15. April 2019

Kommt die Berufswahl zu früh?


In der Schweiz entscheiden sich Schülerinnen und Schüler schon relativ früh für ihre berufliche Zukunft. Zu früh, oder gerade früh genug? Die Meinungen darüber gehen immer mehr auseinander.
Sind 14-Jährige alt genug für die Berufswahl?, swissinfo, 15.4. von Isobel Leybold-Johnson


Jugendliche in der Schweiz sind zwischen 15 und 16 Jahre alt, wenn sie die obligatorische Schule abschliessen. Doch ihre Karriereplanung müssen sie bereits zwei Jahre vorher angehen. Der Entscheid, welchen beruflichen Weg man einschlagen will, sollte mit etwa 14 Jahren fallen – und das kann ein sehr schwieriger Prozess sein.
Rund 20% der Jugendlichen entscheiden sich für das Gymnasium, das ihnen später die Türen zu einem Universitätsstudium öffnet. Mindestens zwei Drittel entscheiden sich für eine Berufslehre. Im so genannten dualen Bildungssystem, das eine praktische, bezahlte Ausbildung in einem Betrieb mit dem Besuch einer Gewerbeschule vereint, kann aus über 250 Berufen ausgewählt werden.
Mehrere Jugendliche, mit denen swissinfo.ch sprechen konnte, betonen aber, es sei schwierig, mit 14 Jahren eine klare Vorstellung davon zu haben, was genau man später einmal werden wolle.
Russische Expats sagen, sie seien es aufgrund der wirtschaftlichen Unsicherheit gewohnt, öfters den Beruf zu wechseln. Deshalb wünschten sie sich mehr Flexibilität für ihre Kinder, wenn es um die Karrieremöglichkeiten gehe, sagt eine Mutter gegenüber swissinfo.ch.
In den USA und in Grossbritannien wird mehr Wert darauf gelegt, an die Universität zu gehen und sich dort für einen Beruf zu entscheiden, wie Eltern aus diesen Ländern sagen. Eine Berufslehre sehen sie als weniger sinnvoll an, weil eine solche in ihren Herkunftsländern weniger bekannt sei.
Auch für einige Schweizerinnen und Schweizer ist ein Entscheid mit 14 Jahren zu früh. Kürzlich schlug der Kanton Nidwaldenexterner Link vor, dass ein Teil seiner Grundschüler ein Jahr später in die Schule eintreten soll (der Stichtag für den Schuleintritt ist derzeit beim sechsten Geburtstag vor dem 30. Juni).

Immer eine Herausforderung

Jürg Schweriexterner Link, Professor am Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildungexterner Link (EHB), weist darauf hin, dass die Berufswahl immer eine Herausforderung sei, egal ob im Alter von 15 oder von 25 Jahren. "Aus der Forschung wissen wir, dass junge Menschen eine Vorstellung davon haben, was auf dem Arbeitsmarkt vor sich geht, dass sie aber auch sehr unsicher darüber sind, was sie tun sollen."
Zudem seien junge Menschen im Alter von 14 oder 15 Jahren noch daran, ihre Identität zu finden, was den Entscheid eher schwieriger mache.
Schliesslich gebe es zwei Optionen, und jede habe ihren eigenen Zielkonflikt, sagt Schweri. Schülerinnen und Schüler könnten entweder in der Schule bleiben und ihren Karriereentscheid verzögern, dafür aber das echte Leben nicht kennenlernen. Oder sie könnten schon früh wichtige Entscheide treffen, die Welt ausserhalb des Schulzimmers kennenlernen und hätten die Möglichkeit, später den Kurs zu ändern, was im Schweizer System möglich sei.
"Lehrlinge werden schneller erwachsen als jene, die weiter zur Schule gehen, weil sie mehr neue Erfahrungen machen und Interaktionen erleben, die ihnen helfen, über ihre künftige Karriere zu entscheiden", sagt Schweri.

Elterlicher Druck

"Eltern haben oft sehr genaue Vorstellungen, was aus ihren Kindern werden soll", sagt Daniel Reumiller, Leiter der Berufsberatungs- und Informationszentrenexterner Link (BIZ) des Kantons Bern. Diese helfen Schulen dabei, ihre Schülerinnen und Schüler bei der Berufswahl zu unterstützen.
Eltern können ihre Kinder unter Druck setzen, das Gymnasium zu besuchen. Im Kanton Zürich wurde kürzlich die berühmt-berüchtigt strenge Aufnahmeprüfungexterner Link für das so genannte Langzeit-Gymnasium durchgeführt, das ab dem Alter von 12 Jahren beginnt. In einigen Teilen der Stadt, besonders in solchen mit einer hohen Anzahl von Akademikern und Expats, nehme jeweils fast die halbe Schulklasse an der Eintrittsprüfung teil, hiess es.
In der Schweiz hat die Anzahl der jungen Menschen, die eine Maturitäts- oder eine Fachmaturitäts-Ausbildung belegen, während der letzten zwei Jahrzehnte von 86'000 (Schuljahr 2000/01) auf 110'000 (2017/18) zugenommen.
"Wir versuchen, besonders im Alter von 14 oder 15 Jahren, den Kindern zu zeigen, dass es über 250 Berufe gibt, aus denen sie auswählen können; also nicht nur das, was ihnen ihre Eltern, Kollegen oder sogar ihr grosser Bruder gesagt haben", sagt Reumiller, der auch die Schweizerische Berufsbildungsämter-Konferenzexterner Link (SBBK) präsidiert.
Im Normalfall würden die Eltern ebenfalls zu solchen Terminen beigezogen, so dass die Beratenden den familiären Kontext sähen und eine gute Kommunikation gewährleisten könnten. Oft seien Geschlechterstereotypen ein Thema, weil viele Schülerinnen und Schüler nicht gerne auffallen möchten, indem sie sich für geschlechtsatypische Berufe entscheiden, so Reumiller.

Durchlässiges System


Für Reumiller ist in der Schweiz ein Karriere-Entscheid in jungen Jahren wegen des einzigartigen Bildungssystems des Landes gut möglich. "Es ist früh, aber ich denke, es ist nicht zu früh. Wenn man junge Leute [nach ihrem Karriere-Entscheid] fragt, nachdem sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben, sagen die meisten von ihnen, dass es eine gute Wahl gewesen sei."
Er weist darauf hin, dass jene, die sich mit einem Entscheid schwertun, von so genannten "Überbrückungs-Lösungen" profitieren können – beispielsweise ein Zusatzjahr an der Schule oder ein Jahr im Ausland, um Sprachen zu lernen.
Und Schweri vom EHB betont, die nach einer Lehre erworbene Qualifikation sei auf dem Arbeitsmarkt gut anerkannt.
Das Schweizer Bildungssystem ist durchlässigexterner Link und ermöglicht jungen Menschen den Weg von der Lehre zur Universität, wenn sie sich für ein weiterführendes Studium entscheiden. Laut Schweri ist die Angst vor einem frühzeitigen beruflichen Entscheid oft auf die Angst zurückzuführen, eine Berufsbildung gewählt zu haben, aber später an der Universität studieren zu wollen.
Es sei ein bisschen schwieriger, sich seitwärts zu bewegen, also von einer Berufslehre in die andere zu wechseln, sagt Reumiller. Er schlägt vor, dass die horizontale Durchlässigkeit zwischen den Berufen in der Schweiz "erhöht werden könnte". Er erwartet aber, dass dies in Zukunft dank einigen laufenden Projekten einfacher wird.


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