Eine
stressige Zeit geht für Tausende Eltern im Kanton Zürich vorerst zu Ende. Sie
haben erfahren, ob ihr Kind die Gymiprüfung bestanden hat. Wieso diese
Aufregung ums Gymnasium, die manche Familie in einen Ausnahmezustand versetzt?
Dahinter steht auch ihre Angst vor dem Abstieg, schreibt Alain Zucker
In der Gymi-Frage zeigt man sich als Vater nicht immer von der besten Seite, NZZaS, 24.3. von Alain Zucker
Es ist
ein erster Pflock im Leben der Jugendlichen, doch erwartet wird der Entscheid,
wie wenn es um alles oder nichts ginge: Dieses Wochenende haben in Zürich
Tausende Familien erfahren, ob ihre Kinder die Gymiprüfung bestanden haben. Ich
kann mich noch gut erinnern, wie sich das anfühlte, als der gleiche Brief vor
vier Jahren bei uns eintraf. Ich war an jenem Tag so nervös wie seit meiner
Autoprüfung mit 18 nicht mehr: An Arbeit war erst wieder zu denken, als meine
Tochter mich anrief und das Resultat verkündete: Uff, grosse Erleichterung, das
war knapp.
Ich war sehr stolz auf sie, diese Gefühle kamen mir ausgerechnet
vergangene Woche wieder in den Sinn, als amerikanische Eltern für Schlagzeilen
sorgten, die ihren Kindern mit illegalen Mitteln zu einem Studienplatz an
Spitzenuniversitäten verhalfen. Wir haben zwar niemanden bestochen, um unserer
Tochter den Zugang zum Gymnasium zu ermöglichen, aber die Familie war schon ein
paar Monate im Ausnahmezustand. «Du kommst nicht mehr aus dem Haus raus», hatte
mich ein Arbeitskollege gewarnt. Er hatte nur leicht übertrieben: lange Abende,
in denen wir uns in Mathematik- oder Grammatikstoff vertieften, den sie in der
Primarschule gar nie gelernt hatte; subtile Manipulationsversuche, um sie zu
motivieren; Sportferien, in denen weniger subtil die Fetzen flogen, weil sie
snowboarden statt Aufgaben lösen wollte. Was mich mit diesen amerikanischen
Eltern verbindet, ist jedenfalls, dass ich alles tat, um meiner Tochter den sogenannten
Königsweg in der Bildung zu ermöglichen.
Eltern wollen das Beste für ihre
Kinder: Daran ist nichts falsch. Während es in den USA tatsächlich entscheidend
sein kann für den Berufseinstieg, dass man den Abschluss einer
prestigeträchtigen Universität in der Tasche hat, ist der Hype in der Schweiz
paradox: Der Druck aufs Gymnasium ist gestiegen, obwohl es heute weniger
wichtig ist als früher, dass Kinder frühzeitig dort einspuren. Dank
Berufsmatura und Fachhochschulen ist das System durchlässiger geworden. Es gibt
keinen «Abschluss ohne Anschluss» mehr, wie dies Erziehungsexperten
werbegerecht beschreiben. Über die sogenannte Passerelle können es Jugendliche,
die mit einer Lehre begonnen haben, sogar an die ETH schaffen, die angesehenste
Hochschule der Schweiz.
Glaubt man Bildungsforschern, ist der Ansturm, speziell
aufs Langzeitgymnasium, also irrational. Doch insbesondere im Kanton Zürich
scheint dies die Eltern nicht sonderlich zu beeindrucken. Seit Jahren steigen
die Anmeldungen. Auch ich habe dem Hype nicht widerstanden. Im Rückblick gab es
vor allem drei Gründe, wieso wir den Gymi-Entscheid nie hinterfragten: Meine
Tochter wollte unbedingt – auch weil ihre Freundinnen wollten, die natürlich
ebenfalls nicht aus den sogenannten bildungsfernen Schichten stammten. Und die
Sek hatte in unserem Quartier seit der Integration der Realschule keinen guten
Ruf. Zweitens, Gymnasium bedeutet: sich noch nicht entscheiden müssen: Bei
aller Plackerei und dem – seien wir ehrlich! – zum Teil auch weltfremden Schulstoff
ist es ein Privileg, in der Pubertät nicht auch noch einen Beruf wählen zu
müssen und sich alle Optionen offenzuhalten. Die Kindheit geht so später zu
Ende. Drittens, ich hatte das Gymnasium selber gut überlebt, das gab mir
Vertrauen für meine Tochter, gerade weil die Zeiten härter geworden sind. Ich
denke hin und wieder daran, dass es meine Kinder schwieriger haben werden als
ich. Wir gingen damals recht unbeschwert an die Universität, wollten uns selber
verwirklichen und nicht, was sich die Eltern für uns erhofften: materiellen
Fortschritt.
