20. Mai 2019

Erzählungen für spannenden Geschichtsunterricht


Haben Sie lebendige Erinnerungen an Ihren Geschichtsunterricht in der Volksschule?Wenn ja, dann dürften packende Erzählungen und anregende Klassengespräche wohleine wichtige Rolle gespielt haben. Wenn nein, dann besuchten Sie vermutlich bei einem Langweiler den Geschichtsunterricht.
Was ist los mit unserem Geschichtsunterricht? 15.5. von Hanspeter Amstutz


Nur noch ein Restprogramm eines geschichtlichen Basiswissens

Wenn man auf die aktuelle Situation des Geschichtsunterrichts blickt, so stellt man fest, dassdas Fach in den letzten Jahren stark an den Rand gedrängt wurde. Die Lektionenzahl wurdeteils bis auf eine Wochenlektion reduziert und das Fach selber ist versteckt in einemKonglomerat aus mehreren Fächern. Die meisten Lehrpersonen beklagen sich zu Recht, dassfür einen vernünftigen stofflichen Aufbau schlichtweg die Zeit fehle. Der zweite Grund für eineDistanzierung vieler Lehrpersonen gegenüber dem Fach ist eine tiefe Verunsicherung, diedurch grundlegend neue Ansätze in der Geschichtsdidaktik ausgelöst wurde. Dabei bleibt diewichtige Frage, wieweit geschichtliche Inhalte noch verbindlich sind und welche Rolle dererzählerischen Gestaltungkraft der Lehrperson zukommt, trotz verschiedener Hinweise imneuen Lehrplan weiterhin in der Schwebe.


Die Abwertung des Geschichtsunterricht durch fehlende Zeitgefässe bei gleichzeitigerAustauschbarkeit wesentlicher Inhalte ist offensichtlich. Da es von der Zielsetzung des neuenLehrplans her primär auf das Vermitteln von geschichtlich relevanten Kompetenzen geht,glaubt man, durch kluges Auswählen aus einer Vielfalt von Inhalten den Mangel des seriösenAufbaus kompensieren zu können. Die Lehrpersonen sind bei diesem unübersichtlichenSelbstbedienungsbuffet nicht zu beneiden. Wie sollen denn die Schüler eineKontinuitätgeschichtlicher Abläufe erkennen, wenn zu viel zusammengestrichen werden muss? EineGeschichtsdidaktik, die glaubt, auf einen Grossteil geschichtlichen Grundwissens verzichtenzu können, wird beim Vermitteln der Kompetenzen so immer wieder mitunvermeidlichenLücken zu kämpfen haben.

Wenig beliebte Schweizer Geschichte
In der Sekundarschule benötigt man bei schülergerechtem Lerntempo für eine nur inexemplarischen Schwerpunktthemen vermittelte Geschichte Europas von den Entdeckungenim 15. Jahrhundert bis zur aktuellen Globalisierung rund zwei Wochenlektionen währenddreier Jahre. Es erstaunt deshalb nicht, dass Themen aus der Schweizer Geschichte amehesten vernachlässigt werden, da sie als besonders heikel gelten. Kritisch denkendeLehrkräfte möchten sich nicht unnötig dem Stallgeruch eines selbstgefälligen Nationalstolzesaussetzen. Viele Lehrpersonen beschränken sich in der Schweizer Geschichte deshalb aufKapitel, die ihnen gerade naheliegen oder machen gar einen Bogen um wesentlichehistorische Epochen. Doch diese Haltung darf keine Entschuldigung dafür sein, unsererJugend das Werden der modernen Schweiz vorzuenthalten.

Akademisch konzipierte Geschichtsdidaktik
Die Stoffauswahl ist das eine, das lebendige Vermitteln historischen Geschehens das andere.In der Geschichtsdidaktik wird den Lehrpersonen nahegelegt, geschichtliche Erzählungen alsErgänzungen zu sehen und den Schülern einen breiten Zugang zur Vergangenheit durch dieAuseinandersetzung mit geschichtlichen Quellentexten zu öffnen.Die neue Geschichtsdidaktik geht oft von einem reichen Vorwissen aus, das nicht vorhanden ist und neigt zu akademischen Fragestellungen, die viele überfordern. Wer mit Lehrerinnen und Lehrern spricht, stellt fest, dass ein weitgehender Verzicht auf direkte Instruktion zugunsten von Erkenntnissen aus selbsterarbeiteten Lernprogrammen zeitraubend und für viele Jugendliche zu wenig motivierend ist. Die Geprellten bei dieser umstrittenen Konzeption des Geschichtsunterrichts sind unsere Schülerinnen und Schüler. Ihr Hunger nach anschaulichen Schilderungen lässt sich kaum mitindividualisierten Aufträgen zu seitenlangen Dokumenten und Serien von Arbeitsblättern ausreichend stillen.

