20. Mai 2019

Bildung ist mehr als Ausbildung


Worin unterscheiden sich Ausbildung und Bildung? Und inwiefern ist Bildung nicht nur ein Vermitteln von Wissen, sondern auch von Werten? Solche Fragen sind am Donnerstagabend am NZZ-Redaktionssitz bei einem Podium zum Thema «Bildung–Menschen mit Kopf und Herz» erörtert worden. 
Bildung mit Werten statt nur mit Wissen, NZZ, 17.5. von Lena Schenkel (NZZ-Podium zur Macht und Ohnmacht der Pädagogik)


In seinem Impulsreferat näherte sich Dieter Thomä dem Thema mit einer «altmodischen Zeitreise» an. Der St. Galler Philosophieprofessor führte zuerst nach London ins Jahr 1605, als schon Francis Bacon bedauerte, dass sich Menschen selten zum Nutzen anderer bilden, sondern um das eigene Dasein zu bereichern. Wissen und Lernen diene ihnen wahlweise als Sofa, Terrasse, Turm, Fort oder Geschäft für ihren Geist–nicht aber als Lagerhaus zur Erleichterung der Lage des Menschen. Statt, wie Thomä übersetzte, um Kultur, Konsum, Information, Macht und Kapital sollte es in der Bildung aber um Wohlfahrt, um die Lage des Menschen als Ganzes, gehen. Mit der Frage nach der Beschaffenheit nicht des Raumes, sondern des sich bildenden Menschen, ging die Reise weiter zu den Davoser Bildungstagen anno 1931, wo Carl Heinrich Becker darauf hinwies, dass Bildungserwerb vor allem Selbstbildung sei. «Individualisierung ist auch Freiheit», schloss Thomä. Schutz vor Bürokratie

In der anschliessenden Debatte unter Leitung von Martin Meyer diskutierten neben Thomä auch Pädagogikprofessor Jürgen Oelkers, die GLP-Politikerin und Winterthurer Schulpräsidentin Chantal Galladé sowie deren Parteikollege Alain Pichard, der sich als Lehrerebenfalls bildungspolitisch engagiert. Nachdem die Runde zunächst konstatiert hatte, dass die Schweiz in der internationalen Bildungslandschaft immer noch eine «Insel der Glückseligen»(Oelkers) sei, ging sie der Frage nach, wie stark Bildung in die Persönlichkeit eines Menscheneingreifen dürfe. Pichard kritisierte in diesem Zusammenhang den Lehrplan 21, der sich aus Angst davor, Werte zu vermitteln, auf Sachziele wie Kompetenzen verlege. Menschen seien jedoch Individuen und keine Festplatten. Einen Unterricht, der auf alle eingeht, wünscht sich auch Galladé, sprach sich aber dezidiert für eine gewisse Harmonisierung aus. Einig waren sich die beiden darin, dass Lehrer und Schulleiterinnen vor zu viel Bürokratie und Verwaltung geschützt werden müssen.

Auf Meyers Eingangsfrage, ob Kinder heute durch Bildung noch ganze Menschen werden oder wir bereits im Zeitalter der digitalen Zombies angekommen sind, kam man zunächst darüber ein, die Gefahren der Digitalisierung nicht zu dramatisieren, sondern sie als Chance zu begreifen. Als Galladé jedoch Gelassenheit forderte und für ein gesundes Nebeneinander von digitaler und realer Welt im Kinderleben plädierte, warnten Thomä und Pichard umgehend vor Erlebnisarmut, Suchtgefahr und nicht abschätzbaren Auswirkungen aufs Gehirn. Galladé stellte daraufhin klar, dass Gelassenheit nicht mit Gleichgültigkeit gleichzusetzen sei. Entscheidender sei, wie sich die Digitalisierung auf den Unterricht auswirke, wandte Oelker ein. Er plädierte für einen Kanon, um die nunmehr grenzenlosen Möglichkeiten einzuschränken. «Die Bildungsinstitutionen müssen sagen, was sie verlangen», stellte er klar.

«Chancen werden früh verteilt»
Spürbar emotional wurde es beim Thema Chancengleichheit. Thomä verurteilte diesbezüglich einen falsch verstandenen Liberalismus, wonach jeder seines eigenes Glückes Schmiedes sei. «Zur Entfaltung von Freiheit gehören auch förderliche Umstände», sagte er. Oelkers gab zu bedenken, dass man bei der Diskussion um Bildungsgerechtigkeit nicht auf die höchsten Bildungsabschlüsse fokussieren solle: In der Schweiz seien weniger die Stufen Gymnasium und Universität zentral als die Volksschule und die Berufsbildung sowie ein möglichst durchlässiges System. Galladé wiederum möchte den Fokus auf die Vorschulzeit legen, denn: «Chancen werden sehr früh und ungerecht verteilt.» Aus dem Publikum kam die Frage, wie denn der Gefahr der digital verbreiteten Desinformation über die Bildung beizukommen sei. Bildung könne weder das Klima noch die Demokratie retten, brachte es Pichard auf den Punkt. Doch sie könne diese Dinge thematisieren, ergänzte Oelkers. Einig war man sich zum Schluss auch über die Antwort auf die Eingangsfrage: «Wenn Bildung Ausbildung ist, ist es mit der Bildung aus.»


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