Professorin Afra Sturm
hält wenig davon, die Kinder allzu früh mit Rechtschreiberegeln zu
konfrontieren.
Afra Sturm von der PH der FHNW hält nichts vom frühen Vermitteln von Regeln, Bild: fhnw
"Schreiben ist für Kinder anstrengend", Aargauer Zeitung, 8.3. von Jörg Meier
Ist
die von Jürgen Reichen entwickelte Methode «Lesen durch Schreiben» tatsächlich
so gefährlich, dass sie verboten werden muss?
Afra
Sturm: Der Basler
Reformpädagoge Jürgen Reichen will mit «Lesen durch Schreiben» – so heisst sein
Ansatz – vor allem den Leseerwerb unterstützen. Er ging davon aus, dass die
Kinder leichter Lesen lernen, wenn sie schreiben. Die Anlauttabelle soll die
Kinder dabei unterstützen. Die Anlauttabelle wurde aber nicht von Reichen
erfunden, die gibt es schon sehr viel länger. Im Laufe der Zeit wurde «Lesen
durch Schreiben», wie es Reichen propagierte, aber in manchen Schulen anders
interpretiert und auch als Methode für das Erlernen von Rechtschreibung
eingesetzt. Das ging so weit, dass einige Lehrpersonen keine Rechtschreibung
mehr vermittelten.
Auch
im Aargau?
Wir reden hier von
Deutschland. Mit der Realität an den Aargauer Schulen hat das vermutlich wenig
zu tun. Hier ist mir keine Lehrperson bekannt, die nach Reichens Methode
unterrichtet. Und auch an der Pädagogischen Hochschule FHNW wird «Lesen durch
Schreiben» nach Reichen nicht unterrichtet.
Losgelöst
von Reichens Ansatz ist das lautgetreue Schreiben unbestritten?
Ja. Das lautgetreue
Schreiben ist ein Entwicklungszustand, den jedes Kind durchläuft, ja
durchlaufen muss, wenn es in einer Gesellschaft lebt, die wie wir ein
Schriftsystem mit einer Laut-Buchstaben-Beziehung pflegt. Das lautgetreue
Schreiben und damit auch das Schreiben nach Gehör können wir als Erwachsene
weder verbieten noch beschleunigen. Aber wir können Kinder in diesem
Entwicklungsschritt mit einem guten Rechtschreibeunterricht unterstützten.
Wäre
es nicht sinnvoller, gleich von der 1. Klasse an korrekte Rechtschreibung zu
verlangen?
Nein. Es bringt nichts,
Schülerinnen und Schüler mit Regeln zu konfrontieren, die sie aufgrund ihres
Erkenntnisstandes noch gar nicht nachvollziehen können. Schreibt ein Kind in
der ersten Klasse «hbe» statt «habe», muss ich allerdings eingreifen, weil ein
Laut nicht verschriftlicht wurde. Das versteht das Kind. Fehlt bei «Hammer»
hingegen ein «m», ist eine Korrektur noch nicht zielführend, weil das Kind sie
noch nicht versteht.
Was
halten Sie von den Forderungen nach einer verbindlichen Lese- und Schreibfibel
mit klaren Regeln und Vorgaben?
Das lautgetreue
Schreiben macht es möglich, dass die Kinder sehr schnell schriftlich
kommunizieren können, obwohl sie die Rechtschreibung noch nicht in allen
Facetten beherrschen. Das Kommunizieren ist motivierend. Man darf nicht
vergessen: Schreiben ist besonders für Kinder motorisch und kognitiv
anstrengend. Kommen die Regeln zu früh, verstehen die Kinder sie nicht; sie
lernen im besten Fall einfach Wörter auswendig. Motivation und Kreativität
schwinden.
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