31. März 2019

Angst vor dem Abstieg


Eine stressige Zeit geht für Tausende Eltern im Kanton Zürich vorerst zu Ende. Sie haben erfahren, ob ihr Kind die Gymiprüfung bestanden hat. Wieso diese Aufregung ums Gymnasium, die manche Familie in einen Ausnahmezustand versetzt? Dahinter steht auch ihre Angst vor dem Abstieg, schreibt Alain Zucker  
In der Gymi-Frage zeigt man sich als Vater nicht immer von der besten Seite, NZZaS, 24.3. von Alain Zucker


Es ist ein erster Pflock im Leben der Jugendlichen, doch erwartet wird der Entscheid, wie wenn es um alles oder nichts ginge: Dieses Wochenende haben in Zürich Tausende Familien erfahren, ob ihre Kinder die Gymiprüfung bestanden haben. Ich kann mich noch gut erinnern, wie sich das anfühlte, als der gleiche Brief vor vier Jahren bei uns eintraf. Ich war an jenem Tag so nervös wie seit meiner Autoprüfung mit 18 nicht mehr: An Arbeit war erst wieder zu denken, als meine Tochter mich anrief und das Resultat verkündete: Uff, grosse Erleichterung, das war knapp. 

Ich war sehr stolz auf sie, diese Gefühle kamen mir ausgerechnet vergangene Woche wieder in den Sinn, als amerikanische Eltern für Schlagzeilen sorgten, die ihren Kindern mit illegalen Mitteln zu einem Studienplatz an Spitzenuniversitäten verhalfen. Wir haben zwar niemanden bestochen, um unserer Tochter den Zugang zum Gymnasium zu ermöglichen, aber die Familie war schon ein paar Monate im Ausnahmezustand. «Du kommst nicht mehr aus dem Haus raus», hatte mich ein Arbeitskollege gewarnt. Er hatte nur leicht übertrieben: lange Abende, in denen wir uns in Mathematik- oder Grammatikstoff vertieften, den sie in der Primarschule gar nie gelernt hatte; subtile Manipulationsversuche, um sie zu motivieren; Sportferien, in denen weniger subtil die Fetzen flogen, weil sie snowboarden statt Aufgaben lösen wollte. Was mich mit diesen amerikanischen Eltern verbindet, ist jedenfalls, dass ich alles tat, um meiner Tochter den sogenannten Königsweg in der Bildung zu ermöglichen. 

Eltern wollen das Beste für ihre Kinder: Daran ist nichts falsch. Während es in den USA tatsächlich entscheidend sein kann für den Berufseinstieg, dass man den Abschluss einer prestigeträchtigen Universität in der Tasche hat, ist der Hype in der Schweiz paradox: Der Druck aufs Gymnasium ist gestiegen, obwohl es heute weniger wichtig ist als früher, dass Kinder frühzeitig dort einspuren. Dank Berufsmatura und Fachhochschulen ist das System durchlässiger geworden. Es gibt keinen «Abschluss ohne Anschluss» mehr, wie dies Erziehungsexperten werbegerecht beschreiben. Über die sogenannte Passerelle können es Jugendliche, die mit einer Lehre begonnen haben, sogar an die ETH schaffen, die angesehenste Hochschule der Schweiz. 

Glaubt man Bildungsforschern, ist der Ansturm, speziell aufs Langzeitgymnasium, also irrational. Doch insbesondere im Kanton Zürich scheint dies die Eltern nicht sonderlich zu beeindrucken. Seit Jahren steigen die Anmeldungen. Auch ich habe dem Hype nicht widerstanden. Im Rückblick gab es vor allem drei Gründe, wieso wir den Gymi-Entscheid nie hinterfragten: Meine Tochter wollte unbedingt – auch weil ihre Freundinnen wollten, die natürlich ebenfalls nicht aus den sogenannten bildungsfernen Schichten stammten. Und die Sek hatte in unserem Quartier seit der Integration der Realschule keinen guten Ruf. Zweitens, Gymnasium bedeutet: sich noch nicht entscheiden müssen: Bei aller Plackerei und dem – seien wir ehrlich! – zum Teil auch weltfremden Schulstoff ist es ein Privileg, in der Pubertät nicht auch noch einen Beruf wählen zu müssen und sich alle Optionen offenzuhalten. Die Kindheit geht so später zu Ende. Drittens, ich hatte das Gymnasium selber gut überlebt, das gab mir Vertrauen für meine Tochter, gerade weil die Zeiten härter geworden sind. Ich denke hin und wieder daran, dass es meine Kinder schwieriger haben werden als ich. Wir gingen damals recht unbeschwert an die Universität, wollten uns selber verwirklichen und nicht, was sich die Eltern für uns erhofften: materiellen Fortschritt. 

