Gibt es eine grössere
Streberin als Hermine Granger? Das Mädchen aus den «Harry Potter»-Büchern hat
nur Spitzennoten, ist Klassenbeste und Liebling der Lehrer. Als Hermine einmal
einen Aufsatz abgibt, sagt sie ihren Freunden: «Ich hoffe, er ist nicht zu lang
geworden – zwei Rollen Pergament mehr, als der Professor verlangt hat.» An
dieser Stelle im Buch stockt die Psychologin Lisa Damour und schaut zu ihrer 8-jährigen
Tochter auf. «Hermine nutzt ihre Zeit aber nicht sehr sinnvoll», sagt sie. Die
zwei Seiten mehr seien unnötig. «Hermine ist eine tolle Schülerin und könnte
hervorragende Noten bekommen – ohne Zusatzarbeit.»
Warum Mädchen bessere Noten haben, Buben aber Karriere machen, St. Galler Tagblatt, 26.4. von Yannick Nock
Die Psychologin weiss um
die Probleme, die derartige Passagen mit sich bringen. Gerade Mädchen wird oft
ein Bild vermittelt, das auf den ersten Blick zwar erstrebenswert scheint, den
Kindern aber später schadet: «Sei brav, sei fleissig, mach mehr, als die Lehrer
fordern.» Wer sich daran hält, erhält meistens gute Noten, wird im Berufsleben
aber darunter leiden. Die Mädchen hecheln einem Ideal hinterher, das keines
ist. Und das weit über den Schulabschluss hinaus.
In der höheren Bildung erfolgreicher
Dabei ist Bildung
Frauensache. Zumindest wenn es nach den Zahlen geht. Nicht nur, dass Mädchen in
der Regel bessere Noten erhalten, wie Studien belegt haben. Sie sind auch in
der höheren Bildung erfolgreicher. Die gymnasiale Maturitätsquote von Frauen liegt
bei 25 Prozent, jene der Männer bei 17,5 Prozent. Auch bei den landesweit
152000 Studierenden sind Frauen in der Mehrheit. So liegt das Verhältnis auf
dem Campus der grössten Hochschule des Landes, der Universität Zürich, bei 58
zu 42 Prozent. Studentinnen dominieren die Bildungsstätten. Ganz anders sieht
es in der Arbeitswelt aus. In der Führungsetage grosser Unternehmen sind Frauen
in der Minderheit.
Zwar ist der Anteil in den
Geschäftsleitungen zuletzt leicht angestiegen, wie ein im März veröffentlichter
Gleichstellungsreport zeigt, der die Spitzen der 100 grössten Schweizer
Arbeitgeber durchleuchtet. Doch der Anteil liegt bei nur 9 Prozent. In der
Schweiz gibt es aktuell nur ein Grossunternehmen, bei dem der Frauenanteil in
den Chefetagen mehr als 25 Prozent ausmacht: Bei der Zürich-Versicherung sind
drei Frauen im Top-Management vertreten. Ansonsten arbeiten lediglich bei
Roche, Novartis und UBS je zwei Konzernleitungs-Managerinnen, rechnet die
«Handelszeitung» vor. Alle anderen Grossunternehmen haben nur eine oder gar
keine Top-Kaderfrau.
Kompetent, aber unsicher
Dafür gibt es Gründe:
Studiumswahl, Teilzeitanstellung, Mutterschaftspausen, aber auch strukturelle
Hürden und Vorurteile sorgen dafür, dass Frauen in Spitzenpositionen
untervertreten sind. Doch ein unterschätzter Faktor beeinflusst den künftigen
Weg schon im Kindesalter: der Drang nach Perfektion.
Die amerikanische
Psychologin Damour empfängt viele Mädchen in ihrem Büro, deren
Gewissenhaftigkeit ihre grösste Schwäche ist. Die Kinder polieren jede Arbeit
auf, schreiben Aufsätze bei kleinsten Unschönheiten komplett neu und haben
dennoch das Gefühl, zu wenig getan zu haben. Trotz Bestnoten fühlen sie sich
von der Schule überfordert, schreibt sie in der «New York Times». Damour:
«Eine
Unsicherheit bleibt bei vielen Mädchen immer, egal wie gut sie sind.»
Die Folge: Mädchen sind
zwar kompetent – und wissen oft mehr als Buben –, haben aber wenig
Selbstvertrauen. Eine Entwicklung, die auch Studien belegen. Wenn Kinder ihre
Fähigkeiten einschätzen sollen, bewerten Buben diese in der Regel höher, als
sie tatsächlich sind. Bei Mädchen ist es umgekehrt.
