Wer heute im Kanton Aargau eine Matura oder
Berufsmatura absolviert, ist mit grosser Wahrscheinlichkeit Schweizer und kommt
aus eher gut situierten Verhältnissen. Ein Programm soll mehr
Chancengerechtigkeit bringen.
Kanti Baden und drei Oberstufen fördern gezielt begabte Schüler mit Migrationshintergrund, Badener Tagblatt, 17.5. von Martin Rupf
Konzentriert sitzen die Schülerinnen und Schüler im
Kurszimmer und hören den Ausführungen von Carmen Arnold zu. Zusammen mit ihrer
Kollegin Verena Schmid und dem Spreitenbacher Bez-Lehrer Patrick Schmid
unterrichtet die Kantilehrerin an diesem Nachmittag rund 23 Bez-Schüler mit
Migrationshintergrund. Ziel: Sie sollen dereinst eine Matura oder Berufsmatura
absolvieren können. Denn wer heute im Kanton eine Matura oder Berufsmatura
absolviert, ist mit grosser Wahrscheinlichkeit Schweizer und kommt aus eher gut
situierten Verhältnissen. Konkret: Auf vier Schweizer Maturanden kommt heute an
Aargauer Mittelschulen ein Schüler mit Migrationshintergrund.
Damit dieses Verhältnis kleiner wird, ist das
Programm «Chagall» lanciert worden. «Chagall» steht für «Chancengerechtigkeit
durch Arbeit an der Lernlaufbahn». Getragen wird das Förderprogramm von der
Kantonsschule Baden, der Berufsfachschule Baden, den Bezirks- und
Sekundarschulen Baden, Wettingen und Spreitenbach sowie dem Bildungsnetzwerk
Baden (BnB). «Mit dem Projekt wollen wir mithelfen, brachliegende Potenziale
und Talente besser auszuschöpfen», sagt Daniel Franz, Rektor der Kantonsschule
Baden, im Namen der Initiatoren des Projekts.
Viele Untersuchungen und statistische Erhebungen
zeigten, dass auch in der Schweiz immer noch die Herkunft über den schulischen
Erfolg von Kindern und Jugendlichen stark mitentscheidet, so Franz. «Dies zeigt
sich etwa darin, dass Kinder mit Migrationshintergrund oder Kinder, deren
Eltern nicht studiert haben, in anspruchsvollen Ausbildungsgängen auf der
Sekundar- und Tertiärstufe unterrepräsentiert sind und vielfach auch weniger
erfolgreich studieren.»
Motivation muss gegeben sein
Die Gründe dafür seien vielfältig. Neben
sprachlichen Defiziten und finanziellen Aspekten spielten oft auch
psychologische Barrieren und teilweise auch fehlendes kulturelles Wissen eine
wichtige Rolle. «Intelligente Kinder aus sozial schwächeren Familien stehen oft
allein da, wenn es beispielsweise darum geht, einen Übertritt in einen
Maturitätslehrgang ins Auge zu fassen. Sie sind weniger selbstsicher als Kinder
aus privilegierteren Familien, trauen sich weniger zu und können weniger gut
mit Unsicherheiten und schulischem Druck umgehen, weil ihnen Ansprechpersonen
fehlen», fasst Kanti-Rektor Daniel Franz zusammen.
Wie funktioniert das Förderprogramm in der Praxis?
Angesprochen sind talentierte und motivierte Schülerinnen und Schüler in der 2.
oder 3. Oberstufe, die einen Migrationshintergrund haben und/oder in
bescheidenen finanziellen Verhältnissen aufwachsen. «Ziel ist es, dass diese
Schüler einem Bildungsgang der (Berufs-)Mittelschule oder in einer
anspruchsvollen technischen Lehre wie Informatiker oder Automatiker erfolgreich
Fuss fassen», erklärt Franz. Die Kriterien zur Aufnahme ins Programm seien der
familiäre Hintergrund, das Potenzial, die Motivation sowie die Selbstkompetenz
der jungen Menschen.
Vor allem auch die Oberstufe Spreitenbach mit einem
grossen Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund verspricht sich viel von
der Teilnahme am Programm: «Gerade bei den Schulübertritten erleben wir immer
wieder, wie begabte Schüler auf sich alleine gestellt sind», sagt Roger Stiel,
Schulleiter der Bezirks- und Sekundarschule Spreitenbach. Natürlich setze die
Schule ohnehin alles daran, das Potenzial der Schüler zu erkennen und zu
fördern. «Doch mit ‹Chagall› haben wir jetzt ein weiteres, offizielles Gefäss,
das uns zudem noch hilft, einen unserer Aufträge – nämlich die Integration in
die Berufswelt – wahrzunehmen», so Stiel. Denn das Programm ermögliche es, Jugendliche
aus bildungsfernen Schichten gezielter abzuholen und zu motivieren.
Kurs dauert rund 2½ Jahre
Eigentlich hätte «Chagall» letzten Sommer loslegen
sollen. Doch aufgrund noch unsicherer Finanzierung hat sich die Lancierung
verzögert. Doch nun steht die Finanzierung für die dreijährige Pilotphase.
Damit man jetzt bis zum definitiven Start im Sommer nicht ein Jahr verliere,
biete man seit Februar für 23 Schülerinnen und Schüler verkürzte Kurse an.
«Längerfristig ist es das Ziel, pro Jahr rund 20 Schüler in das Programm
aufzunehmen», so Kanti-Rektor Franz. Während zweier Jahre werden die Schüler
rund 1½ Stunden von einem Kanti- sowie zwei Oberstufenlehrern unterrichtet und
gecoacht.
Ein «Chagall»-Kurs dauert in der Regel zweieinhalb
Schuljahre. Nebst Grundlagentraining in den Fächern Deutsch, Französisch und
Mathematik besuchen die Jugendlichen zusätzlich schulische und kulturelle
Veranstaltungen. Sobald der Übertritt an die Berufsmaturitätsschule respektive
an die Kantonsschule erfolgt ist, werden die Schüler ein halbes Jahr begleitet.
«Es ist durchaus denkbar, das Angebot auf Oberstufenschulen weiterer Gemeinden
auszuweiten», so Franz. Damit dies auch Realität werden könne, müsse natürlich
die Finanzierung gewährleistet sein. Franz: «Ziel wäre es längerfristig, das
Förderprogramm über Stiftungen zu finanzieren.»
Ein erfreulicher Nebeneffekt aus der Zusammenarbeit
der verschiedenen Schulen sei eine bessere Vernetzung zwischen den Volksschulen
und den nachobligatorischen Schulen, so Franz. «Es ist zu begrüssen, wenn die
Berufsbildung und die Mittelschulen näher zusammenrücken.»
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