31. Dezember 2018

Kants vier Erziehungsziele


Über kaum ein Thema wird so heftig gestritten wie über die Erziehung, dabei weit mehr über die in der Familie als die in der Schule, und über die Qualität der zuständigen Lehrer. Aus mehreren Gründen dürfen hier nicht bloss die Lehrer selber sowie die Pädagogikdozenten und Schulbehörden mitreden: Schulpolitisch, drüber hinaus gesellschaftspolitisch, ist es erlaubt, sogar geboten, weil jeder Mensch in der Schule viele Jahre seines Lebens verbringt, in dieser Zeit zukunftsweisend Weichenstellungen vornimmt oder solche an ihm vorgenommen werden. Hoffentlich mehr positiv, nicht selten aber auch negativ wird dabei jeder tief geprägt, allerdings nicht nur von seinen Lehrern, sondern auch von den Mitschülern.
Worin besteht eine gute Erziehung? NZZ, 31.12. von Otfried Höffe


Nicht weniger sprechen demokratische Gründe für eine Fach- und Organisationsgrenzen überschreitende Debatte. Denn Schulen sollen sowohl mit ihren Curricula als auch ihrer sozialen Atmosphäre helfen. Schliesslich darf man den gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Gesichtspunkt nicht vergessen, dass die Schule mitlaufend, wenn auch bitte nicht vordringlich zur Ausbildung und damit zum Lebensunterhalt beiträgt. In einer guten Schule lernt man jedenfalls Haltungen wie Gerechtigkeit.

Zur Entschärfung des häufig erbitterten Streits über eine gute schulische Erziehung empfiehlt sich der Blick auf einen Philosophen, der ab dem Alter von acht Jahren eine der damals besten, religiös aber streng reglementierten Schulen Deutschlands, das königliche Friedrichskollegium, besuchte. Obwohl selber ein guter Schüler, denkt der Weltbürger aus Königsberg, Immanuel Kant, noch im hohen Alter an die «Jugendsklaverei» dieser «Pietisten-Herberge» «mit Schrecken und Bangigkeit» zurück. Als zweite Stimme sei ein philosophischer Schriftsteller gehört, der zwei Jahrhunderte später dank glücklichen Erfahrungen von seinem Lehrer «schwärmt».

Aufklärung durch vier Erziehungsziele
Wie nur wenige wissen, ist der überragende Philosoph der Neuzeit, Immanuel Kant, nicht bloss ein Erkenntnistheoretiker, ferner Moral-, Rechts- sowie Geschichts- und Religionsphilosoph. In sein enzyklopädisch weites Denken fällt auch die «Erziehungskunst», über die er in Kenntnis der damals aktuellen Reformpädagogik und unter Bezug auf Rousseaus Werk «Über die Erziehung» vier Mal öffentliche Vorlesungen hält.
Kant gemäss darf der Mensch im Laufe der Erziehung nicht «bloss dressiert, abgerichtet, mechanisch unterwiesen» werden. Denn gute Erziehung bezweckt Aufklärung. Darunter ist nicht zu verstehen, was der Ausdruck metaphorisch bedeutet: in eine bisher verworrene Welt Klarheit oder in eine bisher dunkle Welt Licht zu bringen. Denn letztlich zählen für die Aufklärung weder Kenntnisse noch kognitive Eigenschaften, sondern charakterliche Leistungen. Gemäss Kants vielzitiertem «Wohlspruch der Aufklärung» – «Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!» – kommt es auf jene geistige Anstrengung und Courage, die das Entscheidende, das selbständige Denken, ermöglicht, an.

Offensichtlich ist der Weg zu diesem Ziel nicht leicht. Nach Kant findet er in vier sachlich aufeinander aufbauenden Stufen statt. Die Erziehung, die nicht aus zufälligen Vorlieben, sondern aus gut begründeten Prinzipien zu erfolgen habe, beginne mit der Disziplinierung. Denn in seinen jungen Jahren – das müssen Lehrer wie Eltern insbesondere während der Pubertätszeit oft genug erfahren, nicht selten auch noch später – folgt der Mensch gern seinen Launen, den jeweiligen Einfällen und Flausen, zu denen nicht selten eine Mutwilligkeit hinzukommt. Schüler wollen die Geduld ihrer Lehrer austesten, sogar ihre Autorität infrage stellen, weshalb Disziplinschwierigkeiten das gesamte Lehrerdasein zu begleiten pflegen.

Letztlich kommt es bei der Disziplin aber nicht darauf an, den Eltern und Lehrern den Umgang mit den ihnen anvertrauten Jugendlichen zu erleichtern. Vielmehr geht es um das Wohl der Heranwachsenden. Um der Fähigkeit willen, selber Ziele und Wege ihres Lebens zu wählen, müssen sie nicht etwa alle spontanen Antriebskräfte unterdrücken, wohl aber von ihrem etwaigen Despotismus frei werden.

