Baden-Württemberg, Hamburg und der Kanton Nidwalden
haben es getan. Nun tut es auch der Aargau: Das Schreiblernkonzept «Lesen durch
Schreiben» wird verboten. Dass die Regierung
eingreift und ein Lehrmittel aus dem Verkehr zieht, kommt doch eher selten vor.
Das betroffene Lehrmittel ist zwar weder jugendgefährdend noch politisch unausgewogen.
Dennoch ist das Schulbuch «Lesen durch Schreiben» seit Jahren im
deutschsprachigen Raum höchst umstritten.
Rechtschreibregeln werden wieder wichtig, Aargauer Zeitung, 8.3. von Jörg Meier
Nun hat die Diskussion
auch die Aargauer Politik erreicht. In einer Motion geben die beiden
SVP-Grossrätinnen Martina Bircher und Marlise Spörri ihrer Sorge um die
schwindenden Rechtschreibekenntnisse der Aargauer Kinder Ausdruck. Sie
verweisen dabei auch auf Klagen von Eltern und Lehrbetrieben, die sich über die
mangelnde Rechtschreibekompetenz ihrer Kinder und Lernenden beschweren würden.
Für diese Defizite in
der Rechtschreibung ist nach Ansicht der Motionärinnen die Lehrmethode
«Schreiben nach Gehör» verantwortlich. Deshalb verlangen sie, dass an der
Volksschule keine Lehrmittel mehr eingesetzt werden dürfen, die nach dem
Prinzip «Schreiben nach Gehör» funktionieren. Und ebenso soll das lautgetreue
Schreiben im Aargau künftig möglichst vermieden werden.
Korrigieren:
Lieber nicht
In der Kritik steht also
vor allem die Schreiblernmethode «Schreiben nach Gehör», die der Basler
Reformpädagoge Jürgen Reichen in den 1970er-Jahren entwickelt hat; in der
Wissenschaft wird sie auch als «Lesen durch Schreiben» bezeichnet, was immer
wieder zu Begriffsverwirrungen führt.
Die Methode funktioniert
mit einer Anlauttabelle, aus der sich die Kinder die Buchstaben zusammensuchen
sollen, die sie brauchen wollen, um ein Wort zu schreiben. Dabei wählen sie am
Anfang die Buchstaben aus, die sie für passend halten; dabei machen sie
natürlich ständig Fehler.
Sollen sie zum Beispiel
«Vater» schreiben, stossen sie in der Tabelle neben dem Buchstaben F auf das
Bild eines Fahrrads und erkennen: «Fahrrad» klingt doch am Anfang wie «Vater»,
also schreiben sie vielleicht «Fata» statt «Vater». Das kommt oft vor und ist
in der Methode explizit vorgesehen: Das Kind soll selber entdecken, wie
Schreiben funktioniert und dass es selber Wörter schreiben kann. Erst kommt das
Ausprobieren. Die Rechtschreibung ist später dran.
Reichen ging davon aus,
dass systematischer Rechtschreibunterricht überflüssig sei. Das wiederum hatte
zur Folge, dass es Lehrpersonen gab, welche die Texte der Kinder gar nicht mehr
korrigierten. Die Kinder konnten sich kreativ schreibend entfalten, es gab
keine Fehler und keine mühsamen Diktate. Und die Eltern waren gehalten, die
Texte ihrer Kinder ebenfalls nicht voreilig zu korrigieren.
Kritik
aus Bonn
Doch rasch wuchs die
Kritik an der Methode, erst recht, als eine Studie nachwies, dass Schüler in
der Rechtschreibung immer schwächer wurden. Die von Wissenschaftern der
Universität Bonn verfasste Untersuchung kam zum Schluss, dass Schüler am Ende
der 3. Klasse deutlich besser in Rechtschreibung waren, wenn sie nach der
klassischen Fibelmethode unterrichtet worden waren.
Daraufhin verboten 2016
das Bundesland Baden-Württemberg und die Stadt Hamburg den Einsatz der Methode
«Schreiben nach Gehör».