Der Mangel an
Selbstvertrauen lässt sich später nur schwer beheben. Dadurch entsteht im
Berufsleben ein Ungleichgewicht, das auch für Firmen schädlich ist: Selbst
unterqualifizierte und unvorbereitete Männer haben keine Probleme damit, neue
Herausforderungen anzunehmen, während überqualifizierte und bestens
vorbereitete Frauen sich lieber zurückhalten. Männer steigen auf, Frauen nicht.
Falsches Lob seitens der Eltern
Das Thema beschäftigt
nicht nur Unternehmen. Am nationalen Frauenstreik – dem ersten seit 28 Jahren –
werden Tausende Frauen für mehr Lohn und Respekt demonstrieren. Die
Organisatoren schreiben:
«Der
14. Juni soll deutlich zeigen, dass Frauen sich mit dem Stand der Dinge nicht
länger zufriedengeben und dass es mit der Gleichstellung vorangehen muss.»
Doch wie lässt sich das
Ungleichgewicht bekämpfen? Zwar wird regelmässig über Frauenquoten diskutiert,
in den Teppichetagen der Grossunternehmen, in den Spitzenpositionen der
Universitäten und in den Sälen der Parlamente. Und auch Gymnasien versuchen,
Mädchen möglichst früh für eine wissenschaftliche Karriere zu begeistern. Doch
das Resultat ist oft enttäuschend.
«Es wurde viel Geld in die
Programme gesteckt, doch der gewünschte Erfolg blieb oft aus», sagt
Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm, die sich seit Jahren mit der
Förderung von Mädchen beschäftigt. Sie plädiert deshalb für einen Ansatz, der
viel früher greift. Entscheidend seien die Familie – und die Erziehung.
«Mädchen sind überangepasst», sagt Stamm. Sie spürten wie ein Seismograf, was
den Eltern gefällt, und würden sich anpassen. Ein Teufelskreis, denn Mütter wie
Väter bekräftigen dieses Verhalten, sei es durch Zustimmung oder durch Belohnungen.
«Dabei ist Lob für unnötige Extraarbeit schlecht für die Kinder», sagt Stamm.
Buben würden sich in der
Regel anders verhalten. Sie machten schulisch oft nur so viel, um sich
nörgelnde Eltern vom Hals zu halten. Wenn sie einmal schlechte Noten bekommen,
stecken sie mehr Zeit in die nächste Prüfung – und sehen, dass sie vieles
erreichen können, wenn sie nur wollen. Und sie lernen, dass sie sich auch mal
durchwursteln können. «Das stärkt ihr Selbstvertrauen», sagt Stamm.
Auch die Schulen üben
einen entscheidenden Einfluss aus. Anders als bei Buben würde abweichendes
Verhalten bei Mädchen viel weniger toleriert, sagt Stamm.
«Wenn
ein Mädchen vorlaut, frech und willensstark ist, gilt es sofort als
verhaltensauffällig.»
Doch dieses Benehmen
steigere auch die Durchsetzungsfähigkeit. «Stattdessen werden
Geschlechterrollen zementiert.»
Rückbesinnung auf alte Klischees
Besonders die Generation Z
(ab Jahrgang 2000) sei auf diese Art erzogen worden. Zudem gebe es eine
Rückbesinnung zu alten Klischees: Pink für Mädchen, Hellblau für Buben. «Eltern
sehen die Prinzessin oder den Draufgänger», sagt Stamm. Buben würden im
Wettbewerb gestärkt. Wer ist der Schnellste? Wer der Stärkste? Die Mädchen
nicht. Ihnen werde beigebracht, dass gewinnen oder verlieren irrelevant sei.
Dabei korreliert die Lust am Wettbewerb mit dem beruflichen Erfolg. «Statt den
Wettbewerb zu meiden, sollten Schulen ihn hervorheben», sagt Stamm.
Selbstzweifel können so zerstreut und die Risikobereitschaft gefördert werden.
Psychologin Damour kommt
deshalb zum Schluss:
«Schulen
sind heute Selbstvertrauens-Fabriken für unsere Söhne und Kompetenz-Fabriken
für unsere Töchter.»
Damour versucht deshalb,
bei Mädchen immer den Glauben an sich selbst zu stärken. «Glaubst du nicht,
dass Hermine auch ohne Zusatzarbeit gute Noten bekommen könnte?», fragt sie
ihre 8-jährige Tochter. «Sicher Mami, natürlich könnte sie das.»
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