Heute hingegen haben viele Eltern das Gefühl, dass es ihren Kindern schlechter ergehen könnte als ihnen selbst. Das ist natürlich die privilegierte Haltung einer gut ausgebildeten Mittelschicht. Doch um die Aufregung ums Gymnasium zu verstehen, ist diese «Angst vor dem Abstieg», wie es auch der Bildungsforscher Urs Moser nennt, ein wichtiger Faktor – wichtiger als der soziale Dünkel oder der persönliche Ehrgeiz, die Gymi-Eltern immer wieder vorgeworfen werden. Die Angst wird befeuert durch ein Dauerbombardement in Politik und Medien, dass in einer digitalisierten Welt mit globaler Konkurrenz Jobs und Glück ohne eine höhere Bildung ausser Reichweite seien. In dieselbe Richtung deuten die Erfahrungen, die man heute in grossen internationalen Unternehmen macht. Dort kennen ausländische Manager mit Abitur von der Qualität eines Sek-Abschlusses den Wert der Lehre nicht. Sie finden: Hauptsache akademisch, egal wie. 

Diese Sorge um die Zukunft verleitet Eltern dazu, die Distanz zum Thema – und zu ihren Kindern – zu verlieren. All die Geschichten über Helikoptereltern, die Lehrer unter Druck setzen sollen, kenne ich nicht aus eigener Erfahrung. Ich weiss aber, wie eine wiederholt schlechte Mathematiknote der Tochter meine Gelassenheit bis heute gelegentlich untergräbt. Ich sage dann so gereizt wie hilflos: «Jetzt müssen wir etwas unternehmen!» Der Satz ist völlig daneben, denn sie ist mindestens so enttäuscht über die Note wie ich. Ein Freund hat es diplomatisch formuliert: «Als Vater oder Mutter zeigt man sich in der Gymi-Frage nicht immer von seiner besten Seite.» 

Angst ist bekanntlich ein schlechter Ratgeber: Lehne ich nur ein wenig zurück, erinnere ich mich daran, dass Karrieren oft weniger mit der Erstausbildung als mit Charaktereigenschaften wie etwa Widerstandsfähigkeit, Leidenschaft und Eigeninitiative oder auch nur mit Glück zu tun haben. Die Geschichten von erfolgreichen Firmengründern, die ihre Ausbildung abgebrochen haben, sind geradezu notorisch. Und auch wenn im Zeitalter der Digitalisierung eine gute schulische Grundausbildung kein Fehler ist, bevorzugt sie nicht zwangsläufig Leute mit Studium. Sie gefährdet sogenannt intellektuelle Jobs gleichermassen wie repetitive Tätigkeiten – da ist sie vorurteilslos. Wieso also soll eine Handwerkerlehre langfristig nicht die besseren Job- und Lohnchancen bieten als eine Ausbildung zum Radiologen? 

Diesbezüglich widersprechen sich die Experten und bleiben vage. Die einen sehen die feinmotorisch Begabten im Vorteil, die andern die Sozialen und Kommunikativen, die dritten die Kreativen. All diesen Eigenschaften ist nur gemeinsam, dass man zumindest heute noch annimmt, Menschen seien diesbezüglich Computern überlegen. Genauer werden die Experten nicht, weil sie ebenso im Nebel stochern wie die Eltern. Das wiederum würde aus deren Sicht dafür sprechen, die konkrete Berufswahl so weit nach hinten zu schieben wie möglich – also aufs Gymnasium zu setzen. 

Die Lage ist verworren, was also tun? «Sich zurücklehnen und realistisch bleiben», sagt Bildungsforscher Moser. Und er wiederholt, dass «verschiedene Wege zu einem akademischen Abschluss» führten. Das tönt gut, aber senkt den Druck auf die Kinder nicht. Dass dieser so gross geworden ist, hat nicht nur mit den Eltern zu tun, sondern auch mit dem System. Kantone wie Zürich haben den Hype angeheizt, indem sie trotz steigendem Bildungsstand einer wachsenden Bevölkerung die Gymi-Quote gleich gehalten haben. Auch wenn die Vornoten mitzählen, sind die Anforderungen der Prüfung gestiegen, das Angebot wurde quasi verknappt, obwohl alle das Mantra von «Bildung, Bildung, Bildung» singen. 

Warum dieses doppelte Tamtam mit Prüfung und Probezeit? Warum das schon bei Zwölfjährigen und nicht eher später, fürs Kurzzeitgymi? Schaffen wir die Prüfung doch ab und lassen wie in anderen Kantonen den Notenschnitt und die Lehrerempfehlung entscheiden! Am Ende gehen Maturanden aus Basel und Bern an die gleichen Universitäten wie die Zürcher. 

Bildungsforscher Moser ist dagegen, weil so der Druck auf die Lehrer steigen würde. Gerade in Zürich, wo mehr gut gebildete Ausländer leben, die sich Kinder ohne Abitur nicht vorstellen können. Doch die Lage in den Kantonen ohne Prüfung deutet nicht auf eine Eskalation hin: Sie ist viel entspannter, als Druckventil dient dort, dass Schüler ohne Lehrerempfehlung weiterhin die Möglichkeit einer Aufnahmeprüfung haben. In Zürich wäre es zudem eine Chance für die Chancengleichheit. Diese ist heute beinahe inexistent, weil sich nur eine gewisse Schicht mit privaten Kursen auf die Prüfung vorbereiten kann.

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