Als erster Schweizer
Kanton hat Nidwalden reagiert und die Methode 2018 aus den Schulzimmern
verbannt. Und wie steht es mit der kritisierten Reichen Methode im Aargau?
Afra Sturm, Co-Leitern
Zentrum Lesen, Medien und Schrift an der Pädagogischen Hochschule FHNW,
relativiert: «Diese Auswüchse, wie sie in Deutschland passiert sind, haben
nichts mit der Realität an den Aargauer Schulen zu tun», sagt sie. Sie gehe
davon aus, dass im Aargau Reichens Methode keine Rolle im Lese- und
Schreibunterricht spiele. Auch an der Pädagogischen Hochschule sei sie kein
Thema.
Ein Fragezeichen setzt
Professorin Afra Sturm auch hinter die vielfach geäusserte Behauptung, heutige
Kinder könnten weniger gut schreiben, als das früher der Fall war: «Es gibt da
keinen eindeutigen Befund. Verschiedene Studien liefern unterschiedliche
Antworten, je nachdem, wie Rechtschreibung gemessen wird.»
«Lautgetreues
Schreiben» erlaubt
Der Regierungsrat teilt dennoch das Anliegen
der Motion. Er lehnt das Konzept «Schreiben nach Gehör» nach Jürgen Reichen
ebenfalls ab. Deshalb streicht er das entsprechende Lehrmittel von der Liste
der zulässigen Lehrmittel, verbietet das Unterrichten dieser Methode und hält
auch die Pädagogische Hochschule an, die Methode den Studierenden nicht zu
vermitteln.
Zudem werden die
Schulleitungen darüber informiert, dass die von Jürgen Reichen entwickelte
Methode «Schreiben nach Gehör» sowie das Lehrmittel «Lesen durch Schreiben» und
«Lara und ihre Freunde» ab Schuljahr 2020/21 nicht mehr angewendet werden
dürfen.
Anders als die
Motionärinnen hält der Regierungsrat aber am «lautgetreuen Schreiben» fest.
Denn es handle sich dabei um einen Entwicklungsschritt, den jedes Kind beim
Schrifterwerb durchläuft. Die Regierung verlangt aber, dass auch beim
lautgetreuen Schreiben Korrekturen angebracht werden: Schreibt ein Kind etwa
«Ato» statt «Auto», so muss die Lehrperson korrigierend eingreifen, da nicht
alle Laute verschriftlicht wurden. Sobald es den Schülerinnen und Schülern
gelingt, alle Laute in den Wörtern zu verschriftlichen, werden stetig
weiterführende Rechtschreibregeln verlangt.
Als Hilfsmittel
unverdächtig bleibt die Anlauttabelle, die den Lauten Buchstaben zuordnet.
Durch dieses Arbeitsinstrument sind die Kinder viel früher in der Lage, Texte
zu schreiben.
Weil die Motion aber
ausdrücklich auch ein Verbot des lautgetreuen Schreibens verlangt, lehnt die
Regierung den Vorstoss trotz weitgehender Einigkeit ab. Denn das lautgetreue
Schreiben erweist sich als sinnvoll und effektiv und vor allem: Es ereignet
sich von selbst, wenn ein Kind lesen lernt, und es lässt sich, auch wenn man es
wollte, nicht vermeiden.
Die Vorgaben
im neuen Lehrplan
Der neue Aargauer
Lehrplan macht verbindliche Angaben zur Rechtschreibekompetenz. In der Aus- und
Weiterbildung wird den Lehrpersonen vermittelt, wie sie Rechtschreibung
systematisch lehren, wie sie Schülerinnen und Schülern aber auch das
Korrigieren der eigenen Texte beibringen sollen.
Auch für den Bereich
Rechtschreibung gilt, was für den ganzen neuen Lehrplan gilt: Der Unterricht
beginnt beim Ein fachen und baut danach den Kompetenzerwerb systematisch und
repetitiv vom Kern zum Speziellen aus.
Mit diesen verbindlichen
Vorgaben im neuen Lehrplan ist sichergestellt, dass die Aargauer Kinder, auch
was die Rechtschreibung betrifft, von der Schule an gemessen auf das Leben
vorbereitet werden.
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