Schon zwei Kantone haben die umstrittene
Lernmethode «Schreiben nach Gehör» aus dem Verkehr gezogen. Ein SVP-Nationalrat
setzt sich jetzt dafür ein, dass das System flächendeckend verboten wird.
Kampf gegen Schlechtschreiben, Zentralschweiz am Sonntag, 10.3. von Kari Kälin
«Die neue Schlechtschreibung»: So lautet das Fazit
des deutschen Nachrichtenmagazins «Der Spiegel» über die Methode «Schreiben
nach Gehör», die Jürgen Reichen (1939–2009) erfunden hat. Der Schweizer
Reformpädagoge wollte den Kindern die Freude an der Sprache nicht durch lästige
Korrekturen vergällen. Fehler machen ist erlaubt, bei Wortbildern wie «ICh
SchBiLE FUSBAL MiTMEiNeM PAPA» schreitet niemand ein. Das anarchistische Schreiben
wird gelernt mit einer Anlauttabelle, in der Bildchen Buchstaben illustrieren.
Ein «A» steht zum Beispiel für Affe.
Zahlreiche Studien zeigen, dass Schüler, die mit
der Reichen-Methode unterrichtet wurden, deutlich fehlerhafter schreiben als
jene, die das Abc mit der klassischen Fibelmethode lernten. Besonders schlecht
bekommt «Schreiben nach Gehör» Kindern, die aus fremdsprachigen Familien
stammen und die sich in der Schule ohnehin schon schwertun.
«Schüler prägen sich falsche Wortbilder ein»
Wie viele Kinder hierzulande mit der
Reichen-Methode schreiben lernen, ist unklar. Die Konferenz der Kantonalen
Erziehungsdirektoren (EDK) verfügt über keine Daten. Im Lehrplan 21 ist die
Lernmethode ausdrücklich aufgeführt. Und gemäss einem Bericht der Nidwaldner
Bildungsdirektion setzten 2017 neun Kantone Lehrmittel ein, welche das Konzept
«Schreiben nach Gehör» explizit im Titel führen.
Peter Keller, ausgebildeter Lehrer und Nidwaldner
SVP-Nationalrat, möchte die «Schlechtschreibe»-Methode flächendeckend aus
Schweizer Schulstuben verbannen. In einem Vorstoss, den er in den nächsten
Tagen einreichen wird, fragt er den Bundesrat, welche Mittel er sehe, um die
Methode ganz aus dem Lehrplan 21 zu entfernen. Keller spricht in seiner
Interpellation von einer «nachweislich schädlichen Methode», die schwerwiegende
Konsequenzen habe: «Die Schülerinnen und Schüler werden jahrelang nicht korrigiert
und prägen sich falsche Wortbilder ein, die dann ab der dritten Klasse oder
noch später wieder mühsam abtrainiert werden müssen.
Leider nicht immer mit Erfolg.» Die Reichen-Methode
widerspreche jeder Alltagserfahrung: «Kein Sportlehrer würde seine Schützlinge
jahrelang falsche Bewegungsabläufe einüben lassen und dann plötzlich beginnen,
die falsch eingeübten Abläufe wieder zu korrigieren.»
In ihrer letzten Sitzung befasste sich die nationalrätliche Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) mit dem Thema «Schreiben nach Gehör». Keller scheiterte mit dem Antrag, Vertreter der Konferenz der Kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) einzuladen. Die Mehrheit der Kommission fand, die Bundespolitik solle sich nicht einmischen in kantonale Angelegenheiten und kein Methodenverbot erlassen.
Keller entgegnet, der Lehrplan 21 beziehe seine
Legitimation aus dem Bildungsartikel in der Bundesverfassung. «Deshalb muss die
Bundespolitik Verantwortung übernehmen und einschreiten, wenn der Lehrplan 21
Methoden aufführt, die zentrale Fähigkeiten wie Schreiben und Lesen völlig
ungenügend vermitteln.» Mangelnde Rechtschreibkenntnisse würden die
Berufschancen mindern. Das bekomme auch der Bund zu spüren, der dann später
aufwendige Programme zur Weiterbildung, der beruflichen Integration oder zur
Bekämpfung des Illettrismus finanziere.
Hans-Ulrich Bigler, Zürcher FDP-Nationalrat und
Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbandes, unterstützt die Stossrichtung
von Kellers Vorstoss. «Ich höre aus vielen Lehrbetrieben immer wieder die
Kritik, wonach die Lernenden bei Lehreintritt – pointiert formuliert – nicht
mehr lesen, rechnen und schreiben könnten», sagt er. Damit stelle sich die
Frage, inwiefern die Volksschule ihrem Auftrag, die Schüler auf das Berufsleben
vorzubereiten, noch nachkomme.
Der Berner SP-Nationalrat Adrian Wüthrich hingegen
findet, die Politik solle nicht gewisse Methoden verbieten. «Schreiben nach
Gehör» werde nicht alleine angewendet und könne den Start ins Deutschlernen
erleichtern. «Ich beobachte bei meinem Sohn und bei meinem Göttibub, dass sie
viel schneller mit dem Schreiben von Texten beginnen als wir damals», sagt der
38-jährige Bildungspolitiker. Seit Jahrzehnten mit Bildungsthemen befasst sich
Carl Bossard. In der letzten WBK-Sitzung zeigte der Gründungsrektor der
Pädagogischen Hochschule Zug den nationalrätlichen Bildungspolitikern die
Nachteile von «Schreiben nach Gehör» auf.
Für Bossard handelt es sich nicht um eine
didaktische Methode, «sondern um unterlassene Schreibhilfe». Gemäss der grossen
«Bonner Studie» von 2018 zum Thema gibt es auch keine empirischen
Anhaltspunkte, dass die Reichen-Methode stärker motiviert.
Die Kantone Nidwalden und Aargau haben Konsequenzen
gezogen aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Nidwalden beschloss im letzten
Herbst, «Schreiben nach Gehör» künftig explizit ab der 2. Primarklasse vom
Unterricht auszuschliessen. Spätestens ab dann müssen Lehrer Rechtschreibfehler
korrigieren.
Anfang März hat die Aargauer Regierung entschieden,
das Lehrmittel «Lesen durch Schreiben» zu verbieten. In Deutschland haben der
Stadtstaat Hamburg sowie die Bundesländer Baden-Württemberg und
Schleswig-Holstein «Schreiben nach Gehör» untersagt. Ab dem nächsten Schuljahr
zieht Brandenburg nach. Der Deutsche Lehrerverband fordert sogar ein
landesweites Verbot.
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