10. März 2019

Kritik an Kölliker


Im Kanton St.Gallen stehen Sprachheilschüler auf einer Warteliste, obwohl es freie Plätze gibt. Eine Gesetzesänderung soll das in Zukunft verhindern. Bildungschef Stefan Kölliker beruft sich auf «Integration vor Separation» – und steht in der Kritik.
"Bildungsdirektor auf dem Holzweg": SP-Kantonsrat verärgert wegen Debatte um Sprachheilschulen, St. Galler Tagblatt, 4.3. von Katharina Brenner
 

Mit der Warteliste für Sprachheilschüler soll künftig Schluss sein. Eine entsprechende fraktionsübergreifende Motion wurde in der Februarsession mit 84 Stimmen angenommen. Ein «überwältigendes Ergebnis», freut sich der SP-Kantonsrat und Schulpräsident von Rorschach Guido Etterlin. Das Gesetz muss nun angepasst werden, damit «der ausgewiesene Anspruch von Kindern auf einen Platz in einer Sonderschule jederzeit gewährleistet ist». 

Zwei Kinder aus Rorschach stehen aktuell auf der Warteliste für die Sprachheilschule. «In diesem Jahr werden sich ihre Probleme verfestigen», sagt Etterlin. 60 Kinder aus den Regionen Wil und Rorschach wurden vergangenes Jahr an der Sprachheilschule St.Gallen angemeldet. 17 davon dürfen den Unterricht aber erst ab diesem Sommer besuchen. Und das, obwohl Schulleiterin Susan Christen sagt:
«Wir haben dieses Schuljahr noch Platz für weitere Kinder in einzelnen Klassen.»
Doch der Kanton legt die Platzzahl fest. Gemäss kantonalem Sonderpädagogikkonzept sollen schulpflichtige Kinder mit Behinderung vermehrt Regelschulen besuchen und dort sonderpädagogisch unterstützt werden. 

Überdurchschnittliche Quoten in Rorschach und Wil

Guido Etterlin warf dem Kanton im Sommer vor, «auf Kosten von Kindern mit Sprachbehinderung» zu sparen. Der Unterricht in der Sprachheilschule kostet 43000 Franken zuzüglich 5500 Franken für den Transport pro Kind und Jahr. Davon zahlen die Schulträger 75 Prozent, der Kanton 25 Prozent. Etterlin rechnet vor: bei 20 Kindern auf der Warteliste sind das 250 000 Franken für den Kanton. «Was ist das schon bei einem Aufwand von fünf Milliarden Franken?» Der St.Galler Bildungschef Stefan Kölliker widersprach vehement: Es handle sich nicht um Sparmassnahmen. 

Die Regierung setzt auf die Einhaltung einer Sonderschulquote von 2,5 Prozent – auf 1000 Schüler kommen 25 Sonderschüler. Sie beruft sich dabei auf «langjährige Erfahrung im interkantonalen Vergleich». Die Quote sei lediglich eine Orientierungs- und Planungsgrösse, so Kölliker. Trotzdem lud die Regierung Schulträger, «die sich deutlich über diesem Richtwert bewegen» dazu ein, «die Zuweisungspraxis zu überprüfen». In ihrer Antwort auf eine Einfache Anfrage hob sie die «überdurchschnittlichen Sonderschulquoten» der Regionen Rorschach mit 2,8 Prozent und Wil mit 2,9 Prozent hervor. 

Mit der Gesetzesänderung verliert die Quote an Bedeutung. Susan Christen begrüsst das: «Die Anzahl der Kinder mit Behinderung lässt sich nicht über eine Quote steuern.» Manche müssten den «Umweg über die Sonderschule», nehmen, bevor sie wieder eine Regelklasse besuchen können. Eine umfassende Sprachbehinderung könne nicht mit einer zusätzlichen Stunde Logopädie aufgefangen werden. Christen findet es «ganz wichtig», dass der Schulpsychologische Dienst weiterhin das standardisierte Abklärungsverfahren durchführt – «unabhängig von einer Quote». 

Emotionale Debatte im Kantonsparlament

In der Februarsession führten die Wartelisten zu einer emotionalen Debatte. Die Regierung wollte keine Gesetzesänderung ausarbeiten, sondern lediglich einen Bericht über die Umsetzung des Sonderpädagogik-Konzepts verfassen. Kölliker betonte, man habe sich darin auf «Integration vor Separation» geeinigt. «Jetzt wollen Sie Separation vor Integration.» Dabei funktioniere das Sonderpädagogik-Konzept «ausgezeichnet – ausser in Rorschach und Wil». Diese Standorte würden sich weigern, die nötigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um integrativ zu beschulen. 

