Ich bin
in einem klassischen Mehrsprachenhaushalt aufgewachsen. Mit meinem Vater, einem
Waadtländer, sprach ich Französisch, mit meiner Mutter, einer Berlinerin,
Hochdeutsch und wenn wir alle beisammen waren, unterhielten wir uns auf
Englisch. In der Schule hat mir die heute so viel gepriesene Mehrsprachigkeit allerdings
nicht viel genutzt. Ich hatte passable, aber nicht überragende Noten. Der Grund
war natürlich einfach: Ich lernte nicht und verliess mich auf meine in der
Familie (heute nennen wir das Sprachbad) erworbenen Kenntnisse.
Wenn der Bilinguismus zum Selbstzweck wird, Biel-Bienne, 3.4. von Alain Pichard
1975 traf
ich im Staatlichen Lehrerseminar in Biel auf den gefürchteten Charles Mottet,
einem Französischlehrer alter Schule. Ich erinnere mich noch genau, wie er mir
die Beurteilung des ersten schriftlichen Tests zurückgab. Es war eine 2! «Das,
Pichard», raunzte er, «war nichts, gar nichts! Merken Sie sich, Sprache heisst
nicht Quatschen, Sprache ist viel mehr. Sprache ist eine Kultur, Sprache ist
Analyse, Sprache ist Liebe!» Ich verinnerlichte seine Mahnung und begann zum
ersten Mal in meinem Leben Französisch richtig zu lernen, Vokabel zu büffeln,
Texte gründlich zu analysieren. Und mir eröffnete sich eine andere Welt, die
Welt der Frankophilie!
«Wissen
Sie», fragte mich Monsieur Mottet einmal in einem persönlichen Gespräch, «warum
wir Bieler so gut Französisch sprechen?» Und er gab die Antwort gleich selbst:
«Weil wir hier eine Minderheit sind. Wir grenzen uns ab und pflegen unsere
Sprache!»
Charles
Mottet war ein leidenschaftlicher Französischlehrer, aber ein schrecklich
unbegabter Didaktiker. Wer seinem Ideal der Sprache nicht entsprach, den konnte
er regelrecht zertrümmern.
Was mag
sich wohl dieser Mann, der letztes Jahr im hohen Alter von 90 Jahren gestorben ist,
gedacht haben, wenn er mit dem grassierenden Kult um den Bieler Bilinguismus
konfrontiert wurde?
Mit
Bilinguismus kann man in Biel heute alles erreichen und alles rechtfertigen.
Mittelmässige Bühnenproduktionen erhalten mit dem Markenzeichen «bilingue»
zusätzliche Subventionen. In Biel wurde unter Leitung einer mehrheitlich linken
Stadtregierung eine staatlich subventionierte Privatschule im Beaumont-Quartier
eingerichtet: Die Filière Bilingue! Dass gleichzeitig in den Aussenquartieren
die Realklassen mit bis zu 100% Kindern besetzt sind, die zu Hause weder
Deutsch noch Französisch sprechen, kümmert den Mittelstand kaum. Mit dem Büro
für Zweisprachigkeit gibt es eine hübsche Sprachpolizei und neuerdings macht
die wohl dämlichste Weisung die Runde, wonach Werbung in Biel nur noch
zweisprachig erscheinen dürfe. Mit dem neuen Lehrmittel Passepartout wird einer
oberflächlichen Mehrsprachendidaktik gehuldigt, die verspricht: Nicht mehr
Lernen, keine Vokabeln büffeln, keine Grammatik, einfach rein ins Sprachbad.
Das Gymnasium hat folgerichtig auch die schriftlichen Aufnahmeprüfungen im Fach
Französisch abgeschafft und überprüft nur noch mündlich. Ein paar Ausdrücke im
Englisch für den Sportplatz, im Französisch für die Küche, im Deutsch für’s
Telefonieren. Sprachliche Kompetenzhäppchen als Bildungsziel,
Fremdsprachenunterricht auf dem Niveau eines Reiseführers.
Auf der
Strecke bleiben die Chancengerechtigkeit, das gründliche Lernen einer der
beiden «Mutter»sprachen, vielerorten ein kultureller Tiefgang, und mit dem Zweiprachenzwang für die
Werbeindustrie eine gewisse Weltläufigkeit, die das multikulturelle Biel immer
auszeichnete. Die Ideologisierung eines
ursprünglich sympathischen Anliegens droht uns direkt in die Provinzialität zu
führen. Mein Vater übrigens, der ordentlich Deutsch sprach, sorgte dafür, dass
ich in erster Linie die deutsche Muttersprache beherrschte. Er befahl mir schon
früh deutschsprachige Literatur zu lesen und ich musste ihm regelmässig über
das Gelesene rapportieren. Er war
überzeugt, dass man in der Muttersprache sattelfest sein müsse, damit man auch
andere Sprachen lernen könne.
Vor
einiger Zeit besuchten meine Frau und ich ein rein französisches Kabarett im
Nebia. Während der Vorstellung sahen wir uns entgeistert an. Während sich die
französischsprachigen Besucher vor Lachen kugelten und die rasend schnell
gesprochenen Pointen genossen, verstanden wir beide wohl nur die Hälfte des
Gesagten. Das war selbst für mich eine Nummer zu gross. Und ich erinnerte mich
an meinen ehemaligen Französischlehrer: «Sprache ist nicht quatschen, Sprache
ist Kultur!»
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