29. April 2019

Druck bei Berufswahl steigt

Vor eineinhalb Jahren sassen sie noch in der Primarschule. Heute stecken die Schülerinnen und Schüler des Schulhauses Münchhalde im Zürcher Seefeld mitten in der Berufswahl. Wie Tausende andere Zürcher Jugendliche in der zweiten Sekundarschule haben sie in den letzten Monaten etliche Schnupperlehren absolviert. Erst im Herbst 2020 werden die meisten von ihnen eine Lehrstelle antreten. Doch schon heute werden die Weichen für ihre Zukunft gestellt.
Schnupperlehren sind für die Berufswahl von Jugendlichen unentbehrlich - doch es wird immer schwieriger, eine zu finden, NZZ, 26.4. von Nils Pfändler


Die Schüler von Klassenlehrer Thomas Deuber erleben eine der intensivsten Zeiten ihres jungen Lebens. Automatiker, Detailhändlerin, Kaufmann, Malerin, Schreiner, Zahntechnikerin – jede Schnupperlehre ist ein Ausflug in eine mögliche Zukunft des eigenen Ichs. Sie öffnet Türen, die ohne weiteres wieder geschlossen werden können. Genau das macht die Erfahrung für die jungen Menschen so wertvoll.

Einmal den Geruch von Holzspänen in einer Werkstatt geatmet, einmal den Tag im Grossraumbüro verbracht oder einmal einen weissen Spitalkittel getragen zu haben, sind Erlebnisse, die eine Berufswahl viel mehr beeinflussen können als Erzählungen.
Die Noten im zweiten Jahr in der Sekundarschule sind entscheidend bei der Suche nach einer Lehrstelle. Das Zeugnis wird jeder Bewerbung beigelegt.

Doch je nach Branche werde es für die Jugendlichen immer schwieriger, überhaupt eine Schnupperlehre zu finden, sagen Beobachter. So auch Thomas Deuber: «In den letzten Jahren hat sich die Situation verschärft», sagt der Klassenlehrer. «Viele Betriebe sind nicht mehr so offen wie früher.» Für einige Schnupperlehren müssen die Jugendlichen zuerst eine Infoveranstaltung besuchen. Erst danach dürfen sie überhaupt eine Bewerbung wie um eine reguläre Stelle schreiben. «Dabei wissen einige noch gar nicht, in welche Richtung sie überhaupt gehen wollen», sagt Deuber.

Gleichzeitig nimmt auch der Druck in der Schule zu. Die Noten im zweiten Jahr in der Sekundarschule sind entscheidend bei der Suche nach einer Lehrstelle. Das Zeugnis wird jeder Bewerbung beigelegt. Doch damit nicht genug: Neben den herkömmlichen Schulnoten sind in den letzten Jahren weitere Bewertungen hinzugekommen.

Von der Schule in die Stifti

In einem Langzeitprojekt begleitet die NZZ die zweite Klasse aus dem Sekundarschulhaus Münchhalde auf der Lehrstellensuche. Dabei verfolgen wir die wichtigsten Etappen vom ersten Kontakt mit der Berufswelt über die Schnupperlehre bis zum ersten Arbeitstag.
Das Arbeits-, Lern- und Sozialverhalten wird ebenfalls im Zeugnis beurteilt und in vielen Personalabteilungen sehr hoch gewichtet. Hinzu kommen verschiedene Tests, die immer häufiger von Lehrbetrieben gefordert werden. Beim sogenannten Stellwerk-Check oder beim Multicheck werden unabhängige Leistungsprofile in den Schulfächern erstellt, aber auch das Vorstellungsvermögen, die Konzentrationsfähigkeit oder persönliche, soziale und methodische Kompetenzen getestet.

«Es kann sein, dass der eine oder andere Berufswunsch platzt.»

Thomas Deuber, Klassenlehrer

Unter Umständen hängt die Zukunft der Schüler von den Resultaten dieser einzelnen Prüfungen ab. «Es kann sein, dass der eine oder andere Berufswunsch platzt», sagt Deuber. Der Druck habe im Vergleich zu seiner eigenen Schulzeit enorm zugenommen. «Ich durfte in der Sek noch Kind sein.»

Einige Schülerinnen und Schüler seiner Klasse können die Berufswahl indes noch hinauszögern. Sechs sind zur Aufnahmeprüfung für das Gymnasium angetreten, vier von ihnen haben bestanden. Sie werden das Schulhaus Münchhalde bereits im Sommer verlassen.

Die meisten anderen werden nur ein Jahr später zu den fast 50 000 Lernenden im Kanton Zürich gehören. Auch Noa, Gemma und Tim haben in den letzten Wochen mit zahlreichen Schnupperlehren einen nächsten Schritt in Richtung Berufsleben gemacht. Doch der Sprung vom Klassenzimmer in die Welt der Nobelhotels, Operationssäle und Sitzungsräume ist gross.


