Im Kanton
St.Gallen stehen Sprachheilschüler auf einer Warteliste, obwohl es freie Plätze
gibt. Eine Gesetzesänderung soll das in Zukunft verhindern. Bildungschef Stefan
Kölliker beruft sich auf «Integration vor Separation» – und steht in der
Kritik.
"Bildungsdirektor auf dem Holzweg": SP-Kantonsrat verärgert wegen Debatte um Sprachheilschulen, St. Galler Tagblatt, 4.3. von Katharina Brenner
Mit der Warteliste für Sprachheilschüler soll künftig
Schluss sein. Eine entsprechende fraktionsübergreifende Motion wurde in der
Februarsession mit 84 Stimmen angenommen. Ein «überwältigendes Ergebnis», freut
sich der SP-Kantonsrat und Schulpräsident von Rorschach Guido Etterlin. Das
Gesetz muss nun angepasst werden, damit «der ausgewiesene Anspruch von Kindern
auf einen Platz in einer Sonderschule jederzeit gewährleistet ist».
Zwei Kinder aus Rorschach stehen aktuell
auf der Warteliste für die Sprachheilschule. «In diesem Jahr werden sich ihre
Probleme verfestigen», sagt Etterlin. 60 Kinder aus den Regionen Wil und
Rorschach wurden vergangenes Jahr an der Sprachheilschule St.Gallen angemeldet.
17 davon dürfen den Unterricht aber erst ab diesem Sommer besuchen. Und das,
obwohl Schulleiterin Susan Christen sagt:
«Wir haben dieses Schuljahr noch Platz
für weitere Kinder in einzelnen Klassen.»
Doch der Kanton legt die Platzzahl fest.
Gemäss kantonalem Sonderpädagogikkonzept sollen schulpflichtige Kinder mit
Behinderung vermehrt Regelschulen besuchen und dort sonderpädagogisch
unterstützt werden.
Überdurchschnittliche Quoten in Rorschach und Wil
Guido Etterlin warf dem Kanton im Sommer
vor, «auf Kosten von Kindern mit Sprachbehinderung» zu sparen. Der Unterricht
in der Sprachheilschule kostet 43000 Franken zuzüglich 5500 Franken für den
Transport pro Kind und Jahr. Davon zahlen die Schulträger 75 Prozent, der
Kanton 25 Prozent. Etterlin rechnet vor: bei 20 Kindern auf der Warteliste sind
das 250 000 Franken für den Kanton. «Was ist das schon bei einem Aufwand von
fünf Milliarden Franken?» Der St.Galler Bildungschef Stefan
Kölliker widersprach vehement: Es handle sich nicht um Sparmassnahmen.
Die Regierung setzt auf die Einhaltung
einer Sonderschulquote von 2,5 Prozent – auf 1000 Schüler kommen 25
Sonderschüler. Sie beruft sich dabei auf «langjährige Erfahrung im
interkantonalen Vergleich». Die Quote sei lediglich eine Orientierungs- und
Planungsgrösse, so Kölliker. Trotzdem lud die Regierung Schulträger, «die sich
deutlich über diesem Richtwert bewegen» dazu ein, «die Zuweisungspraxis zu
überprüfen». In ihrer Antwort auf eine Einfache Anfrage hob sie die
«überdurchschnittlichen Sonderschulquoten» der Regionen Rorschach mit 2,8
Prozent und Wil mit 2,9 Prozent hervor.
Mit der Gesetzesänderung verliert die
Quote an Bedeutung. Susan Christen begrüsst das: «Die Anzahl der Kinder mit
Behinderung lässt sich nicht über eine Quote steuern.» Manche müssten den
«Umweg über die Sonderschule», nehmen, bevor sie wieder eine Regelklasse
besuchen können. Eine umfassende Sprachbehinderung könne nicht mit einer
zusätzlichen Stunde Logopädie aufgefangen werden. Christen findet es «ganz
wichtig», dass der Schulpsychologische Dienst weiterhin das standardisierte
Abklärungsverfahren durchführt – «unabhängig von einer Quote».
Emotionale Debatte im Kantonsparlament
In der Februarsession führten die
Wartelisten zu einer emotionalen Debatte. Die Regierung wollte keine
Gesetzesänderung ausarbeiten, sondern lediglich einen Bericht über die
Umsetzung des Sonderpädagogik-Konzepts verfassen. Kölliker betonte, man habe
sich darin auf «Integration vor Separation» geeinigt. «Jetzt wollen Sie
Separation vor Integration.» Dabei funktioniere das Sonderpädagogik-Konzept
«ausgezeichnet – ausser in Rorschach und Wil». Diese Standorte würden sich
weigern, die nötigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um integrativ zu
beschulen.
