Was muss
die Schule noch unterrichten in einer digitalisierten Welt, wo uns intelligente
Maschinen die Arbeit abnehmen? Wir haben zwölf Persönlichkeiten gefragt. Das
Resultat: Eine Vision für die Schule der Zukunft.
Schule der Zukunft: Diese sechs Kompetenzen sollten Kinder erwerben. NZZaS, 30.12. von Michael Furger und Anja Burri
Es könnte eine ganz neue Erfahrung werden für
unsere Schulen und Lehrer. Sie werden Konkurrenz bekommen. Sie werden infrage
gestellt werden, und sie werden sogar begründen müssen, weshalb es sie
überhaupt noch braucht.
Das prognostiziert einer,
den ein solcher Umbruch selbst treffen würde: Philippe Wampfler ist
Gymnasiallehrer für Deutsch in Zürich. Wampfler schreibt Bücher über die
Digitalisierung und darüber, was sie mit der Schule anstellt.
Er referiert an Tagungen
und doziert an der Universität Zürich vor künftigen Lehrkräften. Was er
voraussagt, klingt wie eine Sturmwarnung: «Mathematikaufgaben lösen, Sprachen
lernen und Adjektive üben - das kann man alles auch daheim auf dem
Tablet-Computer. Die Schule der Zukunft muss etwas anderes leisten. Etwas, was
Technologie nicht leisten kann.»
Aber was könnte das sein?
Was soll die Schule dereinst unseren Kindern oder eher Grosskindern beibringen?
Welche Kompetenzen werden wichtig sein in einer digitalen Gesellschaft, in der
- vielleicht - intelligente Maschinen viele Arbeiten übernehmen und besser
ausführen werden?
Das ist unser alternativer
Bildungsrat
Machen wir ein
Gedankenspiel: Wenn wir heute die Schule neu entwerfen könnten: Wie würde sie
aussehen?
Zwölf Menschen haben für
uns über diese Frage nachgedacht: Unternehmer, Kulturschaffende,
Wissenschafter. Wir sassen mit Schriftsteller Alex Capus bei einem Espresso in
seiner Galicia-Bar in Olten und haben den Unternehmer und Nationalrat Marcel
Dobler im Bundeshaus getroffen.
Wir fuhren an die ETH
Zürich zu Klimaforscher Reto Knutti, haben die Regisseurin Bettina Oberli
befragt und haben uns mit Christian Müller und Daniel Straub unterhalten, die
intensiv über die Schule von morgen nachdenken. Ihre Bildungsplattform
«Intrinsic» sieht die Zukunft des schulischen Lernens völlig anders: getrieben
von Eigenmotivation.
Sie und weitere Persönlichkeiten waren unser
alternativer Bildungsrat. Was sie uns erzählt und vorgeschlagen haben, haben
wir zu sechs Inhalten und Kompetenzen zusammengefasst. Darin eingeflossen ist
auch eine Umfrage, die wir Anfang Dezember bei unseren Leserinnen und Lesern
durchgeführt haben.
Schliesslich haben wir
nachgelesen, was andere geschrieben haben, die über das Lernen der Zukunft
nachgedacht haben, etwa der Intellektuelle Yuval Noah Harari. «Was Kinder
lernen müssen, um im Jahr 2050 Erfolg zu haben», beschreibt er in seinem neuen
Buch und kritisiert: Viele Schulen konzentrierten sich zu stark darauf,
Schülerinnen und Schüler mit Wissen «vollzustopfen».
Das sei in der Vergangenheit sinnvoll
gewesen, weil Information knapp war. Heute würden wir von Informationen
überflutet. «In einer solchen Welt ist ein Mehr an Informationen so ziemlich
das Letzte, was ein Lehrer seinen Schülern vermitteln muss.» Wichtig sei es,
Informationen zu interpretieren und einzuordnen.