Noa und das Tatar im Fünfsternehaus

Noa streift sich die schwarzen Handschuhe über und greift beherzt in die Fleischmasse. Ein Koch der Bankettküche im Hotel Dolder Grand hat das Rindstatar zuvor gewürzt. Die Schülerin beginnt das Fleisch zu kneten. Am Mittag steht ein Anlass mit 150 Personen an, am Abend einer mit 180. «Es ist nicht viel los heute», sagt der Koch neben ihr. «Es gibt Tage, da haben wir vier oder fünf Veranstaltungen.»

Erst eine knappe halbe Stunde zuvor ist Noa im Hotel angekommen. Unter dem Kronleuchter der Eingangshalle meldet sie sich beim Concierge und wird darauf von einem Koch in weisser Schürze abgeholt. In der Wäscherei bekommt sie eine Kochuniform gereicht. Es duftet nach frischer Wäsche, Decken, Laken und Bettbezüge türmen sich in den Regalen. Nur Augenblicke später hat sich die Schülerin in eine Hotelangestellte verwandelt. Mit dem weissen Hemd, der Schürze und dem schwarzen Hütchen ist sie kaum mehr von den anderen zu unterscheiden. «The Dolder Grand», steht in gestickter Schnörkelschrift auf ihrem Ärmel.

Jetzt, in der Küche, ist sie mitten im Alltag der Hotelgastronomie angekommen. Sie wägt die vier Kilogramm rohes Fleisch in 25-Gramm-Portionen ab und legt die kleinen Häufchen auf ein silbriges Tablett. Das Menu fürs Mittagsbankett ist auf einem Zettel an die Wand gepinnt. Neben dem Rindstatar mit confiertem Eigelb und Brotchip stehen ein Papayasalat mit Crevetten und Chili sowie ein Lachscarpaccio mit Limettencrème, Gurke und Kräutern darauf.

Noa füllt ein Tablett nach dem anderen mit den Tatarportionen. Der stellvertretende Küchenchef schaut ihr über die Schulter. «Bald hast du es geschafft», sagt er und macht ihr Mut. Es ist kurz vor zehn Uhr, langsam füllt sich die Küche mit Personal. «Ich hätte nicht gedacht, dass so viele Leute mitarbeiten», sagt Noa und blickt auf die Uhr. «Es ist ziemlich anstrengend.» Der Koch neben ihr stimmt ihr zu: «Das erste halbe Jahr ist hart», sagt er. «Wenn man den ganzen Tag steht, geht’s ins Kreuz.»

Nachdem die letzte Tatarportion geformt und auf einem ovalen Tellerchen angerichtet ist, führt er Noa durch die Katakomben des Hotels. «Autobahn» nennt der Koch den unterirdischen Gang, der alle Teile des Gebäudekomplexes verbindet. Der Flur führt vorbei an den Kühlräumen mit Milchprodukten, Gemüse und Fleisch, der Spülküche und dem Rotweinlager. «Wir sind besser ausgerüstet als manch kleiner Supermarkt», sagt der Koch. Pro Woche würden 720 Liter Milch oder rund 60 Liter hausgemachte Salatsauce verbraucht. Alle drei Tage komme eine Lieferung mit mehr als 1000 Eiern.

Unter der imposanten Kuppel des sogenannten Ballroom bleibt Noa stehen. Hier wird das grosse Bankett stattfinden. Staunend blickt die 13-Jährige in den Saal mit dem runden Deckengewölbe, den weissen Tischdecken und dem edlen Besteck, wo kurze Zeit später ihr Tatar serviert wird.

Gemma und die filmreife Intensivstation
Achtsam legt Gemma zwei Finger auf die Pulsadern der Lernenden. Mit dem Stethoskop in den Ohren misst sie zuerst den Puls und dann den Blutdruck der jungen Frau – eine Übung, die zur Grundausbildung als Fachfrau Gesundheit zählt. Die 14-Jährige befindet sich mitten im zweiten Tag der zweitägigen Schnupperlehre im Spital Zollikerberg. An der Seite der zwei Jahre älteren Lehrtochter hat sie bereits viel erlebt.

«Die verkabelten Patienten auf der Intensivstation waren krass», erzählt sie. «Das habe ich sonst nur in Filmen gesehen.» Abschrecken lässt sich Gemma davon aber nicht – im Gegenteil: Ein Mann sei gerade operiert worden. Während ihm seine Medikamente gereicht worden seien, habe er seine ganze Krankheitsgeschichte erzählt. «Das war megaspannend», sagt die Schülerin. Im Vornherein habe sie nicht gedacht, dass sie so viele Sachen machen dürfe, sagt die Schülerin mit leuchtenden Augen. Als sie mithelfen durfte, eine ältere Dame zu waschen, habe sie aber schon etwas Angst gehabt, etwas falsch zu machen.

