2. April 2019

Autismus: Wenn kleinste Abweichungen Stress auslösen


Iwan* ist zu normal für die Sonderschule und zu anders für die Regelschule. Der Alltag mit einem autistischen Zehnjährigen, der nicht ins System passt.
In seiner eigenen Welt, Beobachter, 1.4. von Birthe Homann


Hueresiech, altes bleiches Huhn, verrostete Giesskanne, verhudlete Sack, dumme Sau, Gopferdami, Arschloch, Huerearschloch» - wie eine Gewehrsalve donnern die Schimpfwörter aus Iwans* Mund. Immer in der gleichen Reihenfolge, dreissig Minuten lang. Der zehnjährige Bub kann nicht anders. Jeden Morgen nach dem Aufwachen schreit er die Kraftausdrücke hinaus. Und jeweils dann, wenn er sich unter Druck fühlt. Das passiert oft, manchmal zwanzigmal am Tag.

Iwan lebt mit der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung und ADHS. Der Viertklässler hat eine besonders starke Autismus-Form, seine Intelligenz ist aber normal, er hat keine geistige Behinderung. Deshalb kann er keine Sonderschule besuchen, sondern muss in die Regelschule. Man sieht ihm seine Einschränkungen nicht an, Iwan ist ein hübscher Junge mit einem spitzbübischen Lächeln – und manchmal verstörendem Verhalten. «Es wäre leichter, man sähe ihm an, was ihm fehlt», sagt seine Mutter Anita Imhof*.

Kleinste Abweichungen lösen enormen Stress aus
Die Beeinträchtigungen im Alltag der Familie aus dem Bernbiet sind gross: Iwan geht nur zu Hause auf die Toilette, fürs grosse Geschäft zieht er sich immer aus, bis er nackt ist. Wenn ein Ausflug zu lange dauert, macht er sich nass, auch eingekotet war er schon öfters. Er schläft im Bett der Eltern, kann nicht allein einschlafen, nicht durchschlafen und generell nicht allein sein. Iwan isst nur, was er kennt. Deshalb gibt es oft Omeletten mit Nutella zum Frühstück, zum Mittagessen, zum Zvieri und zum Abendessen. Iwan trägt nur seine blauen Arbeiterhosen mit Seitentaschen, er hat mehrere identische im Schrank. Das Ankleiden ist täglich ein Kraftakt.

Läuft etwas schief, vergisst er das nie. Im Kindergarten hatte er einmal Mühe, aus seinen Regenhosen rauszukommen. Seither hat er nie mehr Regenhosen angezogen, auch wenn es wie aus Kübeln schüttete. So ist es mit allen Dingen. Kleinste Abweichungen von der Regel lösen bei ihm enormen Stress aus. Wenn das Strandtuch am Badesee am ersten Tag an einen bestimmten Ort gelegt wurde, muss er danach die ganze Saison dort liegen, sonst flippt der Zehnjährige aus. Schreit, schlägt, attackiert sich und andere. Eine neue Baustelle auf dem Schulweg kann zur Folge haben, dass er den Schulbesuch verweigert.

Stundenlang Schnee schaufeln
Seine Mutter, gelernte Kleinkinderzieherin, musste ihren Job aufgeben, um sich ganz um Iwan kümmern zu können. Auch seine zwei jüngeren Geschwister sind gefordert, ebenso Vater Michael*, der Vollzeit als Zimmermann arbeitet. Zur Diagnose kam es nur dank der Hartnäckigkeit der 35-jährigen Mutter, die schon lange gemerkt hatte, dass ihr Sohn anders war, nur glaubte ihr niemand. Wenn er wieder tobte und nicht machte, was er sollte, warf man ihr mangelnde Erziehungskompetenz vor. Ein Kind brauche Konsequenzen, dann klappe es bestimmt, hiess es dann jeweils. «Seit die Diagnose steht, muss ich mich nicht mehr bei Bekannten und Verwandten rechtfertigen und mir Vorwürfe anhören. Auch die Schule nimmt mich ernster», so Imhof.

Der zehnjährige Iwan geht nur montags, mittwochs und donnerstags von 8.30 Uhr bis 10 Uhr zur Schule. Einzelunterricht bei einer Heilpädagogin mit kurzem Besuch der Klasse. Mehr schafft er nicht. Danach ist er randvoll mit Eindrücken und so gereizt, dass er sich an den Haaren reisst, im Mund «herumpfuret» oder flucht – Zeit für das «Resetten», wie es seine Eltern nennen. Zeit für monotone Abläufe. Iwan kann stundenlang mit der Schere den Rasen schneiden, stundenlang Schnee schaufeln oder mit Kerzenwachs auf dem Küchentisch rumbasteln. Oder er kümmert sich um seine zwölf Kaninchen draussen im Stall neben dem Haus. Aber nur in Begleitung der Eltern oder der Schwester.