Der chinesische Unternehmer Jack Ma, Gründer der
Online-Plattform Alibaba, hat dieses Jahr am WEF in Davos erklärt: «Alles, was
wir in Zukunft unterrichten, muss sich von dem unterscheiden, was Maschinen
können.» Werte seien wichtig, unabhängiges Denken und Teamwork.
In dieselbe Richtung geht auch eines der
bekanntesten Konzepte für die Bildung des 21. Jahrhunderts:
Das 4-K-Modell der US-Organisation «Partnership for 21st Century Learning». 4K steht für vier zentrale
Kompetenzen: Kommunikation, Kreativität, kritisches Denken und Kollaboration.
Lernen, was Maschinen
nicht können - das war auch der Tenor unserer zwölf Experten. «Wir wissen heute
nicht, was dereinst durch künstliche Intelligenz ersetzt werden wird», sagt der
Werber Dennis Lück. Daher müsse man auf das setzen, was immer wichtig sein
werde: Kreativität und Teamwork.
Und was ist mit dem Basiswissen?
«Soziale und kreative
Kompetenzen sind der gemeinsame Nenner», sagt auch die Medienwissenschafterin
Sarah Genner. Sie hat im Auftrag der Eidgenössischen Kommission für Kinder- und
Jugendfragen ein Modell für Kompetenzen und Charakterstärken entwickelt, die
für das 21. Jahrhundert wichtig sein werden.
Neben den sozialen
Kompetenzen zählt sie auch persönliche Qualifikationen wie Selbstorganisation
und Belastbarkeit auf - und eine Reihe von Grundwerten, etwa Respekt,
Verantwortung und Loyalität. In Genners Übersicht sind aber auch klassische
fachliche Fertigkeiten wie ein kompetenter Umgang mit Texten, Zahlen und
Bildern zu finden.
Ein Grundstock an klassischem Wissen wird
also weiterhin wichtig sein: Mathematik, Lesen und Schreiben, Geschichte,
Naturwissenschaften, Wirtschaft, Politik und Fremdsprachen.
Wirtschaftsprofessorin Monika Bütler plädiert für eine Stärkung des Französischen
und besseren Mathematikunterricht. «Aber nicht zu viel», warnt
Kulturunternehmer Martin Heller. Zu detailliertes Wissen werde zu schulischem
Ballast, der Energie absorbiere für die Entwicklung anderer Qualitäten.
Keine Noten, dafür längere
Schulzeit
Einiges, was wir an
wichtigen Kompetenzen und Inhalten zusammengetragen haben, ist nicht völlig
neu. Vieles steht schon in dicken Lehrplänen und wird, je nach Schule oder
Lehrerin, auch umgesetzt. Uns geht es also nicht um ein Gegenprogramm zur
heutigen Schule, sondern um eine Priorisierung. In welche Richtung soll sich
die Schule entwickeln? Das betrifft nicht nur die Frage, was man lernen soll,
sondern auch wann und wie:
·
Schuldauer: Monika Bütler schlägt eine längere Schulpflicht vor.
Gestartet würde mit vier Jahren mit der Förderung von Sozial- und
Sprachkompetenzen. Auch die Oberstufe soll länger dauern. «Schulen haben zu
wenig Zeit, das Gelernte setzen zu lassen.»
·
Noten: «Die Zeit der Prüfungen und die Einteilung von Leistungen
in Gut und Schlecht wird vorbei sein», sagt der Ökonom Christian Müller. «Heute
fördert die Schule mit ihrem Notensystem den Durchschnitt. Ausreisser nach oben
und unten werden zurechtgestutzt. Dabei wären gerade diese für die Gesellschaft
interessant.»
·
Stundenplan: Ein paar Stunden pro Woche für ein persönliches
Lernziel zur Verfügung stellen - das schlagen gleich mehrere Experten vor.