Ermutigung zum spannenden Erzählen

Der neue Trend in der Fachdidaktik hat seinen Preis. Statt angehende Lehrpersonen in faktenorientierter Erzählkunst zu fördern und zu ermutigen, setzt man in erster Linie auf anspruchsvolle Konzepte zur Selbsttätigkeit der Schüler. Nichts gegen neue Wege mitoptimalen Zugängen zum altersgerechten Forschen, aber die Förderung des entdecken den Lernens darf nicht mit einem Abbau des narrativen Unterrichts erkauft werden. Die Vorbereitung einer narrativen Lektionsreihe mit einer didaktisch aufbereiteten Fortsetzungsgeschichte für einen dialogischen Unterricht ist aufwändig. Die meisten Lehrpersonen wären deshalb froh um kommentierte Folienfolgen für bildgestütztes Erzählen und prägnante Hintergrundinformationen zum gewählten Thema. Da sich die Fachdidaktik dafür aber nur begrenzt zuständig sieht, muss man sich nicht wundern, wenn viele Lehrpersonen sich ein erfolgreiches Einarbeiten in die Erzählkunst gar nicht mehr zutrauen. Doch der Aufwand würde sich vielfältig lohnen. Lebendiger Geschichtsunterricht ist sprachbildend, sofern dem Erzählerischen wirklich Raum gegeben wird. Kinder und Jugendliche sind voll aufnahmefähig, wenn sie während farbiger Schilderungen ein Sprachbad im dramatischen Geschehen nehmen können. In narrativen Geschichtslektionen entstehen innere Bilder und Vorstellungen von prägender Kraft, welche die Basis für solide Analysenbilden. Daraus entwickeln sich als erwünschte Nebenwirkungen geschichtliche Kompetenzen und eine nicht zu unterschätzende Ausweitung des sprachlichen Horizonts.

Schweizer Geschichte im europäischen Kontext sehen

Kaum eine kultivierte Nation würde es akzeptieren, wenn die landeseigene Geschichte im Unterricht hintenangestellt würde. Doch wir schaffen das. Viele Lehrpersonen gehen davon aus, dass die neuere Schweizer Geschichte nicht viel Aufregendes zu bieten habe, wenn man abseits der bekannten Mythen kritisch darüber berichte. Doch diese Befürchtung ist fehl am Platz. Die neuere Schweizer Geschichte ist eine   für spannende und erhellende Auseinandersetzungen. Wenn relevante Themen geschickt vor dem Hintergrund deseuropäischen Donnerrollens geschildert werden, erkennen die Schüler meist die grossen Zusammenhänge von Entwicklungen und gleichzeitig die Besonderheiten des Schweizer Wegs.

Reicher Stoff für narratives Gestalten
Das Eintauchen ins historische Geschehen gelingt am besten, wenn Lehrpersonen die Fähigkeit entwickelt haben, im Lektionskonzept Spannungslinien aufzubauen und die dramatischen Verstrickungen wieder aufzulösen. Die Schüler merken bald, dass unsere Historie keine verstaubte Angelegenheit ist. Doch es gilt, die richtigen Themen auszuwählen.Der Landesstreik liegt schon gut hundert Jahre Zeit zurück. Aber die Dramatik des scharfen Gegensatzes zwischen dem aufgeschreckten Bürgertum und der wütenden Arbeiterschaft ist ein Stoff, aus dem sich Geschichte gestalten lässt. Die sich überschlagenden Ereignisse vom November 1918 und die nachfolgenden Jahre sind Musterbeispiele für historisches Geschehen, welches letztlich grosse gesellschaftliche Veränderungen in unserem Landausgelöst hat.

Faktenorientierte Erzählkunst fördert Urteilskraft
Schweizer Geschichtsunterricht soll auch Verständnis für den Zeitgeist einer Epoche schaffen. Dieser kann durchaus von den Wertvorstellungen unserer Tage abweichen und etwas irritieren. Die Zeit des Zweiten Weltkriegsbietet attraktiven Stoff, um die Situation eines Kleinstaats im Ring feindlicher Grossmächte schildern zu können. Die Abgrenzung gegenüber dem Nazitum, der Wille unserer Bevölkerung zum Überleben und die Reduit-Strategie von General Guisan stossen bei Jugendlichen auf grosses Interesse. Unverantwortlich wäre es hingegen, wenn kritische Fragen zur restriktiven Flüchtlingspolitik oder zu unserer wirtschaftlichen Abhängigkeit von den Achsenmächten ausgeklammert würden. Die Jugendlichen haben ein Recht darauf, auch die unschönen Seiten unserer Vergangenheit kennen zu lernen. Meist entstehen gehaltvolle Klassengespräche mit differenzierten Urteilen, wenn Licht und Schatten menschlichen Verhaltens in schweren Zeiten faktengetreu zur Sprache gekommen sind.

In vielen Klassen wird die neue Schweizer Geschichte spätestens mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs abgeschlossen. Doch die Zeit nach 1945 ist für eine Reihe politischer Weichenstellungen von grosser Bedeutung. Je näher wir ans 21. Jahrhundert kommen, desto deutlicher ist der Atem der aktuellen Politik zu spüren. Zudem bestehen mehr Möglichkeiten, um die Wirklichkeit der Geschichte erlebbar zu machen. Zeitzeugen können befragt werden und ausgewählte Film- und Tondokumente helfen mit, den Unterricht zu bereichern. Es gehört zum Basiswissen, dass die Schüler am Ende der Oberstufe über den Kampf ums Frauenstimmrecht sowie generell über unsere Grundstimmung während des Kalten Krieges im Bild sind. Aber all das Wissen bekommt erst seinen Wert, wenn dahinter lebendige Bilder und wesentliche historische Erkenntnisse stehen.


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