Gemeinsam streifen die zwei Jugendlichen durch die Flure des Spitals. Die Lehrtochter bewegt sich zielsicher von Tür zu Tür und grüsst die Patienten und die Mitarbeiter. Sie ist im ersten Lehrjahr und nur zwei Jahre älter als Gemma. Doch die Handgriffe und Arbeitsschritte zeugen bereits von Routine. Im Materialraum beladen die beiden einen kleinen Wagen mit Desinfektionsmittel, Handschuhen, Tupfern, Verbänden, Tüchern und Pflastern. Sie gehen von Raum zu Raum und füllen in den Schubladen die Bestände wieder auf. «Grüezi», sagt Gemma fröhlich, als sie ins Zimmer einer Patientin tritt.

Am Nachmittag findet im Sitzungszimmer der Station für innere Medizin der sogenannte Rapport statt, an dem wichtige Informationen ausgetauscht werden. Der Stationsleiter führt die Sitzung; das Pflegepersonal sitzt und steht im Halbkreis um ihn herum. Es ist eine Runde von Erwachsenen in weissen Kitteln. Gemma fällt darin gar nicht mehr auf.

«Ich habe megaviel gelernt», sagt Gemma kurz vor Feierabend. «Ich habe das Gefühl, als würde ich hier arbeiten.» Die zwei Tage seien streng gewesen, erzählt sie. «Als ich gestern Abend zu Hause war, bin ich grad eingeschlafen.» Dafür habe sie einen besseren Einblick in den Beruf bekommen als je zuvor.

Zwar wisse sie noch nicht, was für einen Beruf sie später erlernen wolle. Aber eines stehe für sie schon fest: «Ich kann nicht den ganzen Tag in einem Büro sitzen. Ich will mit Menschen und nicht mit Computern zu tun haben.» Nur etwas hat Gemma bei der Schnupperlehre im Spital vermisst: «Ich hätte gerne noch ein Baby gesehen.»

Tim und das Versprechen des Telekomriesen
Auf der vierspurigen Strasse wälzt sich der Berufsverkehr in die Innenstadt. Frauen und Männer in Anzügen schreiten über die Trottoirs von Zürich-West. In den Händen halten sie Aktentaschen oder Kaffeebecher und verschwinden in den Türen der Bürokomplexe. Hinter der Glasfassade eines modernen Gebäudes sitzt der 14-jährige Tim in einem Sitzungszimmer und schaut gebannt auf einen riesigen Bildschirm. Darauf läuft ein Imagefilm. Die Begrüssung ist ein Versprechen: «Hey du, hier kommt deine Zukunft!»

Der Sekundarschüler Tim hat sich bei Swisscom um eine Schnupperlehre als Mediamatiker beworben. Nun sitzt er mit einem Lehrling und einem Lernbegleiter des Telekomanbieters an einem langen Tisch. Der Schüler trägt Turnschuhe mit Karomuster, ein weisser Hemdkragen blitzt unter dem schwarzen Sweatshirt hervor. Gespannt hört er den beiden zu.

«Bei Swisscom reden wir nicht mehr von Schnuppern, sondern von
Erlebnistagen», sagt der Lernbegleiter. Er ist den Umgang mit Jugendlichen gewohnt. Selber betreut er derzeit 42 Lernende, mit denen er verschiedene Kundenprojekte realisiert. Auf seinem Notebook kleben bunte Sticker: «No bla, just do», «I am the CEO of my idea», «get shit done», steht darauf. Die Lehrlinge haben sie gestaltet und auf seinen Computer geklebt.

Seit einigen Jahren wählen Lernende beim grössten ICT-Unternehmen der Schweiz selbständig mehrmonatige Projekteinsätze aus und entscheiden so weitgehend selber, wie sie ihre Lehre gestalten. «Das Wichtigste ist, dass du lernen willst und motiviert bist», sagt der Lernbegleiter. «Du übernimmst Eigeninitiative und gestaltest mit der Wahl deiner Projekte, wie du lernst und arbeitest.» Er blendet auf dem Bildschirm den schematischen Ablauf einer Lehre ein. «Hier», sagt er und deutet auf die Phase des Lehrabschlusses, «hier wollen wir Champions haben.»

Gemeinsam mit dem Lehrling verlässt Tim das Sitzungszimmer. «Dann zeige ich dir mal, was ein richtiger Mediamatiker so macht», sagt dieser. An seinem Arbeitsplatz präsentiert der Lehrling Tim einige seiner Arbeiten. Es sind kleine Illustrationen, eine Einladung fürs Weihnachtsessen, Flyer für Veranstaltungen oder ein animiertes Video.

Schliesslich erhält Tim einen Auftrag. «Erstelle dein eigenes Plakat», heisst es auf dem Arbeitsplatz. Als Vorlage dient ein Song oder ein Album seiner Lieblingsband, das Plakat soll die Stimmung und den Stil widerspiegeln. Tim scrollt durch Schriftarten, schaut sich einige Musikplakate an, zeichnet auf Papier einen ersten Entwurf und erstellt schliesslich mit der Hilfe des Lehrlings sein eigenes Plakat am Computer. Am Ende ist er begeistert: «Ich bekomme grad Lust, selber Sachen zu gestalten.» 

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