«Schüler müssen ihre Obsessionen ausserhalb und innerhalb der Schule ausleben
können», sagt Martin Heller. Und Schriftsteller Alex Capus erklärt: «Es wird zu
wenig dafür getan, dass Kinder selber aktiv werden und eigene Interessen
verfolgen.»
·
Lehrer: «Das Bild des Lehrers als Allwissender ist veraltet»,
sagt Christian Müller. «Auch Lehrer können immer dazulernen. Sie müssen jedoch
mehr Gestaltungsraum erhalten.» Künftig wäre jede Schule anders, geprägt von
den Lehrpersonen. Jahrgangsklassen würden abgeschafft. «Jedes Kind sucht sich
unter den Lehrern eines Schulhauses seine Bezugspersonen.»
Kompetenz 1: Kreativität
1. Was gehört dazu?
Kreativität? Dafür gibt es
doch den Zeichenunterricht, Musik und Gestalten, oder? Falsch. Kreativität geht
weit über musisches Talent hinaus. Es ist die Kunst, Probleme zu lösen. Sie
steht für Erfindergeist und die Fähigkeit, quer zu denken. Laut dem World
Economic Forum ist Kreativität innert kürzester Zeit zu einer der wichtigsten
Kompetenzen im Berufsleben geworden. Kreative Menschen sind in der Lage, aus
gewohnten Denkmustern und Normen auszubrechen und so auf neue Ideen zu kommen.
2. Warum ist sie wichtig?
«Kreativität wird künftig
eine noch zentralere Rolle spielen als heute. Es ist etwas, was der Mensch dem
Computer voraushat.»
Gabriela Manser, Unternehmerin
«Es ist die wichtigste Kompetenz überhaupt. Sie ist der Ursprung bei fast allen Menschen, die weit kommen im Berufsleben.»
Marcel Dobler, Unternehmer und Nationalrat
«Die heutige Schule trainiert den Kindern Algorithmen an. Wir alle sind im Grund menschliche Algorithmen. Wir denken linear, doch das können Computer besser. Darum müssen wir hin zum queren Denken.» Dennis Lück, Werber
Gabriela Manser, Unternehmerin
«Es ist die wichtigste Kompetenz überhaupt. Sie ist der Ursprung bei fast allen Menschen, die weit kommen im Berufsleben.»
Marcel Dobler, Unternehmer und Nationalrat
«Die heutige Schule trainiert den Kindern Algorithmen an. Wir alle sind im Grund menschliche Algorithmen. Wir denken linear, doch das können Computer besser. Darum müssen wir hin zum queren Denken.» Dennis Lück, Werber
3. Wie kann man sie
lernen?
Kann man Kreativität
unterrichten, oder ist es eine Gabe? «Man kann Kreativität fördern. Es gibt
Techniken», sagt der Werber Dennis Lück. «Mach das Problem zur Lösung» oder
«Wechsle die Perspektive» sind solche Techniken.
Dass sie auch im
Schulunterricht anwendbar sind, hat Lück vor ein paar Wochen in der Zürcher
Gemeinde Oetwil am See gezeigt. Auf Einladung der Schule hat er gemeinsam mit
den Lehrkräften eine Toolbox für Kreativitätsförderung entwickelt.
Ein Produkt aus dieser
Arbeit ist der Wissens-Song: Schüler schreiben ein Lied über einen Lerninhalt,
zum Beispiel über den Satz des Pythagoras. «Produktives statt rezeptives Lernen
bringt viel mehr», sagt Lück.
Zweites Beispiel: der Superfehler. Schülerinnen und Schüler sollen eine Aufgabe möglichst schlecht lösen. «Kreativität heisst Fehler machen und daraus lernen», sagt Lück. Doch die Noten in der Schule hinderten die Kinder daran. «Noten sind ein Bestrafungssystem für Fehler. Die Idee des Superfehlers nimmt die Angst vor dem Fehlermachen.» Die Toolbox wird von den Lehrkräften in Oetwil im Unterricht bereits eingesetzt.
