Iwan* ist zu normal für die Sonderschule und zu anders für
die Regelschule. Der Alltag mit einem autistischen Zehnjährigen, der nicht ins
System passt.
In seiner eigenen Welt, Beobachter, 1.4. von Birthe Homann
Hueresiech, altes bleiches Huhn, verrostete Giesskanne, verhudlete Sack,
dumme Sau, Gopferdami, Arschloch, Huerearschloch» - wie eine Gewehrsalve
donnern die Schimpfwörter aus Iwans* Mund. Immer in der gleichen Reihenfolge,
dreissig Minuten lang. Der zehnjährige Bub kann nicht anders. Jeden Morgen nach
dem Aufwachen schreit er die Kraftausdrücke hinaus. Und jeweils dann, wenn er
sich unter Druck fühlt. Das passiert oft, manchmal zwanzigmal am Tag.
Iwan lebt mit der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung und ADHS. Der Viertklässler hat eine besonders starke
Autismus-Form, seine Intelligenz ist aber normal, er hat keine geistige
Behinderung. Deshalb kann er keine Sonderschule besuchen, sondern muss in die
Regelschule. Man sieht ihm seine Einschränkungen nicht an, Iwan ist ein
hübscher Junge mit einem spitzbübischen Lächeln – und manchmal verstörendem
Verhalten. «Es wäre leichter, man sähe ihm an, was ihm fehlt», sagt seine
Mutter Anita Imhof*.
Kleinste Abweichungen lösen
enormen Stress aus
Die Beeinträchtigungen im Alltag der Familie aus dem Bernbiet sind
gross: Iwan geht nur zu Hause auf die Toilette, fürs grosse Geschäft zieht er
sich immer aus, bis er nackt ist. Wenn ein Ausflug zu lange dauert, macht er
sich nass, auch eingekotet war er schon öfters. Er schläft im Bett der Eltern,
kann nicht allein einschlafen, nicht durchschlafen und generell nicht allein
sein. Iwan isst nur, was er kennt. Deshalb gibt es oft Omeletten mit Nutella
zum Frühstück, zum Mittagessen, zum Zvieri und zum Abendessen. Iwan trägt nur
seine blauen Arbeiterhosen mit Seitentaschen, er hat mehrere identische im
Schrank. Das Ankleiden ist täglich ein Kraftakt.
Läuft etwas schief, vergisst er das nie. Im Kindergarten hatte er einmal
Mühe, aus seinen Regenhosen rauszukommen. Seither hat er nie mehr Regenhosen
angezogen, auch wenn es wie aus Kübeln schüttete. So ist es mit allen Dingen.
Kleinste Abweichungen von der Regel lösen bei ihm enormen Stress aus.
Wenn das Strandtuch am Badesee am ersten Tag an einen bestimmten Ort gelegt
wurde, muss er danach die ganze Saison dort liegen, sonst flippt der
Zehnjährige aus. Schreit, schlägt, attackiert sich und andere. Eine neue
Baustelle auf dem Schulweg kann zur Folge haben, dass er den Schulbesuch
verweigert.
Stundenlang Schnee schaufeln
Seine Mutter, gelernte Kleinkinderzieherin, musste ihren Job aufgeben,
um sich ganz um Iwan kümmern zu können. Auch seine zwei jüngeren Geschwister
sind gefordert, ebenso Vater Michael*, der Vollzeit als Zimmermann arbeitet.
Zur Diagnose kam es nur dank der Hartnäckigkeit der
35-jährigen Mutter, die schon lange gemerkt hatte, dass ihr Sohn anders war,
nur glaubte ihr niemand. Wenn er wieder tobte und nicht machte, was er sollte,
warf man ihr mangelnde Erziehungskompetenz vor. Ein Kind brauche Konsequenzen,
dann klappe es bestimmt, hiess es dann jeweils. «Seit die Diagnose steht, muss ich
mich nicht mehr bei Bekannten und Verwandten rechtfertigen und mir Vorwürfe
anhören. Auch die Schule nimmt mich ernster», so Imhof.
Der zehnjährige Iwan geht nur montags, mittwochs und donnerstags von
8.30 Uhr bis 10 Uhr zur Schule. Einzelunterricht bei
einer Heilpädagogin mit kurzem Besuch der Klasse. Mehr schafft er nicht. Danach
ist er randvoll mit Eindrücken und so gereizt, dass er sich an den Haaren
reisst, im Mund «herumpfuret» oder flucht – Zeit für das «Resetten», wie es
seine Eltern nennen. Zeit für monotone Abläufe. Iwan kann stundenlang mit der
Schere den Rasen schneiden, stundenlang Schnee schaufeln oder mit Kerzenwachs
auf dem Küchentisch rumbasteln. Oder er kümmert sich um seine zwölf Kaninchen
draussen im Stall neben dem Haus. Aber nur in Begleitung der Eltern oder der
Schwester.