Integration kaum möglich
Für Iwan ist es eine Leistung, dass er überhaupt in die Schule geht. Dass er lesen und schreiben gelernt hat. «Er hat eigentlich grosses Potenzial», sagt seine Heilpädagogin. Wenn man ihn bei seinen Lieblingsthemen abholen könne, komme viel, zum Beispiel beim Thema Natur. «Er ist sehr aufgeweckt, aber sein Verhalten oft nicht altersentsprechend», so die Fachfrau. Einen Fall wie ihn habe sie noch nie erlebt. Alles was neu oder anders sei, mache ihm sehr Mühe. «Seine Eltern unterstützen ihn grossartig, machen mehr, als man sich vorstellen kann. Ein Glück für ihn, dass er so ein Umfeld hat», ergänzt sie.
Iwan liebt Schnee und Eis. Im Sommer freut er sich jeweils schon auf den Winter. Er möchte Pistenbully-Fahrer werden. Er weiss alles rund ums Wetter. Auch der Garten, seine Kaninchen oder das Thema Energie fesseln ihn. Ebenso die Planeten und das Weltall. Für die Schule reicht das aber nicht. Im Deutsch ist er auf dem Stand eines Zweitklässlers. «Die Integration hat Grenzen», meint seine Heilpädagogin. Die Ansprüche der Schule seien mit Iwans Fähigkeiten nicht vereinbar, «da gibt es eine grosse Diskrepanz».

Sonderschulung wäre teurer
Wie es in der Oberstufe weitergehen soll, steht in den Sternen. «Iwan ist grossartig, deshalb kämpfe ich auch so für ihn», sagt seine Mutter. Sie frage sich aber schon, warum ihr Kind keinen Sonderschulstatus bekomme. Weil er keine geistige Beeinträchtigung hat, heisst es von den zuständigen Stellen. Es spielen auch die Kosten eine Rolle, eine Sonderbeschulung ist viel teurer als der Regelunterricht.

Wie wichtig ein gutes Schulumfeld ist, weiss Psychologe Matthias Huber von der Autismusfachstelle der Uniklinik Bern ganz genau. Huber ist selber Asperger-Autist und berät Kinder und Jugendliche mit Autismus. «Es geht aus meiner Sicht nicht darum, ein Kind integrierbar zu machen, sondern darum, dass sich auch das Umfeld verändern und anpassen muss, erst dann bewegen wir uns im Bereich der Inklusion, was sinnvoll wäre», so der Experte. Nur Schulen, die kreativ und flexibel seien, kämen auch mit Kindern wie Iwan zurecht. 

Versuchen autistisch zu denken
Wenn ein Mitschüler Iwan fragt, ob er mit ihm abmachen wolle, antwortet er: warum? Er versteht den Sinn der Frage nicht. «Ich bin seine Übersetzerin», sagt seine Mutter. Sie versuche, sich in seine Welt einzufühlen, autistisch zu denken und zu verstehen, warum er so oder so reagiere. Das klappe oft ganz gut, manchmal aber auch nicht. Dann wird Iwan aggressiv und ist kaum zu beruhigen. Wie an seinem ersten Schultag. «Mit ziehen, stossen, tragen, schleifen, mit aller Kraft brachte ich ihn endlich in die Schule», erinnert sich Anita Imhof. Er schrie und tobte den ganzen Tag, auch im Lauf der Zeit wurde es nicht viel besser. Zu Hause musste die Familie dann seine Gewaltausbrüche ertragen, einmal demolierte er den Backofen. «Wir müssen ausbaden, dass er ins Schulsystem gezwängt wird», sagt Imhof. Sie fühle sich oft sehr allein gelassen.

Die Stadt Zürich hat kürzlich die Förderung von autistischen Kindern in den Schulen gekappt: künftig bekommen nur noch autistische Kinder, die auch eine geistige Behinderung haben, Unterstützung durch Spezialisten der Heilpädagogischen Schule – alle anderen gehen leer aus. «Die Gefahr besteht, dass so autistische Kinder zwischen Stuhl und Bank fallen», sagt Ronnie Gundelfinger, Leiter der Autismus-Stelle an der Zürcher Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Leider sieht es auch in vielen anderen Gemeinden und Kantonen nicht besser aus.
* Namen geändert


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