Zweites Beispiel: der Superfehler. Schülerinnen und Schüler sollen eine Aufgabe möglichst schlecht lösen. «Kreativität heisst Fehler machen und daraus lernen», sagt Lück. Doch die Noten in der Schule hinderten die Kinder daran. «Noten sind ein Bestrafungssystem für Fehler. Die Idee des Superfehlers nimmt die Angst vor dem Fehlermachen.» Die Toolbox wird von den Lehrkräften in Oetwil im Unterricht bereits eingesetzt.
Kompetenz 2: Empathie
1.
Was gehört dazu?
«Die härteste und
wichtigste Währung von allen», nennt es der berühmte dänische Familientherapeut
Jesper Juul. Empathie gilt als die Intelligenz des Herzens und meint die
Fähigkeit, die Gedanken, Gefühle, Wertvorstellungen und Absichten von anderen
Menschen zu erkennen und zu verstehen.
Sie ist Voraussetzung für
gelungene Kommunikation, Teamwork und Konfliktlösung, aber auch für Mitgefühl
und für das Verständnis für Menschen mit Behinderungen oder anderem sozialem
oder kulturellem Hintergrund. Mit anderen Worten: Sozialkompetenz.
2.
Warum ist sie wichtig?
«Empathie ist die zentrale
Kompetenz. Es gibt eine Tendenz zu mehr Individualismus, Egoismus und
kurzfristigem Denken. Menschen müssen in Zukunft bereit sein, auf Menschen mit
anderen Wertvorstellungen und kulturellen Hintergründen einzugehen.» Reto Knutti, Klimaforscher
«Soziale Kompetenz ist
hundertmal wichtiger als alles andere. Sie wirkt sich später existenziell
aus.» Martin Heller,
Kulturunternehmer
«Alles, was die
Gemeinschaft stärkt, ist wichtig in einer Zeit der atomisierten
Gesellschaft.» Alex
Capus, Schriftsteller
3.
Wie kann man es lernen?
Kann man Empathie lernen?
Man kann sie zumindest fördern. Schon heute gibt es Schulen, die etwa einen
gemeinsamen Sportunterricht mit einer Behindertenklasse durchführen. Im letzten
Jahr der Oberstufe setzen Jugendliche an manchen Schulen soziale Projekte um,
etwa ein Spielnachmittag im Altersheim.
Das Zürcher Seminar
Unterstrass setzt Behinderte als Klassenassistenten ein und fördert damit auch
das Verständnis für Menschen, die anders sind. Alex Capus will noch weiter
gehen: «Jeder Schüler sollte nach der Schulzeit ein Jahr lang ein Sozialprojekt
verfolgen. Das würde zu wirklicher Reife führen.»
«Kinder sollen eine
Diskussionskultur trainieren», sagt Regisseurin Bettina Oberli. «Sie sollen
lernen, wie man ein Gespräch führt. Dabei geht es um eine Haltung, die
grundsätzlich davon ausgeht, dass der andere auch recht haben kann, und dass
man selber nicht immer im Zentrum steht.» Empathie haben Schulen sogar in ihr
Leitbild geschrieben, etwa in den USA, wo Reto Knutti seine Kinder während
eines Jahresaufenthaltes zur Schule schickte. «Sie galt dort als ein Grundwert
der Erziehung.»
Kompetenz 3:
Selbstachtsamkeit
1.
Was gehört dazu?
«Am allerwichtigsten wird
die Fähigkeit sein, mit Veränderungen umzugehen und dabei das seelische
Gleichgewicht zu wahren», schreibt der Historiker Yuval Noah Harari in seinem
Buch über das 21. Jahrhundert. Das Leben der Zukunft werde von Umbrüchen
geprägt sein. Alte Verlässlichkeiten verschwinden. Der Beruf ändert sich
regelmässig. Das ist belastend.