Heute hingegen haben viele Eltern das Gefühl, dass es ihren
Kindern schlechter ergehen könnte als ihnen selbst. Das ist natürlich die
privilegierte Haltung einer gut ausgebildeten Mittelschicht. Doch um die Aufregung
ums Gymnasium zu verstehen, ist diese «Angst vor dem Abstieg», wie es auch der
Bildungsforscher Urs Moser nennt, ein wichtiger Faktor – wichtiger als der
soziale Dünkel oder der persönliche Ehrgeiz, die Gymi-Eltern immer wieder
vorgeworfen werden. Die Angst wird befeuert durch ein Dauerbombardement in
Politik und Medien, dass in einer digitalisierten Welt mit globaler Konkurrenz
Jobs und Glück ohne eine höhere Bildung ausser Reichweite seien. In dieselbe
Richtung deuten die Erfahrungen, die man heute in grossen internationalen
Unternehmen macht. Dort kennen ausländische Manager mit Abitur von der Qualität
eines Sek-Abschlusses den Wert der Lehre nicht. Sie finden: Hauptsache
akademisch, egal wie.
Diese Sorge um die Zukunft verleitet Eltern dazu, die
Distanz zum Thema – und zu ihren Kindern – zu verlieren. All die Geschichten
über Helikoptereltern, die Lehrer unter Druck setzen sollen, kenne ich nicht
aus eigener Erfahrung. Ich weiss aber, wie eine wiederholt schlechte
Mathematiknote der Tochter meine Gelassenheit bis heute gelegentlich
untergräbt. Ich sage dann so gereizt wie hilflos: «Jetzt müssen wir etwas
unternehmen!» Der Satz ist völlig daneben, denn sie ist mindestens so
enttäuscht über die Note wie ich. Ein Freund hat es diplomatisch formuliert:
«Als Vater oder Mutter zeigt man sich in der Gymi-Frage nicht immer von seiner
besten Seite.»
Angst ist bekanntlich ein schlechter Ratgeber: Lehne ich nur ein
wenig zurück, erinnere ich mich daran, dass Karrieren oft weniger mit der
Erstausbildung als mit Charaktereigenschaften wie etwa Widerstandsfähigkeit,
Leidenschaft und Eigeninitiative oder auch nur mit Glück zu tun haben. Die
Geschichten von erfolgreichen Firmengründern, die ihre Ausbildung abgebrochen
haben, sind geradezu notorisch. Und auch wenn im Zeitalter der Digitalisierung
eine gute schulische Grundausbildung kein Fehler ist, bevorzugt sie nicht
zwangsläufig Leute mit Studium. Sie gefährdet sogenannt intellektuelle Jobs
gleichermassen wie repetitive Tätigkeiten – da ist sie vorurteilslos. Wieso also
soll eine Handwerkerlehre langfristig nicht die besseren Job- und Lohnchancen
bieten als eine Ausbildung zum Radiologen?
Diesbezüglich widersprechen sich die
Experten und bleiben vage. Die einen sehen die feinmotorisch Begabten im
Vorteil, die andern die Sozialen und Kommunikativen, die dritten die Kreativen.
All diesen Eigenschaften ist nur gemeinsam, dass man zumindest heute noch
annimmt, Menschen seien diesbezüglich Computern überlegen. Genauer werden die
Experten nicht, weil sie ebenso im Nebel stochern wie die Eltern. Das wiederum
würde aus deren Sicht dafür sprechen, die konkrete Berufswahl so weit nach
hinten zu schieben wie möglich – also aufs Gymnasium zu setzen.
Die Lage ist
verworren, was also tun? «Sich zurücklehnen und realistisch bleiben», sagt
Bildungsforscher Moser. Und er wiederholt, dass «verschiedene Wege zu einem
akademischen Abschluss» führten. Das tönt gut, aber senkt den Druck auf die
Kinder nicht. Dass dieser so gross geworden ist, hat nicht nur mit den Eltern
zu tun, sondern auch mit dem System. Kantone wie Zürich haben den Hype
angeheizt, indem sie trotz steigendem Bildungsstand einer wachsenden
Bevölkerung die Gymi-Quote gleich gehalten haben. Auch wenn die Vornoten
mitzählen, sind die Anforderungen der Prüfung gestiegen, das Angebot wurde
quasi verknappt, obwohl alle das Mantra von «Bildung, Bildung, Bildung» singen.
Warum dieses doppelte Tamtam mit Prüfung und Probezeit? Warum das schon bei
Zwölfjährigen und nicht eher später, fürs Kurzzeitgymi? Schaffen wir die
Prüfung doch ab und lassen wie in anderen Kantonen den Notenschnitt und die
Lehrerempfehlung entscheiden! Am Ende gehen Maturanden aus Basel und Bern an
die gleichen Universitäten wie die Zürcher.
Bildungsforscher Moser ist dagegen,
weil so der Druck auf die Lehrer steigen würde. Gerade in Zürich, wo mehr gut
gebildete Ausländer leben, die sich Kinder ohne Abitur nicht vorstellen können.
Doch die Lage in den Kantonen ohne Prüfung deutet nicht auf eine Eskalation
hin: Sie ist viel entspannter, als Druckventil dient dort, dass Schüler ohne
Lehrerempfehlung weiterhin die Möglichkeit einer Aufnahmeprüfung haben. In
Zürich wäre es zudem eine Chance für die Chancengleichheit. Diese ist heute
beinahe inexistent, weil sich nur eine gewisse Schicht mit privaten Kursen auf
die Prüfung vorbereiten kann.
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