10. März 2019

Kampf gegen "Schreiben nach Gehör" erreicht Bern


Schon zwei Kantone haben die umstrittene Lernmethode «Schreiben nach Gehör» aus dem Verkehr gezogen. Ein SVP-Nationalrat setzt sich jetzt dafür ein, dass das System flächendeckend verboten wird.
Kampf gegen Schlechtschreiben, Zentralschweiz am Sonntag, 10.3. von Kari Kälin
 

«Die neue Schlechtschreibung»: So lautet das Fazit des deutschen Nachrichtenmagazins «Der Spiegel» über die Methode «Schreiben nach Gehör», die Jürgen Reichen (1939–2009) erfunden hat. Der Schweizer Reformpädagoge wollte den Kindern die Freude an der Sprache nicht durch lästige Korrekturen vergällen. Fehler machen ist erlaubt, bei Wortbildern wie «ICh SchBiLE FUSBAL MiTMEiNeM PAPA» schreitet niemand ein. Das anarchistische Schreiben wird gelernt mit einer Anlauttabelle, in der Bildchen Buchstaben illustrieren. Ein «A» steht zum Beispiel für Affe.

Zahlreiche Studien zeigen, dass Schüler, die mit der Reichen-Methode unterrichtet wurden, deutlich fehlerhafter schreiben als jene, die das Abc mit der klassischen Fibelmethode lernten. Besonders schlecht bekommt «Schreiben nach Gehör» Kindern, die aus fremdsprachigen Familien stammen und die sich in der Schule ohnehin schon schwertun.

«Schüler prägen sich falsche Wortbilder ein»
Wie viele Kinder hierzulande mit der Reichen-Methode schreiben lernen, ist unklar. Die Konferenz der Kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) verfügt über keine Daten. Im Lehrplan 21 ist die Lernmethode ausdrücklich aufgeführt. Und gemäss einem Bericht der Nidwaldner Bildungsdirektion setzten 2017 neun Kantone Lehrmittel ein, welche das Konzept «Schreiben nach Gehör» explizit im Titel führen.

Peter Keller, ausgebildeter Lehrer und Nidwaldner SVP-Nationalrat, möchte die «Schlechtschreibe»-Methode flächendeckend aus Schweizer Schulstuben verbannen. In einem Vorstoss, den er in den nächsten Tagen einreichen wird, fragt er den Bundesrat, welche Mittel er sehe, um die Methode ganz aus dem Lehrplan 21 zu entfernen. Keller spricht in seiner Interpellation von einer «nachweislich schädlichen Methode», die schwerwiegende Konsequenzen habe: «Die Schülerinnen und Schüler werden jahrelang nicht korrigiert und prägen sich falsche Wortbilder ein, die dann ab der dritten Klasse oder noch später wieder mühsam abtrainiert werden müssen.
Leider nicht immer mit Erfolg.» Die Reichen-Methode widerspreche jeder Alltagserfahrung: «Kein Sportlehrer würde seine Schützlinge jahrelang falsche Bewegungsabläufe einüben lassen und dann plötzlich beginnen, die falsch eingeübten Abläufe wieder zu korrigieren.»

In ihrer letzten Sitzung befasste sich die nationalrätliche Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) mit dem Thema «Schreiben nach Gehör». Keller scheiterte mit dem Antrag, Vertreter der Konferenz der Kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) einzuladen. Die Mehrheit der Kommission fand, die Bundespolitik solle sich nicht einmischen in kantonale Angelegenheiten und kein Methodenverbot erlassen.
Keller entgegnet, der Lehrplan 21 beziehe seine Legitimation aus dem Bildungsartikel in der Bundesverfassung. «Deshalb muss die Bundespolitik Verantwortung übernehmen und einschreiten, wenn der Lehrplan 21 Methoden aufführt, die zentrale Fähigkeiten wie Schreiben und Lesen völlig ungenügend vermitteln.» Mangelnde Rechtschreibkenntnisse würden die Berufschancen mindern. Das bekomme auch der Bund zu spüren, der dann später aufwendige Programme zur Weiterbildung, der beruflichen Integration oder zur Bekämpfung des Illettrismus finanziere.

Hans-Ulrich Bigler, Zürcher FDP-Nationalrat und Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbandes, unterstützt die Stossrichtung von Kellers Vorstoss. «Ich höre aus vielen Lehrbetrieben immer wieder die Kritik, wonach die Lernenden bei Lehreintritt – pointiert formuliert – nicht mehr lesen, rechnen und schreiben könnten», sagt er. Damit stelle sich die Frage, inwiefern die Volksschule ihrem Auftrag, die Schüler auf das Berufsleben vorzubereiten, noch nachkomme.

Der Berner SP-Nationalrat Adrian Wüthrich hingegen findet, die Politik solle nicht gewisse Methoden verbieten. «Schreiben nach Gehör» werde nicht alleine angewendet und könne den Start ins Deutschlernen erleichtern. «Ich beobachte bei meinem Sohn und bei meinem Göttibub, dass sie viel schneller mit dem Schreiben von Texten beginnen als wir damals», sagt der 38-jährige Bildungspolitiker. Seit Jahrzehnten mit Bildungsthemen befasst sich Carl Bossard. In der letzten WBK-Sitzung zeigte der Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug den nationalrätlichen Bildungspolitikern die Nachteile von «Schreiben nach Gehör» auf.

Für Bossard handelt es sich nicht um eine didaktische Methode, «sondern um unterlassene Schreibhilfe». Gemäss der grossen «Bonner Studie» von 2018 zum Thema gibt es auch keine empirischen Anhaltspunkte, dass die Reichen-Methode stärker motiviert.

Die Kantone Nidwalden und Aargau haben Konsequenzen gezogen aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Nidwalden beschloss im letzten Herbst, «Schreiben nach Gehör» künftig explizit ab der 2. Primarklasse vom Unterricht auszuschliessen. Spätestens ab dann müssen Lehrer Rechtschreibfehler korrigieren.
Anfang März hat die Aargauer Regierung entschieden, das Lehrmittel «Lesen durch Schreiben» zu verbieten. In Deutschland haben der Stadtstaat Hamburg sowie die Bundesländer Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein «Schreiben nach Gehör» untersagt. Ab dem nächsten Schuljahr zieht Brandenburg nach. Der Deutsche Lehrerverband fordert sogar ein landesweites Verbot.

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