Selbstachtsamkeit ist die
Kompetenz, sich dabei nicht zu verlieren: Vertrautes loszulassen, Neues
anzunehmen und sich selbst zu regulieren. Dazu gehören: Selbstvertrauen,
Selbstreflexion und Selbstdisziplin, der Umgang mit Druck und Stress sowie
Resilienz; die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen.
2.
Warum ist sie wichtig?
«Wer körperlich und
seelisch nicht stabil ist, ist nicht effizient. Am Ende ist Selbstachtsamkeit
also auch ein wirtschaftlicher Faktor.»Nadja
Zimmermann, Autorin
«In Zukunft werden die
Menschen weniger an zentralen Arbeitsplätzen arbeiten, sondern mobil und
selbstorganisiert. Es wird mehr denn je darum gehen, sich selbst zu
strukturieren und sich nicht zu überfordern.» Sarah Genner, Digitalisierungsexpertin
«Um an einer schwierigen
Aufgabe dranbleiben zu können, braucht es Selbstachtsamkeit. Man muss wissen,
unter welchen Bedingungen man die besten Ideen hat und was man tun muss, wenn
man bei einem Problem nicht weiterkommt.» Philippe Wampfler, Gymnasiallehrer
3.
Wie kann man sie lernen?
Die Frage «Wer bin ich und
was will ich» wird wichtiger denn je. Aber wie lernt man, auf sich selbst zu
hören? Gymnasiallehrer Philippe Wampfler kennt eine alte und immer noch
wirksame Methode: Tagebuch schreiben, und zwar in der Schule. Jeden Tag zehn
Minuten sollen reserviert werden, um sich über sich selbst Gedanken zu machen
und diese niederzuschreiben.
Der Lehrer liest die
Tagebücher nicht, sondern gibt höchstens Aufgaben, zum Beispiel: Lesen Sie
Ihren Eintrag in einer Woche noch einmal.
Selbstvertrauen aufbauen
ist schon heute ein Thema in vielen Schulen. Die Methode der «warmen Dusche»
stärkt nicht nur den Zusammenhalt, sondern auch das Selbstwertgefühl der
Kinder. Dabei schreiben oder sagen sich die Schüler gegenseitig, was sie am
anderen mögen und was seine positiven Eigenschaften sind.
Praktische Fähigkeiten der
Selbstregulierung wie etwa das selbstorganisierte Lernen werden schon heute an
vielen Schulen geübt.
Kompetenz 4: Vernetztes
Denken
1.
Was gehört dazu?
Was hängt womit zusammen?
Das zu erkennen, ist eine Kunst, die bei unseren Gesprächen und Recherchen
immer wieder als Schlüsselkompetenz genannt wurde. Sie bedeutet: eigenständig
denken, kritisch denken, ein Bewusstsein bilden für globale Entwicklungen und
Zusammenhänge.
Politisches Denken ist
Teil davon, etwa das Wahrnehmen von extremistischen oder autoritären Tendenzen.
Dazu gehört auch der Umgang mit Informationen und die Trennung von Meinungen
und Fakten.
Und schliesslich soll auch
der Sinn für die gesellschaftliche und soziale Verantwortung gefördert werden.
«Die Neugierde und der ganzheitliche Blick auf die Welt müssen möglichst lange
erhalten bleiben», sagt Kulturunternehmer Martin Heller.
2.
Warum ist es wichtig?
«Wir können die Welt nicht
mehr retten, indem wir in der Schweiz alles schön sauber und richtig machen.
Wir müssen Fähigkeiten entwickeln, darüber hinaus zu denken.» Bettina Oberli, Regisseurin
«Nicht das Wissen von
Informationen ist wichtig, sondern die Fähigkeit, sie zu prüfen. Wir müssen
lernen, die Welt so zu sehen wie sie ist, und nicht wie wir sie gern hätten.