Integration kaum möglich
Für Iwan ist es eine Leistung, dass er überhaupt in die Schule geht.
Dass er lesen und schreiben gelernt hat. «Er hat eigentlich grosses Potenzial»,
sagt seine Heilpädagogin. Wenn man ihn bei seinen Lieblingsthemen abholen
könne, komme viel, zum Beispiel beim Thema Natur. «Er ist sehr aufgeweckt, aber
sein Verhalten oft nicht altersentsprechend», so die Fachfrau. Einen Fall wie
ihn habe sie noch nie erlebt. Alles was neu oder anders sei, mache ihm sehr
Mühe. «Seine Eltern unterstützen ihn grossartig, machen mehr, als man sich
vorstellen kann. Ein Glück für ihn, dass er so ein Umfeld hat», ergänzt sie.
Iwan liebt Schnee und Eis. Im Sommer freut er sich jeweils schon auf den
Winter. Er möchte Pistenbully-Fahrer werden. Er weiss alles rund ums Wetter.
Auch der Garten, seine Kaninchen oder das Thema Energie fesseln ihn. Ebenso die
Planeten und das Weltall. Für die Schule reicht das aber nicht. Im Deutsch ist
er auf dem Stand eines Zweitklässlers. «Die Integration hat Grenzen», meint
seine Heilpädagogin. Die Ansprüche der Schule
seien mit Iwans Fähigkeiten nicht vereinbar, «da gibt es
eine grosse Diskrepanz».
Sonderschulung wäre teurer
Wie es in der Oberstufe weitergehen soll, steht in den Sternen. «Iwan
ist grossartig, deshalb kämpfe ich auch so für ihn», sagt seine Mutter. Sie
frage sich aber schon, warum ihr Kind keinen Sonderschulstatus bekomme. Weil er
keine geistige Beeinträchtigung hat, heisst es von den zuständigen Stellen. Es
spielen auch die Kosten eine Rolle, eine Sonderbeschulung ist viel teurer als
der Regelunterricht.
Wie wichtig ein gutes Schulumfeld ist, weiss Psychologe Matthias Huber von der
Autismusfachstelle der Uniklinik Bern ganz genau. Huber ist selber
Asperger-Autist und berät Kinder und Jugendliche mit Autismus. «Es geht aus
meiner Sicht nicht darum, ein Kind integrierbar zu machen, sondern darum, dass
sich auch das Umfeld verändern und anpassen muss, erst dann bewegen wir uns im
Bereich der Inklusion, was sinnvoll wäre», so der Experte. Nur Schulen, die
kreativ und flexibel seien, kämen auch mit Kindern wie Iwan zurecht.
Versuchen autistisch zu denken
Wenn ein Mitschüler Iwan fragt, ob er mit ihm abmachen wolle, antwortet
er: warum? Er versteht den Sinn der Frage nicht. «Ich bin seine Übersetzerin»,
sagt seine Mutter. Sie versuche, sich in seine Welt einzufühlen, autistisch zu
denken und zu verstehen, warum er so oder so reagiere. Das klappe oft ganz gut,
manchmal aber auch nicht. Dann wird Iwan aggressiv und ist kaum zu beruhigen.
Wie an seinem ersten Schultag. «Mit ziehen, stossen, tragen, schleifen, mit
aller Kraft brachte ich ihn endlich in die Schule», erinnert sich Anita Imhof.
Er schrie und tobte den ganzen Tag, auch im Lauf der Zeit wurde es nicht viel
besser. Zu Hause musste die Familie dann seine Gewaltausbrüche ertragen, einmal
demolierte er den Backofen. «Wir müssen ausbaden, dass er ins Schulsystem
gezwängt wird», sagt Imhof. Sie fühle sich oft sehr allein gelassen.
Die Stadt Zürich hat kürzlich die Förderung von autistischen Kindern in
den Schulen gekappt: künftig bekommen nur noch autistische Kinder, die auch
eine geistige Behinderung haben, Unterstützung durch Spezialisten der
Heilpädagogischen Schule – alle anderen gehen leer aus. «Die Gefahr besteht,
dass so autistische Kinder zwischen Stuhl und Bank fallen», sagt Ronnie Gundelfinger,
Leiter der Autismus-Stelle an der Zürcher Universitätsklinik für Kinder- und
Jugendpsychiatrie. Leider sieht es auch in vielen anderen Gemeinden und
Kantonen nicht besser aus.
* Namen geändert
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