Was Bildung wirklich ist, Basellandschaftliche Zeitung, 22.5. von Mario Andreotti
Die
musisch-ästhetische und die handwerkliche Bildung scheinen immer mehr zu
verkümmern. Fächer wie Bildnerisches Gestalten und Musik, aber auch Geschichte
und Literatur und nicht zuletzt der Handarbeits- und Werkunterricht werden
zunehmend gekürzt oder fallen ganz weg. Und dies, obwohl
Kognitionswissenschaftler, Psychologen und Pädagogen die Bedeutung der
ästhetischen Anreize und Eindrücke und der Körpererfahrung beim Lesen,
Schreiben, Musizieren und Werken längst als eine entscheidende Grundlage des
Lernens erkannt haben.
Es ist daher
notwendig, die ästhetischen, gestalterischen und handwerklichen Fächer im
Fächerkanon der Schule wieder vermehrt zu verankern, gleichberechtigt neben
allen anderen Fächern. Denn die Persönlichkeit eines Menschen ist beides, wie
eingangs angedeutet: rational und musisch-ästhetisch. Das war schon der
griechischen Antike bekannt, sind doch bei Aristoteles die vier zentralen
Unterrichtsfächer Lesen und Schreiben, Mathematik und Zeichnen, Sport und
Musik.
Wer sicher lesen
und schreiben kann, der nimmt teil am gesellschaftlichen, politischen und
kulturellen Leben. Und wer mathematisch denken, Mathematik als Sprache
verstehen lernt, kann mehrdimensionale Räume erkunden und eigene Welten damit
konstruieren. Und wer sich schliesslich mit Geschichte befasst, dem wird die
Geschichtlichkeit der eigenen Existenz immer mehr bewusst.
Die Musik mit
ihren Notationen und Partituren öffnet ihrerseits den Weg zu anderen
formalisierten Zeichensystemen, etwa der Naturwissenschaften. Über sie, vor
allem wenn selbst musiziert wird, können zudem Stimmungen intensiviert, aber
auch abgebaut werden. Nicht zuletzt soll auch der Körper mit seinen
Sinnesorganen, soll auch die Hand, folgen wir Heinrich Pestalozzis ganzheitlicher
Pädagogik, geschult werden. Wird sie das nicht, so verkümmert das Gehirn, weil
Schülerinnen und Schüler dann im wörtlichen Sinn nichts «be-greifen».
Daher ist es
unerlässlich, dass Fächer wie Sprache, Mathematik, Geschichte, Musik und Sport,
die in einer langen Tradition stehen, an unseren Schulen wieder die
unangefochtene Basis des Unterrichts bilden. Sie dürfen nicht von
anwendungsbezogenen Fächern wie «Wirtschaft und Recht» und «Medien und
Informatik» und – in den Primarschulen – von den Frühfremdsprachen verdrängt
werden.
Gerade auf der
Sekundarstufe II besteht diese Gefahr aber; und dies umso mehr, als die
gymnasiale Ausbildungszeit in den letzten dreissig Jahren anhaltend erodiert
ist, wie eine Studie zur Entwicklung der gymnasialen Unterrichtszeit gezeigt
hat. Das hatte zur Folge, dass in erster Linie die geisteswissenschaftlichen
Fächer Literatur, Geschichte, Politische Bildung und Philosophie flächendeckend
gekürzt wurden, wenn sie nicht, wie die alten Sprachen Latein und Griechisch,
grösstenteils ganz wegfielen. Damit ging ein wesentlicher Bestandteil unserer
Kultur und des humanistischen Bildungsgutes verloren. Dass dieser Verlust
mitverantwortlich für die weithin beobachtete Abnahme von Kenntnissen und
Fertigkeiten unserer heutigen Studienanfängerinnen und -anfänger ist, steht
ausser Frage.
Es braucht
dringend eine Rückbesinnung auf das, was humanistische Bildung wirklich ist. In
ihrem Zentrum steht nicht die Frage, wie man möglichst gut verdienende
Arbeitnehmer heranzieht oder welches Wissen morgen zur Förderung des
Wirtschaftswachstums benötigt wird. Im Zentrum stehen der Mensch und seine
freie Entwicklung zu mehr Menschlichkeit. Dazu bedarf es gerade auch jener
Disziplinen, die nicht nach dem Prinzip des unmittelbaren Nutzens
«funktionieren».
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