Kinder können heute nicht früh genug lernen, Wissen und Einschätzungen von
anderen zu gewichten und einzuordnen.» Reto
Knutti, Klimaforscher
«Das Denken wird in
Zukunft ganz zentral sein für die Schule. Daraus kann sie ihre
Daseinsberechtigung ableiten.» Philippe
Wampfler, Gymnasiallehrer
3.
Wie kann man es lernen?
Kritisches, vernetztes
Denken fliesst überall ein, aber es soll auch speziell gefördert werden. Etwa
mit mehr Diskussionen. «Die Auseinandersetzung mit Haltungen und Argumenten,
die politisch werden können, hat zu wenig Gewicht in der Schule», sagt
Medienwissenschafterin Sarah Genner. «Inhaltliche Auseinandersetzungen sind das
beste Gegenmittel zu Radikalisierung im Internet.»
Vernetztes Denken und ein
globales Bewusstsein, das lerne man am besten, wenn man das Schulzimmer
verlasse, findet Alex Capus. «Die Kinder sollen so oft wie möglich raus. Wieso
nicht einmal eine Reise in ein Flüchtlingslager auf Lampedusa oder in die Heimat
des kosovarischen Klassenkameraden?»
Den Schüleraustausch über
Kontinente hinweg – das gibt es schon. Die Agentur Movetia des Bundes etwa
ermöglicht Gymnasial- und Berufsschulklassen das schweizerisch-indische
Klassenzimmer. Je eine Schulklasse aus der Schweiz und Indien setzen ein
Projekt um und besuchen sich gegenseitig.
Die
Haltung der Lehrer sei bei dieser Kompetenz ganz entscheidend, findet der
Lehrer Philippe Wampfler.«Sie müssen weg von der Vorstellung, dass sie alles wissen.» Wichtig ist vor allem, dass die Lehrer keine
Ideologie und kein bestimmtes Menschenbild verbreiten dürfen. Ideologien sollen
als Varianten einer möglichen Haltung behandelt werden.
Kompetenz 5: Natur und
Klima
1. Was gehört dazu?
Die Klimaerwärmung geht
weit über geografische, physikalische und biologische Aspekte hinaus. In diesem
Kompetenzbereich geht es aber nicht nur um Wissen, sondern stark auch um
Naturerfahrungen, Tierschutz, Konsum und den Umgang mit unseren Ressourcen.
2.
Warum ist es wichtig?
«Das Gegenprogramm zur Digitalisierung.» Nadja Zimmermann, Autorin
«Die Technologie hat es
überflüssig gemacht, Hauptstädte und Flüsse auswendig zu lernen. Diese frei
gewordene Kapazität sollte für Umwelt- und Klimathemen genutzt werden.» Bettina Oberli, Regisseurin
«Es wäre falsch, den Bezug
zur Natur vollständig an die Eltern zu delegieren. Die Schule soll dazu einen
Beitrag leisten.»
Martin Heller, Kulturunternehmer
Martin Heller, Kulturunternehmer
3.
Wie kann man es lernen?
Wie diese Inhalte
vermittelt werden sollen, darüber sind sich viele in unserem «Bildungsrat
einig: In der Praxis. «Mal ein paar Tage im Freien ohne Elektrizität
auskommen», schlägt Alex Capus vor. Und fügt an: «50 Kilometer laufen, eine
Blache aufspannen und Suppe über dem Feuer kochen.»
Die Schule solle einen
Hühnerhof und ein Bienenhaus bewirtschaften. «Und dann heisst es aber auch: ‹So
Kinder, jetzt gehen wir schlachten.›» Dem Schulgarten zu einem Comeback
verhelfen, bringt Autorin Nadja Zimmermann ein. Wieder lernen, wie es ist,
sich selbst zu versorgen oder ein paar Tage draussen im Wald zu leben.
Klimawissenschafter Reto
Knutti will das Thema Umwelt grösser aufziehen und Zusammenhänge aufzeigen:
Frösche im Biotop studieren und damit thematisieren, welche Funktion das Biotop
im Ökosystem hat und was das mit dem Aussterben von Tierarten und der Rolle des
Menschen zu tun hat.»
