3. April 2019

Zweisprachigkeit als Selbstzweck


Ich bin in einem klassischen Mehrsprachenhaushalt aufgewachsen. Mit meinem Vater, einem Waadtländer, sprach ich Französisch, mit meiner Mutter, einer Berlinerin, Hochdeutsch und wenn wir alle beisammen waren, unterhielten wir uns auf Englisch. In der Schule hat mir die heute so viel gepriesene Mehrsprachigkeit allerdings nicht viel genutzt. Ich hatte passable, aber nicht überragende Noten. Der Grund war natürlich einfach: Ich lernte nicht und verliess mich auf meine in der Familie (heute nennen wir das Sprachbad) erworbenen Kenntnisse.
Wenn der Bilinguismus zum Selbstzweck wird, Biel-Bienne, 3.4. von Alain Pichard


1975 traf ich im Staatlichen Lehrerseminar in Biel auf den gefürchteten Charles Mottet, einem Französischlehrer alter Schule. Ich erinnere mich noch genau, wie er mir die Beurteilung des ersten schriftlichen Tests zurückgab. Es war eine 2! «Das, Pichard», raunzte er, «war nichts, gar nichts! Merken Sie sich, Sprache heisst nicht Quatschen, Sprache ist viel mehr. Sprache ist eine Kultur, Sprache ist Analyse, Sprache ist Liebe!» Ich verinnerlichte seine Mahnung und begann zum ersten Mal in meinem Leben Französisch richtig zu lernen, Vokabel zu büffeln, Texte gründlich zu analysieren. Und mir eröffnete sich eine andere Welt, die Welt der Frankophilie!

«Wissen Sie», fragte mich Monsieur Mottet einmal in einem persönlichen Gespräch, «warum wir Bieler so gut Französisch sprechen?» Und er gab die Antwort gleich selbst: «Weil wir hier eine Minderheit sind. Wir grenzen uns ab und pflegen unsere Sprache!»
Charles Mottet war ein leidenschaftlicher Französischlehrer, aber ein schrecklich unbegabter Didaktiker. Wer seinem Ideal der Sprache nicht entsprach, den konnte er regelrecht zertrümmern.

Was mag sich wohl dieser Mann, der letztes Jahr im hohen Alter von 90 Jahren gestorben ist, gedacht haben, wenn er mit dem grassierenden Kult um den Bieler Bilinguismus konfrontiert wurde?

Mit Bilinguismus kann man in Biel heute alles erreichen und alles rechtfertigen. Mittelmässige Bühnenproduktionen erhalten mit dem Markenzeichen «bilingue» zusätzliche Subventionen. In Biel wurde unter Leitung einer mehrheitlich linken Stadtregierung eine staatlich subventionierte Privatschule im Beaumont-Quartier eingerichtet: Die Filière Bilingue! Dass gleichzeitig in den Aussenquartieren die Realklassen mit bis zu 100% Kindern besetzt sind, die zu Hause weder Deutsch noch Französisch sprechen, kümmert den Mittelstand kaum. Mit dem Büro für Zweisprachigkeit gibt es eine hübsche Sprachpolizei und neuerdings macht die wohl dämlichste Weisung die Runde, wonach Werbung in Biel nur noch zweisprachig erscheinen dürfe. Mit dem neuen Lehrmittel Passepartout wird einer oberflächlichen Mehrsprachendidaktik gehuldigt, die verspricht: Nicht mehr Lernen, keine Vokabeln büffeln, keine Grammatik, einfach rein ins Sprachbad. Das Gymnasium hat folgerichtig auch die schriftlichen Aufnahmeprüfungen im Fach Französisch abgeschafft und überprüft nur noch mündlich. Ein paar Ausdrücke im Englisch für den Sportplatz, im Französisch für die Küche, im Deutsch für’s Telefonieren. Sprachliche Kompetenzhäppchen als Bildungsziel, Fremdsprachenunterricht auf dem Niveau eines Reiseführers.

Auf der Strecke bleiben die Chancengerechtigkeit, das gründliche Lernen einer der beiden «Mutter»sprachen, vielerorten ein kultureller Tiefgang, und mit dem Zweiprachenzwang für die Werbeindustrie eine gewisse Weltläufigkeit, die das multikulturelle Biel immer auszeichnete.  Die Ideologisierung eines ursprünglich sympathischen Anliegens droht uns direkt in die Provinzialität zu führen. Mein Vater übrigens, der ordentlich Deutsch sprach, sorgte dafür, dass ich in erster Linie die deutsche Muttersprache beherrschte. Er befahl mir schon früh deutschsprachige Literatur zu lesen und ich musste ihm regelmässig über das Gelesene rapportieren.  Er war überzeugt, dass man in der Muttersprache sattelfest sein müsse, damit man auch andere Sprachen lernen könne.

Vor einiger Zeit besuchten meine Frau und ich ein rein französisches Kabarett im Nebia. Während der Vorstellung sahen wir uns entgeistert an. Während sich die französischsprachigen Besucher vor Lachen kugelten und die rasend schnell gesprochenen Pointen genossen, verstanden wir beide wohl nur die Hälfte des Gesagten. Das war selbst für mich eine Nummer zu gross. Und ich erinnerte mich an meinen ehemaligen Französischlehrer: «Sprache ist nicht quatschen, Sprache ist Kultur!»

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