Thurgau provoziert einen Streit, Basler Zeitung, 12.2. von Raphaela Birrer
Der
Entscheid sorgte für Wirbel: Vier Privatpersonen reichten Klage ein – und das
Bundesgericht gab ihnen 2017 mit Verweis auf Artikel 19 der Bundesverfassung
recht. Demnach muss der Volksschulunterricht unentgeltlich sein. Das Leiturteil
hatte weitreichende Folgen: Bis dahin hatten Schulgemeinden in der ganzen
Schweiz Elternbeiträge für Klassenlager oder Exkursionen verlangt. Diese Praxis
wurde per sofort untersagt. Höchstens 16 Franken pro Tag – den Betrag, den die
Eltern wegen der Auswärtsverpflegung sparen – dürfen solche Programme seither
noch kosten. Im Thurgau spricht man von einem «Kollateralschaden». Plötzlich
sah die ganze Schweiz die Schullager gefährdet – ein unbeabsichtigtes neues
Problem. Nur die Kosten der sprachlichen Integration, das eigentliche Anliegen
breiter politischer Kreise im Kanton, waren kein Thema mehr.
Zahlreiche
Kinder betroffen
Das
soll sich jetzt ändern. Und wie vor fünf Jahren, als die Thurgauer mit ihrem –
mittlerweile revidierten – Entscheid zur Abschaffung des Frühfranzösisch einen
Sprachenstreit auslösten, soll die Frage nun auf nationaler Ebene geklärt
werden. Das Kantonsparlament hat im Januar mit grosser Mehrheit eine Motion verabschiedet,
die den Regierungsrat mit einer Standesinitiative beauftragt. Das Ziel: Die
Bundesverfassung soll relativiert werden. Eltern, die sich vor Schuleintritt zu
wenig um die Integration ihrer Kinder kümmern, sollen für den Deutschunterricht
oder für Dolmetscher bei Elterngesprächen bezahlen müssen.
Zahlen
aus der Kantonshauptstadt Frauenfeld zeigen, wie verbreitet die Sprachprobleme
der Kinder sind. Dort mussten im Jahr 2014 von den 480 Kindergärtlern 35
Prozent zum Deutschunterricht. Davon hatten 42 Prozent einen Schweizer Pass, so
Schulpräsident und SVP-Kantonsrat Andreas Wirth. In Schrepfers
7800-Einwohner-Gemeinde Sirnach waren es 2015 gar 75 Prozent der
Deutschschüler, die in der Schweiz geboren waren oder deren Eltern schon länger
als zehn Jahre hier lebten.
«Von
solchen Familien darf man erwarten, dass ihre Kinder Deutsch sprechen», so
Schrepfer. Die Drohung, für den Deutschunterricht im Kindergarten bezahlen zu
müssen, würde Wirkung zeigen, ist er überzeugt. In Sirnach hätten doppelt so
viele Kinder die vorschulische Sprachspielgruppe besucht, als er den Eltern
eine Kostenbeteiligung im Kindergarten androhte. Ihm gehe es weder um die
Kosten von jährlich 180 000 Franken für den Deutschunterricht noch um eine
generelle Abstrafung der Ausländer, betont Schrepfer. «Flüchtlinge und erst
kürzlich Zugewanderte wären ausgenommen.» Vielmehr wolle er vermeidbare
Sprachdefizite der Kinder beheben, die sich häufig auf die ganze Schulkarriere
auswirkten.
Auch
die beiden Motionäre Hanspeter Heeb (GLP) und Kilian Imhof (CVP) betonen den
«psychologischen Effekt». «Die Massnahme ist ein Hebel, um die Integration zu
fördern», sagt Schulleiter Imhof. Und Schulpräsident Heeb spricht von einem
«Fehlanreiz, dass die Schule gratis Sprachförderung anbietet, die zuvor hätte
stattfinden müssen.» Die Forderung ist denn auch parteipolitisch breit
gestützt. Nur in den Reihen von SP, Grünen und FDP gab es teilweise Widerstand.
Skeptisch ist auch Lehrerverbandspräsident Beat W. Zemp. Mangelnde
Sprachkenntnisse seien zwar verbreitet, und es sei ein folgenreiches
Versäumnis, die Unterrichtssprache vor Schuleintritt nicht zu lernen. Aber:
«Die Standesinitiative verstösst gleich zweifach gegen die Verfassung: Schule
muss unentgeltlich sein. Und niemand darf wegen seiner Sprache diskriminiert
werden.» Das Recht auf Bildung müsse für alle Kinder unteilbar bleiben –
unabhängig vom sozioökonomischen Status der Eltern. Zudem hält er einen solchen
Verfassungspassus für willkürlich. «Wir regeln ja dort auch nicht, mit welchen
motorischen Kompetenzen ein Kind in die Schule kommen soll.»
Basel-Stadt
als Vorbild
Über
Deutschdefizite klagen auch Schulgemeinden anderer Regionen. Auf Kantonsebene
gebe es jedoch keine aggregierten Daten, wie häufig Kinder aus schon lange in
der Schweiz lebenden Familien betroffen sind, heisst es bei der
Erziehungsdirektorenkonferenz. Zudem kennen die Kantone unterschiedliche
Regelungen für solche Fälle. Als Pionierkanton gilt Basel-Stadt: Dort besteht
seit 2013 ein selektives Obligatorium für «Deutsch vor dem Kindergarten». Die
Eltern erhalten ein Jahr vor der Kindergartenanmeldung einen Fragebogen, der
den Förderbedarf eruiert. Ist der Besuch einer vorschulischen Sprachspielgruppe
erforderlich, sind die Eltern gesetzlich verpflichtet, ihr Kind an zwei
Halbtagen pro Woche dorthin zu schicken. Der Kanton übernimmt die Kosten. Sehen
die Eltern davon ab, drohen Bussen bis 1000 Franken.
Eine
gesetzliche Verpflichtung zum vorschulischen Sprachunterricht kennt auch Luzern
seit drei Jahren, wie Charles Vincent von der Dienststelle Volksschulbildung
sagt. Zürich hingegen will kein selektives Obligatorium. Das hat die
Bildungskommission des Kantonsrats Ende Januar entschieden: Weil viel mehr
Kinder betroffen wären als in Basel-Stadt, wären die Kosten zu hoch. Auch für
Bern, wo der Kanton die frühe Sprachförderung finanziell unterstützt, ist das
gemäss Erziehungsdirektion keine Option.
Im
Thurgau hingegen prüfen die führenden Bildungspolitiker dies nun parallel zur
angestrebten Verfassungsänderung. «Ich werde diese wirksame Massnahme politisch
sicher weiterverfolgen», sagt Andreas Wirth.
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