Michael hatte Glück. Er durfte mit den
Kindern aus dem Quartier in die Schule. Und das, obwohl er oft den Ausführungen
des Lehrers nicht folgen kann, Anweisungen nicht auf Anhieb versteht, sich von
anderen Kindern abgrenzt. Michael, der eigentlich anders heisst, hat die
Diagnose Autismus-Spektrum-Störung (ASS). «Er braucht Wiederholungen und ein
überblickbares Umfeld», sagt sein Vater. Glück hatte Michael, weil er zusammen
mit einem autistischen Mädchen in eine Klasse kam, wo sie von einer Fachperson
der Heilpädagogischen Schule Zürich (HPS) begleitet wurden. Sie kümmerte sich
20 Lektionen pro Woche um die beiden.
Zürich kappt Förderung von Autisten, NZZaS, 10.3. von René Donzé
Sie waren unter den
Letzten, die diese Förderung erhielten. «Die HPS ist ausgelastet und kann das
Angebot für nichtbehinderte Schüler mit Diagnose ASS nicht mehr leisten», sagt
Reto Zubler, vom Schulamt der Stadt Zürich. Förderung durch die Fachkräfte der
HPS erhalten fortan nur noch Kinder mit ASS, bei denen auch eine geistige
Behinderung besteht.
Dazu muss man wissen, dass
die Bandbreite bei Autisten riesig ist: von solchen, die stark kognitiv
eingeschränkt sind, bis hin zu hoch intelligenten, die in gewissen Gebieten
Überdurchschnittliches leisten. Prominentes Beispiel ist die schwedische
Klimaaktivistin Greta Thunberg. Gemeinsam ist diesen Kindern, dass sie ihre
Umwelt anders wahrnehmen, Mühe mit Veränderungen und im Umgang mit Mitmenschen
haben. Die Forschung geht davon aus, dass 1Prozent aller Menschen ASS hat. In
den letzten Jahren haben die Diagnosen in der Schweiz zugenommen.
Dass Zürich ausgerechnet
hier Angebote abbaut, sorgt für Kritik. «Diese Kinder schwimmen nun völlig
orientierungslos die ganze Woche in der Regelklasse mit - ohne je die Chance zu
haben, ihr in vieler Hinsicht vorhandenes Potenzial zu entwickeln», sagt der
pensionierte Primarlehrer Urs Egger, der einst Michael unterrichtet hatte.
Die Schulen versuchen
jetzt, aus ihrem Budget für Fördermassnahmen Hilfe zu finanzieren. «Die
Unterstützung muss richtiggehend zusammengestückelt werden», sagt eine
Fachfrau. «Wir kämpfen, dass wir die Kinder in den Klassen halten können.»
Ronnie Gundelfinger, Leiter der Autismus-Stelle an der Universitätsklinik für
Kinder- und Jugendpsychiatrie, warnt: «Die Gefahr besteht, dass autistische
Kinder zwischen Stuhl und Bank fallen.»
Das Zürcher Schulamt wehrt
sich gegen die Vorwürfe: «Das Problem ist uns bekannt, und wir sind daran,
Lösungen zu erarbeiten», sagt Zubler. Als Sofortmassnahme biete die HPS
Weiterbildungen für Lehrer, Schulleiter und Heilpädagogen an. «Zudem erstellt
die HPS im Auftrag der Stadt ein Konzept, wie Schulen im Umgang mit
nichtbehinderten Kindern, die eine ASS haben, unterstützt werden können.»
Dieses soll nächstes Jahr stehen, allfällige Mehrkosten werden ins Budget der
Stadt aufgenommen.
Künftig wird die
Heilpädagogische Schule den Stadtzürcher Regelschulen also nur noch beratend
zur Seite stehen. Laut Gundelfinger reicht dies aber nicht in allen Fällen: «Je
nach Schweregrad des Autismus braucht das Kind eine enge Begleitung, damit es
sein Potenzial entfalten kann», sagt er. Das müsse nicht in jedem Fall eine
Heilpädagogin sein. Manchmal genüge auch eine Klassenassistenz.
Auch anderenorts im Kanton
sei die Betreuung nicht gewährleistet: «Die Situation ist unübersichtlich»,
kritisiert Gundelfinger. Jede Schule treffe ihre eigene Lösung. Dass eine gute
Begleitung Gold wert ist, zeigt das Beispiel Michael: Er geht jetzt in eine
private Sekundarschule, will eine Lehre als Bäcker oder Koch machen. In der
Freizeit trifft er sich manchmal mit seinen ehemaligen Primarschulfreunden im Jugendtreff.
«Ohne die integrative Schulung und Förderung hätte er wohl keine Freunde im
Quartier», sagt der Vater.
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