Etterlin reagierte erzürnt und sagte, es
sei «eines Bildungschefs unwürdig», innovative Schulen, die sich um Integration
bemühen, «derart durch den Dreck zu ziehen». Kölliker meint im Nachhinein, es
sei nicht um die Gemeinden gegangen, sondern um das Einzugsgebiet der Regionalstellen
des Schulpsychologischen Dienstes Rorschach und Wil.
Bildungsdirektor mehrfach eingeladen
Etterlin versteht es nach wie vor als
Angriff auf seine Schulgemeinde. Er habe Kölliker mehrfach eingeladen, sich vor
Ort ein Bild zu machen. Der Bildungschef habe jedes Mal abgelehnt. Kölliker
sagt, er könne «aus Gründen der Fairness und Gleichbehandlung» nicht
Einladungen einzelner Schulpräsidenten folgen, die damit «ein politisches Ziel
verfolgen».
Noch etwas ärgert Etterlin: die
Regierung habe sich lobend über die rückläufige Zahl der Sprachheilschüler in
der Stadt St.Gallen geäussert. Eine Einfache Anfrage aus dem Stadtparlament im
Herbst ergab, dass die Sonderschulquote der Stadt 3,4 Prozent beträgt – höher
als die in Rorschach und Wil. Darauf angesprochen, sagt Kölliker: Die Stadt
St.Gallen habe die Sprachheilzuweisungen zugunsten von mehr Logopädie
gemässigt. Das sei «die relevante Aussage», unabhängig von der
Sonderschulquote, die von allen Sonderschularten abhänge.
Wiler Schulpräsidentin über Herausforderungen
Die Schulpräsidentin von Wil, Jutta
Röösli, hat die Debatte im Rat nicht mitverfolgt. Sie betont jedoch:
«Wir sind froh um jeden Schüler, der im
Regelsystem ist.»
Sie könne nur mutmassen, weshalb in Wil
verhältnismässig eher viele Kinder eine Sonderschule besuchen. «Wir haben
verschiedenste Herausforderungen in den Schulen mit beispielsweise 50 Prozent
fremdsprachigen Kindern und einem hohen Anteil an bildungsfernen Familien.»
Für Etterlin ist eine Korrelation
zwischen Sonderschulquote und Sozialhilfequote kein Zufall. Wer in einer
Landgemeinde ein gravierendes Problem habe, etwa Schulprobleme, stehe dort
«ziemlich bald am Pranger». Die Städte seien deshalb ein «beliebtes
Wegzugsziel». Und es sei naheliegend, dass Eltern «in der Nähe der Sonderschule
Wohnsitz nehmen», dann falle «die Reiserei» weg.
Lehrerinnen und Lehrer geraten an Grenzen
Susan Christen kennt die Schulgemeinden
Rorschach und Wil:
«Die Lehrpersonen machen alles, was nur
irgendwie geht, um Kinder in der Regelklasse zu halten.»
Doch irgendwann sei auch bei den
kompetentesten Lehrerinnen und Lehrern eine Grenze erreicht.
Das sieht auch Jens Jäger so. Der
FDP-Kantonsrat ist Primarlehrer in Wangs und hat in der Februarsession ein
beherztes Votum für die Gesetzesänderung abgegeben. Am Telefon erzählt er von
einem ehemaligen Schüler mit einer Sprachbehinderung:
«Er hatte sehr grosse Probleme mit der
Aussprache und mit Satzstellungen. Wir konnten das nicht mehr auffangen.»
Sprachbehinderungen haben viele Formen:
Manche Kinder haben Mühe, Wörter in einem Satz aneinanderzureihen, andere
verstehen nur einzelne Wörter in einem Satz und erschliessen sich den Sinn
selbst – häufig einen anderen als das Gesagte. Jens Jäger meint:
«Integration ist wichtig, aber sie hat
Grenzen.»
Regierung hat drei Jahre Zeit
Auch zwei Wochen nach der Session geht
Guido Etterlin mit Stefan Kölliker hart ins Gericht. Es sei an der Zeit, dass
der Bildungsdirektor einsehe, dass er mit seiner «extrem technokratischen
Denkweise auf dem Holzweg sei». Im «Elfenbeinturm an der Davidstrasse» gehe es
um Zahlen, dabei stehe die Zukunft von Kindern auf dem Spiel.
Unterstützer der Motion hoffen nun, dass
die Regierung die Gesetzesänderung rasch angeht. Welche Dringlichkeit misst ihr
der Bildungschef bei? Kölliker verweist auf das Geschäftsreglement des
Kantonsrats: Die Regierung habe drei Jahre Zeit, dem Kantonsrat Antrag zum
weiteren Vorgehen zufolge der Gutheissung der Motion zu stellen. «Diese Frist
wird sie einhalten.»
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