6. Januar 2019

Flexibel werden in einer dynamischen Welt


Schule muss sich wandeln! So lauten die Postulate und Visionen derNZZaS-Experten. Doch wie wird man flexibel in einer Welt im Wandel? Indem man sich ganz unflexibel elementares Können aneignet. Davon sagen sie kein Wort.
Flexibel werden in einer dynamischen Welt, Carl Bossard, 6.12.

Die Welt revolutioniert sich fleissig, das Modernisierungstempo wächst. Das spüren alle. Und da ist es wohl nur zwingend, dass Wirtschaft und Politik auch von der Schule den radikalen Wandel verlangen. Niemand soll unter die Räder der Tempo-Gesellschaft und ihrer Zivilisationsdynamik geraten. Alles soll sich ändern. Die radikale Reformkaskade der vergangenen Jahre ist die Antwort. Und sie zieht und zielt weiter.


Der flexible Mensch als Sozialfigur der Gegenwart
 „Schule im Wandel.“ Unter diesem Slogan segeln viele Vorträge und Diskussionsforen – gesteuert vom ökonomischen Imperativ: Bildung muss zeitgemäss sein, die Schule darum „wandelbar“ bleiben und sich „wandlungsfähig“ zeigen, wird gefordert. Und man formuliert flugs einige Visionen. Auch in der NZZaS vom 30. Dezember 2019. Doch solche Postulate bergen etwas höchst Problematisches in sich. Denn eines fehlt meist: ein plausibles Ziel. Es gibt nur eine Fülle von Dringlichkeiten; dazu zählen u.a. die Digitalisierung, das Kreativ-Sein und das vernetzte Denken. Schulisch macht Wandel aber nur Sinn, wenn eine Vista vom Wohin mitspielt. Innovationsrhetorik allein reicht nicht; eine Fortschrittsidee, eine Bildungsidee müsste den Wandel leiten. Sonst zerrt man nach allen Seiten – wie beim Karren in Iwan Krylows famoser Fabel mit der ironischen Überschrift „Eintracht“. Das Ergebnis: Der Karren kommt nicht voran; er bleibt stecken. Das ganze Geschehen gleicht letztlich einem amorphen Vektorhaufen.

Eines wird immer gefordert – wie ein Mantra: junge Menschen fit machen für flexible Zeiten, für die digitalisierte Zukunft, für eine Ära, in der man sich beruflich ständig verändert und neuen Aufgaben stellt. Zu den Galionsgestalten der Gegenwart gehört darum der flexible Mensch. Dieses Zauberwort, die Flexibilität, hat der amerikanische Soziologe Richard Sennet in einem luziden Buch beschrieben.[i]

Schule lebt von dem, was immer gilt
Doch wie wird man flexibel in einer Welt des permanenten Wandels? Vielleicht hilft ein Blick in Zeiten, in denen der junge Mensch noch nicht flexibel sein musste und sich ganz unflexibel einer Sache hingeben konnte – und so „zukunftstauglich“ wurde.

Was wir als Schüler „durchnahmen“, nahmen wir gründlich durch, mündlich und schriftlich, mit vielen Sinnen, präzis und diszipliniert. Ein Ding richtig können war für unseren 5./6.-Klasslehrer wichtiger als Halbheiten im Hundertfachen. Was Goethe sinngemäss sagte, lebte er und verlangte es. Nicht vielerlei treiben, sondern eine Sache intensiv und genau! – Non multa, sed multum!, hiess es bei Plinius. In zwei Jahren schrieben wir über 20 Aufsätze. Jede Arbeit hat er sauber korrigiert und mit jedem Einzelnen seiner 50 Schüler persönlich besprochen – immer mit Blick auf korrektes und kohärentes Schreiben. Das bedeutete für ihn die Korrektur von mehr als tausend Texten.

Intelligenzen für die Zukunft – Aufbau von Strukturwissen
Es war eine strenge Schule, fordernd und anspruchsvoll, bemüht um elementares Basiswissen und intensives Training alter Qualitäten: lesen, rechnen, denken, fantasieren – eine Bildung, die sich ganz unflexibel einer Sache und ursprünglicher Erfahrung hingab. Unser Primarlehrer verkörperte und verlangte vielleicht etwas von dem, was der Kognitionsforscher Howard Gardner als Intelligenzen für das 21. Jahrhundert formuliert: diszipliniertes und kreatives Arbeiten und Denken.

Sein Unterricht hat uns flexibel gemacht für eine kommende Welt im Wandel: Flexibilität als Ergebnis der Unflexibilität. Warum? Er vermittelte uns wichtiges Faktenwissen und überprüfte es. Immer und immer wieder. Wir mussten die Fakten kennen. Dieses reproduzierbare Detailwissen hat unser Lehrer aber systematisch in Strukturwissen überführt. Sein Credo: Wissen muss geordnet und verstanden werden – und erst noch gut begründet werden können. So führte er uns zum Denken und Problemlösen – und zu einem eigenen Urteil. Gleichzeitig wies uns auf Widersprüche und Zielkonflikte hin. Didaktisch gesprochen verband er Faktenwissen und kreatives Arbeiten; er verknüpfte Oberflächenverständnis und Tiefenverständnis. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar: Tiefenverständnis basiert auf Oberflächenverständnis.

Informationen im Netz – Ordnungsstrukturen im Kopf
Heute ist Faktenwissen jederzeit und überall verfügbar. Im Unterricht wird es darum marginalisiert. Die Suchmaschine weiss alles. Sie liefert Daten, Abertausende, Hunderttausende. Doch der Triumph der Informationen sollte nicht in den Verlust des Wissens führen. Das Internet nützt mir wenig, wenn ich nicht ein Minimum an Fakten im Kopf habe – und wenn ich nicht über das Strukturwissen verfüge, um das, was die Suchmaschine liefert, nach Belang, Rang und Relevanz zu ordnen und zu verknüpfen.

Es gibt eine grundlegende Differenz zwischen dem Abrufen von Informationen und dem Verstehen einer Sache; diese Einsicht droht verloren zu gehen. Im Zeitalter des Internets werden Aneignen und Begreifen durch Finden ersetzt, geleitet von der Vorstellung: Alles, was es an Wissen gibt, ist schon da. Man muss es nur suchen. Wenn ich es gefunden habe, kommt es automatisch auf die innere Festplatte. Dann habe ich es und weiss es. Zu lernen brauche ich‘s kaum mehr; die Kunst liegt einzig darin, etwas zu finden.

„Ich verdaue es“ und verstehe darum
Doch Wissen kann ich nicht konsumieren, so wie ich mir ein Glas Wasser einflösse. Das versucht nur der Nürnberger Trichter. Schon Sokrates karikierte diesen Versuch: Es sei, wie wenn man einem Blinden das Gesicht einsetzen wolle. Das Aneignen von Wissen muss durch mich hindurchgehen; ich muss es erarbeiten, in mich einarbeiten, verarbeiten und reflektierend in Zusammenhang setzen. So entsteht Tiefenverständnis. Erst dann kann ich verstehen. Friedrich Nietzsche nannte diesen (Aneignungs-)Vorgang sinngemäss: „Ich verdaue es.“[ii] Und in diesem „Verdauen“ realisiert sich der Bildungsprozess. Bildung als angemessenes Verstehen – und Basis für Flexibilität.

Der Igel weiss von einer grossen Sache
Kürzlich stiess ich auf den uralten Spruch des griechischen Dichters Archilochos: „Der Fuchs kennt viele Dinge, der Igel aber weiss von einer grossen Sache.“ Das erinnerte mich an meinen Primarlehrer. Er lehrte uns, sich ganz einer Sache hinzugeben. Unflexibel. Nur so könnten wir uns zu einer Person entwickeln und uns ein eigenes und verlässliches Urteil bilden. Und nur so käme etwas Gutes und Grosses zustande, mahnte er. Vermutlich würde er heute beifügen: Die „grosse Sache“ entspringt nicht zwingend dem Internet. Sie entstünde vielmehr aus der unflexiblen Hingabe an eine Aufgabe – an musisch-kreative Dinge zum Beispiel, ergänzte er wohl noch. Nur so würde man flexibel. Beginnen aber müsse man ganz unflexibel.




[i] Richard Sennett (1998), Der flexible Mensch. Die Kultur des Kapitalismus. Hamburg: Berlin Verlag. (Die Originalausgabe trägt den Titel: The Corrosion of Character.)
[ii] Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), hg. von Giorgio Colli, Mazzini Montinari, Berlin/New York 1988. Bd. 11. S. 539, 608f.

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