Kompetenz 6: Digitales
Leben
1.
Was gehört dazu?
Das Thema ist omnipräsent:
die Interaktion mit künstlicher Intelligenz, die Chancen und Risiken der
Digitalisierung und der Umgang mit elektronischen Daten. «Bei uns an der
Universität St. Gallen sind die Kurse zum Thema Daten jeweils sofort
ausgebucht», sagt Wirtschaftsprofessorin Monika Bütler.
Zur Datenkompetenz gehören
auch die Fähigkeit, Daten und Statistiken zu analysieren, und Grundkenntnisse
im Codieren und Programmieren.
2.
Warum ist es wichtig?
«Es geht vor allem darum,
zu lernen, wie Digitalisierung zustande kommt.» Monika Bütler, Wirtschaftsprofessorin
«Es braucht ein
Grundverständnis dafür, wie sogenannt intelligente Maschinen funktionieren, um
sie sinnvoll und ethisch vertretbar einsetzen zu können.» Sarah Genner, Digitalisierungsexpertin
«Die Nutzung der Geräte
lernen die Kinder von alleine, aber sie müssen verstehen, was die Digitalisierung
kulturell ermöglicht. Noch nie waren so viele materielle Möglichkeiten
vorhanden wie heute. Jobs in einer hierarchischen Struktur mit Dienst nach
Vorschrift wird es kaum mehr geben. Darin müssen sich Kinder
zurechtfinden.» Christian
Müller, Ökonom
3.
Wie kann man es lernen?
Wie man digitale Geräte
nutzt, wissen Kinder und Jugendliche wahrscheinlich besser als Erwachsene.
Schriftsteller Alex Capus fordert denn auch, das Smartphone in den Unterricht
einzubeziehen.
«Das Mobiltelefon ist ein
grossartiges Informationsrelais.» Aber man müsse es in der Schule aktiv bewirtschaften.
Stattdessen gelte ein Handyverbot. «Die Schule heute», sagt Capus, «ist der
unmodernste, technologiefeindlichste Ort überhaupt.»
Schüler aber müssen
lernen, was sie besser können als Maschinen, sagt Lehrer Philippe Wampfler. «Um
die Grenzen von Maschinen kennenzulernen, programmiert man sie am besten
selbst. Lassen wir doch die Schüler ein Programm schreiben für eine flexible
Pausenglocke, die erst läutet, wenn die Diskussion im Klassenzimmer fertig ist.
So lernt man die Grenzen von künstlicher Intelligenz kennen.»
Überhaupt das
Programmieren: Soll man das in Zukunft in der Schule lernen, wo doch die
meisten blosse Anwender sind? Nein, findet Unternehmer Marcel Dobler. Die
Bedeutung des Programmierens für alle werde überhöht.
Ja, findet dagegen
Wirtschaftsprofessorin Monika Bütler, denn dem Programmieren liege die
Fähigkeit des logischen Denkens zugrunde und damit eine wichtige Fähigkeit.
Was kommt heraus, wenn zwölf "Experten" über die zukünftige Ausrichtung der Schule nachdenken? Sehr viel Wohlgemeintes und sehr viel Vages. Niemand stellt sich die Frage, ob damit die Schule nicht hoffnungslos überfordert ist. Jeder kennt etwas, das man dringendst auch noch der Schule aufbürden müsste. Doch niemand will sich die Finger verbrennen an der Frage, was denn konsequenterweise gestrichen werden müsste. Wie wäre es, wenn man statt Hirngespinsten nachzurennen, einmal klar und deutlich die real existierenden schlimmsten Mängel benennen und zuerst einmal dort Abhilfe schaffen würde? Nach getaner Arbeit kann man sich dann mit voller Kraft den Visionen zuwenden.
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