identifikationsfigur nicht zur Verfügung. Gegenüber Erwachsenen gibt sich der Jugendliche als wohlerzogener, angepasster junger Mann. Dies ist wohl auch ein Grund dafür, dass er einfach immer weitermachen kann, ohne dass die Schule eingreift. Das Geld fliesst zuverlässig in Milos Tasche. Mal sind es Zwei- oder Fünffränkler, mal eine 10er- oder eine 20er-Note. Das summiert sich. In der Befragung schildert Dario, eines seiner Opfer, wie er bedrängt wurde:

Wieso hast du Geld gegeben?
«Sie sagten mir: Gib mir das Geld, oder ich hole es mir. Ich wusste, dass sie mich durchsucht hätten, wenn ich gesagt hätte, ich habe kein Geld.»

Woher hattest du das Geld?
«Von mir, von meinem Kässeli. Ein paar Mal hat mir auch meine Mutter Geld mitgegeben, für den Pausenkiosk.»

Musstest du dich einschränken, weil du kein Geld mehr hattest?
«Na ja, ich brauche mein Geld aus dem Kässeli meistens für mich, um Sachen zum Knabbern zu kaufen. Also insofern hat mir das Geld nicht gefehlt, um wichtige Sachen zu kaufen.»

Warum hast du dich nicht gewehrt?
«Mir war die Schule wichtig. Ich möchte einen guten Beruf, ein gutes Zeugnis haben. Ich kann es mir nicht leisten, beim Verhalten schlechte Einträge zu haben.»

Das ganze System kollabiert erst nach jenem verhängnisvollen Nachmittag im Jahr 2015, als Milo und Alec in Marcos Wohnung stürmen, ihn drangsalieren und verprügeln. Obwohl sie Marco sogar mit dem Tod drohen, findet der Teenager den Mut, gegen seine Peiniger aufzustehen. Er erstattet Strafanzeige.

Erst dann handelt auch die Schulleitung. Sie wirft Milo, Alec und Raffael im Frühling 2015 von der Schule. Nur Ozan darf in seiner Klasse bleiben. Die anderen drei werden von der Polizei verhaftet und sitzen zum Teil über zwei Wochen in Untersuchungshaft. Später bestraft die Jugendanwaltschaft alle vier mit einer persönlichen Leistung. Milo wird in einer Erziehungseinrichtung untergebracht. Zudem ordnet der Richter eine ambulante Behandlung in Form einer Therapie an. Ihm sowie dem Stellvertreter Alec und dem Mitläufer Raffael wird ein Kontaktverbot zu den früheren Klassenkameraden und den Mittätern auferlegt.

Dennoch versucht Milo, von ausserhalb weiter seine Macht auszuüben. Er beauftragt Ozan, den einzigen in der Klasse Verbliebenen, damit, zwei Mädchen zum Schweigen zu bringen. Wenn sie weiter petzten, werde er sie umbringen lassen. Die Drohung aber wirkt nicht mehr. Milo hat seine Macht verloren.

In der Befragung bereuen die Erpresser ihre Taten – jedoch in unterschiedlichem Ausmass. Raffael gibt Folgendes zu Protokoll: «Das war nicht korrekt von uns. Das war kein Spass mehr.» Auch Alec sagt, ihm täten die Opfer leid. Er hätte sich nach den Drohungen schlecht gefühlt. Die gesamte Verantwortung schiebt er aber Milo zu. Er selbst habe sich nur aus Angst zu den Taten hinreissen lassen. Ohnehin habe er nicht gewusst, dass es sich dabei um Straftaten gehandelt habe.

Ozan wiederum schildert das Vergangene so:
Wie läuft es heute in der Schule?
«Es ist ruhiger geworden, es gibt nicht mehr so viele Probleme, es werden nicht mehr so viele Handys geklaut.»

Hast du dich bei den Opfern entschuldigt?
«Nein.»

Ist dir das nie in den Sinn gekommen?
«Doch, aber ich habe es nachher vergessen.»

Und Milo? Er sagt später aus, dass es ihm leidtue, was er seinen Mitschülern angetan habe. «Es war einfach dumm von mir. Ich möchte mich bei meinen Opfern entschuldigen.» Nach seinem Rauswurf von der Schule wird Milo spezialbeschult. In der Erziehungseinrichtung läuft es anfangs gut, doch dann beginnt es zu kriseln. Irgendwann ist Milo «auf der Kurve». Das heisst, er haut ab, taucht nicht mehr in der Einrichtung auf, ist zur Fahndung ausgeschrieben. Der Jugendanwalt kann ihn aber zu einer Aussprache in seinem Büro überreden.

Nach dieser Unterredung findet Milo schliesslich auf den richtigen Weg. Er beginnt ein Praktikum – und bleibt straffrei. Bis heute.

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