10. März 2019

Stadt Zürich streicht Begleitung von Autisten


Michael hatte Glück. Er durfte mit den Kindern aus dem Quartier in die Schule. Und das, obwohl er oft den Ausführungen des Lehrers nicht folgen kann, Anweisungen nicht auf Anhieb versteht, sich von anderen Kindern abgrenzt. Michael, der eigentlich anders heisst, hat die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung (ASS). «Er braucht Wiederholungen und ein überblickbares Umfeld», sagt sein Vater. Glück hatte Michael, weil er zusammen mit einem autistischen Mädchen in eine Klasse kam, wo sie von einer Fachperson der Heilpädagogischen Schule Zürich (HPS) begleitet wurden. Sie kümmerte sich 20 Lektionen pro Woche um die beiden.
Zürich kappt Förderung von Autisten, NZZaS, 10.3. von René Donzé
 

Sie waren unter den Letzten, die diese Förderung erhielten. «Die HPS ist ausgelastet und kann das Angebot für nichtbehinderte Schüler mit Diagnose ASS nicht mehr leisten», sagt Reto Zubler, vom Schulamt der Stadt Zürich. Förderung durch die Fachkräfte der HPS erhalten fortan nur noch Kinder mit ASS, bei denen auch eine geistige Behinderung besteht.
Dazu muss man wissen, dass die Bandbreite bei Autisten riesig ist: von solchen, die stark kognitiv eingeschränkt sind, bis hin zu hoch intelligenten, die in gewissen Gebieten Überdurchschnittliches leisten. Prominentes Beispiel ist die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg. Gemeinsam ist diesen Kindern, dass sie ihre Umwelt anders wahrnehmen, Mühe mit Veränderungen und im Umgang mit Mitmenschen haben. Die Forschung geht davon aus, dass 1Prozent aller Menschen ASS hat. In den letzten Jahren haben die Diagnosen in der Schweiz zugenommen.

Dass Zürich ausgerechnet hier Angebote abbaut, sorgt für Kritik. «Diese Kinder schwimmen nun völlig orientierungslos die ganze Woche in der Regelklasse mit - ohne je die Chance zu haben, ihr in vieler Hinsicht vorhandenes Potenzial zu entwickeln», sagt der pensionierte Primarlehrer Urs Egger, der einst Michael unterrichtet hatte.

Die Schulen versuchen jetzt, aus ihrem Budget für Fördermassnahmen Hilfe zu finanzieren. «Die Unterstützung muss richtiggehend zusammengestückelt werden», sagt eine Fachfrau. «Wir kämpfen, dass wir die Kinder in den Klassen halten können.» Ronnie Gundelfinger, Leiter der Autismus-Stelle an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, warnt: «Die Gefahr besteht, dass autistische Kinder zwischen Stuhl und Bank fallen.»

Das Zürcher Schulamt wehrt sich gegen die Vorwürfe: «Das Problem ist uns bekannt, und wir sind daran, Lösungen zu erarbeiten», sagt Zubler. Als Sofortmassnahme biete die HPS Weiterbildungen für Lehrer, Schulleiter und Heilpädagogen an. «Zudem erstellt die HPS im Auftrag der Stadt ein Konzept, wie Schulen im Umgang mit nichtbehinderten Kindern, die eine ASS haben, unterstützt werden können.» Dieses soll nächstes Jahr stehen, allfällige Mehrkosten werden ins Budget der Stadt aufgenommen.

Künftig wird die Heilpädagogische Schule den Stadtzürcher Regelschulen also nur noch beratend zur Seite stehen. Laut Gundelfinger reicht dies aber nicht in allen Fällen: «Je nach Schweregrad des Autismus braucht das Kind eine enge Begleitung, damit es sein Potenzial entfalten kann», sagt er. Das müsse nicht in jedem Fall eine Heilpädagogin sein. Manchmal genüge auch eine Klassenassistenz.

Auch anderenorts im Kanton sei die Betreuung nicht gewährleistet: «Die Situation ist unübersichtlich», kritisiert Gundelfinger. Jede Schule treffe ihre eigene Lösung. Dass eine gute Begleitung Gold wert ist, zeigt das Beispiel Michael: Er geht jetzt in eine private Sekundarschule, will eine Lehre als Bäcker oder Koch machen. In der Freizeit trifft er sich manchmal mit seinen ehemaligen Primarschulfreunden im Jugendtreff. «Ohne die integrative Schulung und Förderung hätte er wohl keine Freunde im Quartier», sagt der Vater.

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