31. März 2019

Pragmatisches Verständnis von Bildungsgerechtigkeit


Unter dem Titel «Soziale Selektivität» hat der Schweizerische Wissenschaftsrat (SWR) Empfehlungen zur Verbesserung der Chancengleichheit im Bildungswesen vorgelegt. Das als Beratungsorgan des Bundesrates tätige Gremium kritisiert, dass für den Erfolg im schweizerischen Bildungssystem leistungsfremde Kriterien wie ökonomische Ressourcen und das Bildungsniveau der Eltern von unverhältnismässig grossem Einfluss seien. Den Analysen des SWR liegt die Auffassung zugrunde, dass Unterschiede im Bildungserfolg dann gerecht sind, wenn sie auf Unterschieden in der persönlichen Leistung beruhen. Chancengleichheit sei dann gegeben, wenn für alle Schülerinnen und Schüler «gleiche Lernvoraussetzungen bei der Einschulung wie bei den einzelnen Übergängen im Bildungssystem» bestünden.
Chancengleichheit ist ein zweischneidiges Schwert, NZZ, 29.3. von Walter Herzog

Da dies nicht der Fall ist, fordert der SWR einen radikalen Umbau unseres Bildungswesens durch Erweiterung der frühkindlichen Bildung, Verbesserung der Qualität des Primarschulunterrichts, Aufschub der ersten Selektion bis zum Ende der Sekundarstufe I, Steigerung der Maturandenquote, Abschaffung der Studiengebühren und anderes mehr.

Doch die Chancengleichheit ist ein zweischneidiges Schwert, wenn es darum geht, mehr Bildungsgerechtigkeit einzufordern. Denn nicht nur für die sozialen Bedingungen, unter denen Kinder aufwachsen, tragen sie keine Verantwortung. Auch für die natürlichen Gaben, mit denen sie ausgestattet wurden, kann man sie nicht verantwortlich machen. In beiden Fällen geht es um Lebensumstände, die uns schicksalhaft betreffen, da wir sie nicht frei wählen können. Das gilt für eine Vielzahl weiterer Einflüsse, denen ein Kind auf dem Weg ins Erwachsenenleben ausgesetzt ist. Wenn Ungleichheiten im Bildungserfolg nur dann legitim wären, wenn sie auf der Basis gleicher Lernchancen erbracht würden, dann müssten alle Fremdeinflüsse, durch die ein Kind beim Lernen benachteiligt sein könnte, kompensiert werden, um Bildungsgerechtigkeit herzustellen. Selbst schulisch bedingte Ungleichheiten wie die Zusammensetzung der Schulklasse oder die Qualität des Unterrichts müssten neutralisiert werden.

Das aber ist eine absurde Konsequenz. Eine moralische Devise lautet: Sollen impliziert Können. Politische Forderungen aufzustellen, die sich pädagogisch nicht einlösen lassen, ist nicht nur unvernünftig, sondern auch unmoralisch. Da dem Prinzip der Chancengleichheit kein Kriterium innewohnt, das uns sagt, wann die Chancen wirklich gleich sind, lassen sich die Erwartungen auf Kompensation von ungleichen Bildungschancen ins Unendliche steigern. Jede Gleichheit, die wir erreicht haben, gibt der nächsten, die wir noch nicht erreicht haben, die Hand.

Ungleichheiten lassen sich zudem nur erkennen, wenn wir einen Massstab haben, an dem sich bemessen lässt, ob die Chancen gleich oder ungleich sind. Damit gewinnt die Beurteilung schulischer Leistungen eine Bedeutung, die sich pädagogisch nicht rechtfertigen lässt. Da nur psychometrische Tests Lernleistungen auf einem Messniveau erfassen können, das verlässliche Vergleiche zulässt, muss den Lehrpersonen abgesprochen werden, ihre Schülerinnen und Schüler korrekt beurteilen zu können. Das Prinzip der Chancengleichheit führt nicht nur zu einer absurden Dauerkritik am Bildungswesen, sondern hat auch die Deprofessionalisierung des Lehrerberufs zur Folge.

Aber gibt es eine Alternative? In der politischen Philosophie wird seit einiger Zeit die Frage diskutiert, ob Gleichheit überhaupt ein relevantes Kriterium für Gerechtigkeit sein kann. So bestreitet Harry Frankfurt, dass Gleichheit um ihrer selbst willen von moralischer Bedeutung ist. Gleichheit und Ungleichheit spielen zwar weiterhin eine Rolle, rücken aber an die zweite Stelle. An erster Stelle stehen Konzepte wie Menschenwürde, Wertschätzung und Anerkennung. Wie Avishai Margalit in seiner «Politik der Würde» ausführt, ist Ungleichheit nicht per se verwerflich, sondern nur, wenn sie mit Erniedrigung, Missachtung und Entwürdigung verbunden ist.

Daraus lässt sich ein Verständnis von Bildungsgerechtigkeit ableiten, das nicht am Prinzip der Chancengleichheit, sondern an einer Grundbildung für alle ausgerichtet ist. Allen soll ermöglicht werden, sich so viel Bildung anzueignen, wie es braucht, um in einer modernen Gesellschaft ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Definiert wird ein Mindestmass an Bildung, das nicht unterschritten werden darf, wenn ein Bildungssystem als gerecht beurteilt werden soll. Ungleiche Bildungschancen müssen kompensiert werden, sofern sie unterhalb dieses Schwellenwertes liegen, aber nicht, wenn sie darüberliegen. Gerechtigkeit ist so gesehen kein relatives, sondern ein absolutes Prinzip. Genug ist genug und wird nicht dadurch zu wenig, dass andere mehr davon haben.

Walter Herzog ist Professor am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bern.

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