Etterlin reagierte erzürnt und sagte, es sei «eines Bildungschefs unwürdig», innovative Schulen, die sich um Integration bemühen, «derart durch den Dreck zu ziehen». Kölliker meint im Nachhinein, es sei nicht um die Gemeinden gegangen, sondern um das Einzugsgebiet der Regionalstellen des Schulpsychologischen Dienstes Rorschach und Wil. 

Bildungsdirektor mehrfach eingeladen

Etterlin versteht es nach wie vor als Angriff auf seine Schulgemeinde. Er habe Kölliker mehrfach eingeladen, sich vor Ort ein Bild zu machen. Der Bildungschef habe jedes Mal abgelehnt. Kölliker sagt, er könne «aus Gründen der Fairness und Gleichbehandlung» nicht Einladungen einzelner Schulpräsidenten folgen, die damit «ein politisches Ziel verfolgen».
Noch etwas ärgert Etterlin: die Regierung habe sich lobend über die rückläufige Zahl der Sprachheilschüler in der Stadt St.Gallen geäussert. Eine Einfache Anfrage aus dem Stadtparlament im Herbst ergab, dass die Sonderschulquote der Stadt 3,4 Prozent beträgt – höher als die in Rorschach und Wil. Darauf angesprochen, sagt Kölliker: Die Stadt St.Gallen habe die Sprachheilzuweisungen zugunsten von mehr Logopädie gemässigt. Das sei «die relevante Aussage», unabhängig von der Sonderschulquote, die von allen Sonderschularten abhänge. 

Wiler Schulpräsidentin über Herausforderungen

Die Schulpräsidentin von Wil, Jutta Röösli, hat die Debatte im Rat nicht mitverfolgt. Sie betont jedoch:
«Wir sind froh um jeden Schüler, der im Regelsystem ist.»
Sie könne nur mutmassen, weshalb in Wil verhältnismässig eher viele Kinder eine Sonderschule besuchen. «Wir haben verschiedenste Herausforderungen in den Schulen mit beispielsweise 50 Prozent fremdsprachigen Kindern und einem hohen Anteil an bildungsfernen Familien.» 

Für Etterlin ist eine Korrelation zwischen Sonderschulquote und Sozialhilfequote kein Zufall. Wer in einer Landgemeinde ein gravierendes Problem habe, etwa Schulprobleme, stehe dort «ziemlich bald am Pranger». Die Städte seien deshalb ein «beliebtes Wegzugsziel». Und es sei naheliegend, dass Eltern «in der Nähe der Sonderschule Wohnsitz nehmen», dann falle «die Reiserei» weg. 

Lehrerinnen und Lehrer geraten an Grenzen

Susan Christen kennt die Schulgemeinden Rorschach und Wil:
«Die Lehrpersonen machen alles, was nur irgendwie geht, um Kinder in der Regelklasse zu halten.»
Doch irgendwann sei auch bei den kompetentesten Lehrerinnen und Lehrern eine Grenze erreicht. 

Das sieht auch Jens Jäger so. Der FDP-Kantonsrat ist Primarlehrer in Wangs und hat in der Februarsession ein beherztes Votum für die Gesetzesänderung abgegeben. Am Telefon erzählt er von einem ehemaligen Schüler mit einer Sprachbehinderung:
«Er hatte sehr grosse Probleme mit der Aussprache und mit Satzstellungen. Wir konnten das nicht mehr auffangen.»

Sprachbehinderungen haben viele Formen: Manche Kinder haben Mühe, Wörter in einem Satz aneinanderzureihen, andere verstehen nur einzelne Wörter in einem Satz und erschliessen sich den Sinn selbst – häufig einen anderen als das Gesagte. Jens Jäger meint:
«Integration ist wichtig, aber sie hat Grenzen.»

Regierung hat drei Jahre Zeit

Auch zwei Wochen nach der Session geht Guido Etterlin mit Stefan Kölliker hart ins Gericht. Es sei an der Zeit, dass der Bildungsdirektor einsehe, dass er mit seiner «extrem technokratischen Denkweise auf dem Holzweg sei». Im «Elfenbeinturm an der Davidstrasse» gehe es um Zahlen, dabei stehe die Zukunft von Kindern auf dem Spiel.
Unterstützer der Motion hoffen nun, dass die Regierung die Gesetzesänderung rasch angeht. Welche Dringlichkeit misst ihr der Bildungschef bei? Kölliker verweist auf das Geschäftsreglement des Kantonsrats: Die Regierung habe drei Jahre Zeit, dem Kantonsrat Antrag zum weiteren Vorgehen zufolge der Gutheissung der Motion zu stellen. «Diese Frist wird sie einhalten.»

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