Unter
dem Titel «Soziale Selektivität» hat der Schweizerische Wissenschaftsrat (SWR)
Empfehlungen zur Verbesserung der Chancengleichheit im Bildungswesen vorgelegt.
Das als Beratungsorgan des Bundesrates tätige Gremium kritisiert, dass für den
Erfolg im schweizerischen Bildungssystem leistungsfremde Kriterien wie
ökonomische Ressourcen und das Bildungsniveau der Eltern von unverhältnismässig
grossem Einfluss seien. Den Analysen des SWR liegt die Auffassung zugrunde,
dass Unterschiede im Bildungserfolg dann gerecht sind, wenn sie auf
Unterschieden in der persönlichen Leistung beruhen. Chancengleichheit sei dann
gegeben, wenn für alle Schülerinnen und Schüler «gleiche Lernvoraussetzungen
bei der Einschulung wie bei den einzelnen Übergängen im Bildungssystem»
bestünden.
Da
dies nicht der Fall ist, fordert der SWR einen radikalen Umbau unseres
Bildungswesens durch Erweiterung der frühkindlichen Bildung, Verbesserung der
Qualität des Primarschulunterrichts, Aufschub der ersten Selektion bis zum Ende
der Sekundarstufe I, Steigerung der Maturandenquote, Abschaffung der
Studiengebühren und anderes mehr.
Doch
die Chancengleichheit ist ein zweischneidiges Schwert, wenn es darum geht, mehr
Bildungsgerechtigkeit einzufordern. Denn nicht nur für die sozialen Bedingungen,
unter denen Kinder aufwachsen, tragen sie keine Verantwortung. Auch für die
natürlichen Gaben, mit denen sie ausgestattet wurden, kann man sie nicht
verantwortlich machen. In beiden Fällen geht es um Lebensumstände, die uns
schicksalhaft betreffen, da wir sie nicht frei wählen können. Das gilt für eine
Vielzahl weiterer Einflüsse, denen ein Kind auf dem Weg ins Erwachsenenleben
ausgesetzt ist. Wenn Ungleichheiten im Bildungserfolg nur dann legitim wären,
wenn sie auf der Basis gleicher Lernchancen erbracht würden, dann müssten alle
Fremdeinflüsse, durch die ein Kind beim Lernen benachteiligt sein könnte,
kompensiert werden, um Bildungsgerechtigkeit herzustellen. Selbst schulisch
bedingte Ungleichheiten wie die Zusammensetzung der Schulklasse oder die Qualität
des Unterrichts müssten neutralisiert werden.
Das
aber ist eine absurde Konsequenz. Eine moralische Devise lautet: Sollen
impliziert Können. Politische Forderungen aufzustellen, die sich pädagogisch
nicht einlösen lassen, ist nicht nur unvernünftig, sondern auch unmoralisch. Da
dem Prinzip der Chancengleichheit kein Kriterium innewohnt, das uns sagt, wann
die Chancen wirklich gleich sind, lassen sich die Erwartungen auf Kompensation
von ungleichen Bildungschancen ins Unendliche steigern. Jede Gleichheit, die
wir erreicht haben, gibt der nächsten, die wir noch nicht erreicht haben, die
Hand.
Ungleichheiten
lassen sich zudem nur erkennen, wenn wir einen Massstab haben, an dem sich
bemessen lässt, ob die Chancen gleich oder ungleich sind. Damit gewinnt die
Beurteilung schulischer Leistungen eine Bedeutung, die sich pädagogisch nicht
rechtfertigen lässt. Da nur psychometrische Tests Lernleistungen auf einem
Messniveau erfassen können, das verlässliche Vergleiche zulässt, muss den
Lehrpersonen abgesprochen werden, ihre Schülerinnen und Schüler korrekt
beurteilen zu können. Das Prinzip der Chancengleichheit führt nicht nur zu
einer absurden Dauerkritik am Bildungswesen, sondern hat auch die
Deprofessionalisierung des Lehrerberufs zur Folge.
Aber
gibt es eine Alternative? In der politischen Philosophie wird seit einiger Zeit
die Frage diskutiert, ob Gleichheit überhaupt ein relevantes Kriterium für
Gerechtigkeit sein kann. So bestreitet Harry Frankfurt, dass Gleichheit um
ihrer selbst willen von moralischer Bedeutung ist. Gleichheit und Ungleichheit
spielen zwar weiterhin eine Rolle, rücken aber an die zweite Stelle. An erster
Stelle stehen Konzepte wie Menschenwürde, Wertschätzung und Anerkennung. Wie
Avishai Margalit in seiner «Politik der Würde» ausführt, ist Ungleichheit nicht
per se verwerflich, sondern nur, wenn sie mit Erniedrigung, Missachtung und
Entwürdigung verbunden ist.
Daraus
lässt sich ein Verständnis von Bildungsgerechtigkeit ableiten, das nicht am
Prinzip der Chancengleichheit, sondern an einer Grundbildung für alle
ausgerichtet ist. Allen soll ermöglicht werden, sich so viel Bildung
anzueignen, wie es braucht, um in einer modernen Gesellschaft ein
selbstbestimmtes Leben führen zu können. Definiert wird ein Mindestmass an
Bildung, das nicht unterschritten werden darf, wenn ein Bildungssystem als
gerecht beurteilt werden soll. Ungleiche Bildungschancen müssen kompensiert
werden, sofern sie unterhalb dieses Schwellenwertes liegen, aber nicht, wenn
sie darüberliegen. Gerechtigkeit ist so gesehen kein relatives, sondern ein
absolutes Prinzip. Genug ist genug und wird nicht dadurch zu wenig, dass andere
mehr davon haben.
Walter
Herzog ist Professor am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität
Bern.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen