Schule muss sich wandeln! So lauten die Postulate und Visionen derNZZaS-Experten. Doch wie wird man flexibel in einer Welt im Wandel? Indem man sich ganz unflexibel
elementares Können aneignet. Davon sagen sie kein Wort.
Flexibel werden in einer dynamischen Welt, Carl Bossard, 6.12.
Die Welt
revolutioniert sich fleissig, das Modernisierungstempo wächst. Das spüren alle. Und da ist es wohl nur zwingend, dass Wirtschaft und
Politik auch von der Schule den radikalen Wandel verlangen. Niemand soll unter
die Räder der Tempo-Gesellschaft und ihrer Zivilisationsdynamik geraten. Alles
soll sich ändern. Die radikale Reformkaskade der vergangenen Jahre ist die Antwort.
Und sie zieht und zielt weiter.
Der flexible
Mensch als Sozialfigur der Gegenwart
„Schule
im Wandel.“ Unter diesem Slogan segeln viele Vorträge und Diskussionsforen –
gesteuert vom ökonomischen Imperativ: Bildung muss zeitgemäss sein, die Schule darum
„wandelbar“ bleiben und sich „wandlungsfähig“ zeigen, wird gefordert. Und man
formuliert flugs einige Visionen. Auch in der NZZaS vom 30. Dezember 2019. Doch
solche Postulate bergen etwas höchst Problematisches in sich. Denn eines fehlt
meist: ein plausibles Ziel. Es gibt nur eine Fülle von Dringlichkeiten; dazu
zählen u.a. die Digitalisierung, das Kreativ-Sein und das vernetzte Denken. Schulisch
macht Wandel aber nur Sinn, wenn eine Vista vom Wohin mitspielt. Innovationsrhetorik
allein reicht nicht; eine Fortschrittsidee, eine Bildungsidee müsste den Wandel
leiten. Sonst zerrt man nach allen Seiten – wie beim Karren in Iwan Krylows famoser
Fabel mit der ironischen Überschrift „Eintracht“. Das Ergebnis: Der Karren
kommt nicht voran; er bleibt stecken. Das ganze Geschehen gleicht letztlich
einem amorphen Vektorhaufen.
Eines wird immer gefordert – wie ein
Mantra: junge Menschen fit machen für flexible Zeiten, für die digitalisierte
Zukunft, für eine Ära, in der man sich beruflich ständig verändert und neuen
Aufgaben stellt. Zu den Galionsgestalten der Gegenwart gehört darum der
flexible Mensch. Dieses Zauberwort, die Flexibilität, hat der amerikanische
Soziologe Richard Sennet in einem luziden Buch beschrieben.[i]
Schule lebt von
dem, was immer gilt
Doch wie wird man flexibel in einer Welt
des permanenten Wandels? Vielleicht hilft ein Blick in Zeiten, in denen der
junge Mensch noch nicht flexibel sein musste und sich ganz unflexibel einer
Sache hingeben konnte – und so „zukunftstauglich“ wurde.
Was wir als
Schüler „durchnahmen“, nahmen wir gründlich durch, mündlich und schriftlich,
mit vielen Sinnen, präzis und diszipliniert. Ein Ding richtig können war für
unseren 5./6.-Klasslehrer wichtiger als Halbheiten im Hundertfachen. Was Goethe
sinngemäss sagte, lebte er und verlangte es. Nicht vielerlei treiben, sondern
eine Sache intensiv und genau! – Non multa, sed multum!, hiess es bei Plinius. In zwei Jahren
schrieben wir über 20 Aufsätze. Jede Arbeit hat er sauber korrigiert und mit
jedem Einzelnen seiner 50 Schüler persönlich besprochen – immer mit Blick auf
korrektes und kohärentes Schreiben. Das bedeutete für ihn die Korrektur von
mehr als tausend Texten.
Intelligenzen für die Zukunft – Aufbau von Strukturwissen
Es war eine
strenge Schule, fordernd und anspruchsvoll, bemüht um elementares Basiswissen und
intensives Training alter Qualitäten: lesen, rechnen, denken, fantasieren – eine
Bildung, die sich ganz
unflexibel einer Sache und ursprünglicher Erfahrung hingab. Unser
Primarlehrer verkörperte
und verlangte vielleicht etwas von dem, was der Kognitionsforscher
Howard Gardner
als Intelligenzen für das 21. Jahrhundert formuliert: diszipliniertes und
kreatives Arbeiten und Denken.
Sein Unterricht hat uns flexibel gemacht
für eine kommende Welt im Wandel: Flexibilität als Ergebnis der Unflexibilität.
Warum? Er vermittelte uns wichtiges Faktenwissen und überprüfte es. Immer und
immer wieder. Wir mussten die Fakten kennen. Dieses reproduzierbare Detailwissen
hat unser Lehrer aber systematisch in Strukturwissen überführt. Sein Credo:
Wissen muss geordnet und verstanden werden – und erst noch gut begründet werden
können. So führte er uns zum Denken und Problemlösen – und zu einem eigenen
Urteil. Gleichzeitig wies uns auf Widersprüche und Zielkonflikte hin.
Didaktisch gesprochen verband er Faktenwissen und kreatives Arbeiten; er
verknüpfte Oberflächenverständnis und Tiefenverständnis. Das eine ist ohne das
andere nicht denkbar: Tiefenverständnis basiert auf Oberflächenverständnis.
Informationen im Netz – Ordnungsstrukturen im Kopf
Heute ist Faktenwissen jederzeit und
überall verfügbar. Im Unterricht wird es darum marginalisiert. Die
Suchmaschine weiss alles. Sie liefert Daten, Abertausende, Hunderttausende.
Doch der Triumph der Informationen sollte nicht in den Verlust des Wissens
führen. Das Internet nützt mir wenig, wenn ich nicht ein Minimum an Fakten im
Kopf habe – und wenn ich nicht über das Strukturwissen verfüge, um das, was die
Suchmaschine liefert, nach Belang, Rang und Relevanz zu ordnen und zu
verknüpfen.
Es gibt eine grundlegende Differenz zwischen dem Abrufen
von Informationen und dem Verstehen einer Sache; diese Einsicht droht verloren
zu gehen. Im Zeitalter des Internets werden Aneignen und Begreifen durch Finden
ersetzt, geleitet von der Vorstellung: Alles, was es an Wissen gibt, ist schon
da. Man muss es nur suchen. Wenn ich es gefunden habe, kommt es automatisch auf
die innere Festplatte. Dann habe ich es und weiss es. Zu lernen brauche ich‘s
kaum mehr; die Kunst liegt einzig darin, etwas zu finden.
„Ich verdaue es“ und verstehe darum
Doch Wissen kann ich nicht konsumieren, so wie ich mir ein
Glas Wasser einflösse. Das versucht nur der Nürnberger Trichter. Schon Sokrates
karikierte diesen Versuch: Es sei, wie wenn man einem Blinden das Gesicht
einsetzen wolle. Das Aneignen von Wissen muss durch mich hindurchgehen; ich
muss es erarbeiten, in mich einarbeiten, verarbeiten und reflektierend in
Zusammenhang setzen. So entsteht Tiefenverständnis. Erst dann kann ich
verstehen. Friedrich Nietzsche nannte diesen (Aneignungs-)Vorgang sinngemäss:
„Ich verdaue es.“[ii]
Und in diesem „Verdauen“ realisiert sich der Bildungsprozess. Bildung als
angemessenes Verstehen – und Basis für Flexibilität.
Der Igel weiss von einer grossen Sache
Kürzlich
stiess ich auf den uralten Spruch des griechischen Dichters Archilochos: „Der
Fuchs kennt viele Dinge, der Igel aber weiss von einer grossen Sache.“ Das
erinnerte mich an meinen Primarlehrer. Er lehrte uns, sich ganz einer Sache
hinzugeben. Unflexibel. Nur so könnten wir uns zu einer Person entwickeln und uns
ein eigenes und verlässliches Urteil bilden. Und nur so käme etwas Gutes und Grosses
zustande, mahnte er. Vermutlich würde er heute beifügen: Die „grosse Sache“ entspringt
nicht zwingend dem Internet. Sie entstünde vielmehr aus der unflexiblen Hingabe
an eine Aufgabe – an musisch-kreative Dinge zum Beispiel, ergänzte er wohl noch.
Nur so würde man flexibel. Beginnen aber müsse man ganz unflexibel.
[i] Richard Sennett (1998), Der
flexible Mensch. Die Kultur des Kapitalismus. Hamburg: Berlin Verlag. (Die Originalausgabe trägt den
Titel: The Corrosion of Character.)
[ii] Friedrich Nietzsche, Kritische
Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), hg. von Giorgio Colli, Mazzini
Montinari, Berlin/New York 1988. Bd. 11. S. 539, 608f.
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