9. März 2019

Keine zu frühen Korrekturen


Professorin Afra Sturm hält wenig davon, die Kinder allzu früh mit Rechtschreiberegeln zu konfrontieren.
 Afra Sturm von der PH der FHNW hält nichts vom frühen Vermitteln von Regeln, Bild: fhnw
"Schreiben ist für Kinder anstrengend", Aargauer Zeitung, 8.3. von Jörg Meier
 

Ist die von Jürgen Reichen entwickelte Methode «Lesen durch Schreiben» tatsächlich so gefährlich, dass sie verboten werden muss?
Afra Sturm: Der Basler Reformpädagoge Jürgen Reichen will mit «Lesen durch Schreiben» – so heisst sein Ansatz – vor allem den Leseerwerb unterstützen. Er ging davon aus, dass die Kinder leichter Lesen lernen, wenn sie schreiben. Die Anlauttabelle soll die Kinder dabei unterstützen. Die Anlauttabelle wurde aber nicht von Reichen erfunden, die gibt es schon sehr viel länger. Im Laufe der Zeit wurde «Lesen durch Schreiben», wie es Reichen propagierte, aber in manchen Schulen anders interpretiert und auch als Methode für das Erlernen von Rechtschreibung eingesetzt. Das ging so weit, dass einige Lehrpersonen keine Rechtschreibung mehr vermittelten. 

Auch im Aargau?
Wir reden hier von Deutschland. Mit der Realität an den Aargauer Schulen hat das vermutlich wenig zu tun. Hier ist mir keine Lehrperson bekannt, die nach Reichens Methode unterrichtet. Und auch an der Pädagogischen Hochschule FHNW wird «Lesen durch Schreiben» nach Reichen nicht unterrichtet.

Losgelöst von Reichens Ansatz ist das lautgetreue Schreiben unbestritten?
Ja. Das lautgetreue Schreiben ist ein Entwicklungszustand, den jedes Kind durchläuft, ja durchlaufen muss, wenn es in einer Gesellschaft lebt, die wie wir ein Schriftsystem mit einer Laut-Buchstaben-Beziehung pflegt. Das lautgetreue Schreiben und damit auch das Schreiben nach Gehör können wir als Erwachsene weder verbieten noch beschleunigen. Aber wir können Kinder in diesem Entwicklungsschritt mit einem guten Rechtschreibeunterricht unterstützten. 

Wäre es nicht sinnvoller, gleich von der 1. Klasse an korrekte Rechtschreibung zu verlangen?
Nein. Es bringt nichts, Schülerinnen und Schüler mit Regeln zu konfrontieren, die sie aufgrund ihres Erkenntnisstandes noch gar nicht nachvollziehen können. Schreibt ein Kind in der ersten Klasse «hbe» statt «habe», muss ich allerdings eingreifen, weil ein Laut nicht verschriftlicht wurde. Das versteht das Kind. Fehlt bei «Hammer» hingegen ein «m», ist eine Korrektur noch nicht zielführend, weil das Kind sie noch nicht versteht. 

Was halten Sie von den Forderungen nach einer verbindlichen Lese- und Schreibfibel mit klaren Regeln und Vorgaben?
Das lautgetreue Schreiben macht es möglich, dass die Kinder sehr schnell schriftlich kommunizieren können, obwohl sie die Rechtschreibung noch nicht in allen Facetten beherrschen. Das Kommunizieren ist motivierend. Man darf nicht vergessen: Schreiben ist besonders für Kinder motorisch und kognitiv anstrengend. Kommen die Regeln zu früh, verstehen die Kinder sie nicht; sie lernen im besten Fall einfach Wörter auswendig. Motivation und Kreativität schwinden.

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