Manchmal erinnert die Geschichte des
Lehrermangels an das Theaterstück «Warten auf Godot». Zwei Landstreicher harren
neben einer Landstrasse und einem kahlen Baum und warten auf ebendiesen Godot.
Nur erscheint er trotz aller Ankündigungen nie. Ähnlich verhielt es sich in den
vergangenen Jahren mit dem Lehrermangel. Schulen und Experten warnten ständig
vor ihm, eingetroffen ist er nicht – bis jetzt.
Der Schweizer Lehrerverband verkündet die
Trendwende auf seiner Homepage: Der Lehrermangel zeige sich nun an vielen Orten
sehr deutlich – allerdings anders als gedacht. Denn noch gelänge es vielen
Schulen, die Probleme zu kaschieren. Offene Stellen könnten fast immer besetzt
werden, doch häufig mit «nicht adäquaten ausgebildeten» Personen.
Kantone in der Klemme: Es braucht jährlich 10'000 neue Lehrer - kommt jetzt das Teilzeit-Verbot? Aargauer Zeitung, 31.5. von Yannick Nock
Der Verband spricht deshalb von einem
qualitativen Lehrermangel. Es sei eine beliebte Variante der Schulen, fach-
oder stufenfremde Lehrer zu engagieren. Auch nicht ausgebildete Quereinsteiger
würden öfter eingestellt. Die Folge: Vor der Klasse stehen Lehrer, welche nicht
die nötige Ausbildung mit sich bringen.
Zwar seien viele Quereinsteiger engagiert
und brächten der Schule neue Impulse, sagt Samuel Zingg, Vizepräsident des
Lehrerverbandes. Doch erfahrene Teammitglieder müssten deswegen zusätzliche
Aufgaben im Kollegium übernehmen, da die Neuen mit der Vorbereitung des
Unterrichts ausgelastet seien. Selbst dann bleibt es für die Neulinge
schwierig. «Viele gehen an die Grenze der Belastbarkeit, weil ihnen die nötige
Ausbildung fehlt», sagt Zingg. Einige überfordern sich selbst.
So viele
Schüler wie nie
Hauptgrund für den Lehrermangel sind die
steigenden Schülerzahlen. Bis 2025 werden in mehreren Kantonen historische
Höchstwerte erreicht. In Basel-Stadt, Zürich und im Thurgau dürfte die Zahl der
Kinder am stärksten steigen, am wenigsten in Neuenburg, Uri und im Tessin.
Gemäss dem Schweizer Bildungsbericht werden bis 2025 in der obligatorischen
Schule knapp 120 000 zusätzliche Schülerinnen und Schüler in den
Klassenzimmern sitzen. Ein massiver Zuwachs, der allerdings nicht das einzige
Problem sein wird. In den kommenden Jahren gehen Tausende Lehrer in Pension. Es
klafft eine grosse Lücke. Die Pädagogischen Hochschulen kommen mit der
Ausbildung neuer Lehrkräfte kaum nach. «Wir werden unseren Beitrag leisten,
aber allein können wir den zusätzlichen Bedarf nicht decken, sagte Heinz Rhyn,
Rektor der Pädagogischen Hochschule Zürich, diese Woche im «Tages-Anzeiger».
Teilzeitverbot
in Genf
Stefan Wolter, Mitverfasser des
Bildungsberichts und Professor an der Universität Bern, rechnet damit, dass die
Volksschule jährlich über 10 000 neue Pädagogen braucht. Zu den 7000
Primarlehrern kämen über 3000 Lehrer der Oberstufe hinzu, sagt er. Dass es so
viele sind, liegt auch an den Aussteigern. Einerseits bleiben junge Lehrer dem
Beruf nicht ewig treu. 20 Prozent geben innerhalb der ersten fünf Jahre auf.
Andererseits verlassen viele Lehrerinnen den Beruf temporär oder reduzieren ihr
Pensum sehr stark.
Und ein weiterer Trend verschärft die
ohnehin angespannte Situation: Der Lehrerberuf ist zum Teilzeitjob geworden.
Arbeiteten Primarlehrer vor 20 Jahren meistens Vollzeit, ist das längst nicht
mehr der Fall. Die Erstklässler haben zwar einen Klassenlehrer oder eine
Klassenlehrerin, sie sind aber nicht mehr jeden Tag an der Schule. Frauen und
Männer mit kleineren Pensen füllen die Lücke.
Spitzenreiter ist der Aargau. In keinem
anderen Kanton arbeiten mehr Lehrer Teilzeit. Gemäss Bildungsbericht
unterrichtet fast die Hälfte der Aargauer Primarlehrerinnen und -lehrer in
einem Pensum unter 50 Prozent. Auch in Luzern, Solothurn oder Bern sind die
Pädagogen öfter in tiefen Pensen beschäftigt.
Ganz anders im Kanton Genf. Dort arbeiten
Primarlehrer fast immer Vollzeit. Das ist kein Zufall, denn die Stellen werden
entweder zu 100 Prozent oder im Jobsharing (zweimal 50 Prozent) ausgeschrieben.
Es ist faktisch ein Teilzeitverbot. Der Kanton hat diese Regelung durchgesetzt,
um einen Lehrermangel zu verhindern, was bisher gelingt.
Andere Kantone interessieren sich bereits
für das Modell. Im Kanton Bern fordert eine überparteiliche Gruppe von
bürgerlichen Grossräten in einer Motion ein Mindestpensum. Alle Lehrer sollen
mindestens 35 Prozent arbeiten. Zürich hat vor vier Jahren eine
vergleichbare Regelung eingeführt. Auch der Kanton Freiburg verkündete 2013,
Kleinpensen von 20 oder 30 Prozent zu verbieten. Allerdings folgte ein
Aufschrei der Lehrer. Als ungeeignet und frauenfeindlich bezeichnete der
Lehrerverband das Vorhaben, weil über 80 Prozent der
Primarschul-Lehrkräfte Frauen sind. Der Kanton gab wegen des öffentlichen
Drucks nach.
Die Situation war damals allerdings eine
andere: Die Schülerzahlen sanken zu der Zeit. Doch auch heute bleiben die
Lehrer dagegen. «Ein Mindestpensum wäre kontraproduktiv», sagt Vizepräsident
Zingg. Er befürchtet, dass dies eine Kündigungswelle auslösen könnte. Dies
würde die Situation weiter verschärfen.
Mindestpensum
von 50 Prozent?
Laut Bildungsökonom Stefan Wolter wäre eine
leichte Pensums-Erhöhung die effektivste Art, den Lehrermangel zu beheben. Denn
Quereinsteiger und Studenten auszubilden, kostet viel Geld. «Würde jede
Lehrkraft ihr Pensum um nur 10 Prozent erhöhen, gäbe es keinen
Lehrermangel», sagt er. «Wenn sich der Mangel verschärft, müssen die Kantone
über ein Pflichtpensum diskutieren.» Ein Mindestpensum von 30 bis
50 Prozent sei vorstellbar.
Die Lehrer wollen hingegen vor allem eines:
die Rahmenbedingungen attraktiver gestalten. Dazu zählen sie unter anderem mehr
Lohn, weniger Unterrichtsstunden sowie Klassengrössen um die 20 Schülerinnen
und Schüler. Das ist laut Lehrervizepräsident Zingg die beste Möglichkeit,
weiterhin geeignete Personen zu gewinnen und sie auch längerfristig im Job zu
halten – damit der Lehrermangel in Zukunft wieder auf sich warten lässt.
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