Kultivieren, zivilisieren ...
Die laut Kant nächste Stufe steht beim Schulunterricht häufig im Vordergrund: die Vermittlung von zunächst elementaren Fertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen, später von anspruchsvolleren Fähigkeiten, weiterhin von Kenntnissen und anderen «Stoffen». Im Blick auf die Verwendbarkeit für vielfältige Zwecke spricht Kant von Kultivieren. In diesem grundlegenderen Sinn ist nicht kultiviert, wer sich durch gute Umgangsformen auszeichnet, sondern wer, von einer zu engen Bindung an die Bedürfnisse der Gegenwart frei, sich dank vielfältigen Geschicklichkeiten für eine sich wandelnde Welt vorbereitet, wer für sie offen ist.

Die dritte Erziehungsstufe kann mit Kant «Zivilisieren» heissen, weil man hier zum Bürger zu erziehen ist. Allerdings genügt es nicht, ein mündiger Staatsbürger zu werden, man muss zum umfassenden Mitbürger werden. Dazu gehört eine Fähigkeit, die manche Pädagogik unter-, andere überbewertet. Man muss für seinen eigenen Lebensunterhalt sorgen können. Aus diesem Grund muss der Heranwachsende durchaus im Gegensatz zu einer Ökonomisierung von Bildung und Ausbildung spielen dürfen. Das Kind soll aber auch, betont Kant, arbeiten lernen.

Der gute Bürger braucht nicht nur die Charaktermerkmale, die manche Pädagogik ausschliesslich betont und die nach Kant zu der vierten, krönenden Stufe, der Moralisierung, gehört: Ehrlichkeit, Fairness, Mitgefühl und soziale Verantwortung. Denn es ist zweifellos richtig, dass der Mensch kein Tausendkünstler werden darf, der sich zwar auf alles versteht, sich aber auch gewissenlos auf alles einlässt. Das verhindert die zusätzliche Stufe einer Erziehung zur Moral. Nicht minder wichtig sind Charaktereigenschaften, die zu einem erfolgreichen Leben genauso erforderlich sind, die der realitätsoffene Moralphilosoph Kant daher nicht unterschlägt: Menschen wollen sich hervortun. Nicht nur im Sport, sondern auch in anderen Schulfächern wollen sie die Mitschüler überflügeln und auf keinen Fall das bemitleidenswerte Schlusslicht bilden.

Zu diesem Zweck, aber nicht seinetwegen allein muss ein guter Lehrer fähig sein, die Schüler zu den ihnen möglichen Höchstleistungen zu motivieren. Dabei sind Elemente von Wettbewerb nicht a priori auszuschliessen. Gemäss Kants Formel der ungeselligen Geselligkeit ist der Mensch nämlich sowohl ein Kooperations- als auch ein Konkurrenz- und Konfliktwesen. Und nur wegen dieser Doppelnatur sieht sich der Heranwachsende herausgefordert, auch unter Anstrengungen seine eigenen Talente zu entfalten und sowohl sich selbst als auch der Gesellschaft zum Aufblühen zu verhelfen.

Einer der späteren grossen Philosophen, Pädagogen und Sozialreformer, John Dewey, bekräftigt mit eigenen Worten das kantische Programm. In seiner auf die Demokratie orientierten Erziehungstheorie, die weltweiten Einfluss erlangt, führt er in der «Einleitung in die Philosophie der Erziehung» von «Democracy and Education» drei Generalziele an, die Kants Zielen nahekommen: Es sind die Entwicklung menschlicher Fähigkeiten (Kants Kultivierung), die gesellschaftliche Nützlichkeit des Erziehungsprogramms und die kulturelle Bereicherung im Sinne einer gesteigerten Fähigkeit, Sinnbedeutungen zu verstehen und mit ihnen kreativ umzugehen, was in etwa Kants Zivilisierung entspricht.

Dabei ist Kants erste Aufgabe, die Disziplinierung, als Vorstufe wie selbstverständlich vorausgesetzt. Kants Endziel jedoch, die vierte Stufe, die der Moralität, fehlt bei Dewey. In unseren Zeiten, die die Ethik auf Sozialethik zu verkürzen pflegen, droht einer Pädagogik, die Deweys Konzept übernimmt, die Gefahr, sich bei der Erziehung mit persönlichem und politischem Wohl zufriedenzugeben und beispielsweise den Pflichten des Menschen gegen sich nicht das ihnen gebührende Gewicht anzuerkennen.

Ein idealer Lehrer
Viele Erwachsene denken an ihre Schulzeit mit Unwillen und Enttäuschung, mit Erfahrungen von Frustration und Unterdrückung zurück. Glücklich hingegen und für sein Leben lang positiv geprägt ist, wer auf einer Erfahrung wie Albert Camus aufbauen kann. Wie Kant stammt auch Camus aus einfachen Verhältnissen. In seinem autobiografischen Roman «Der erste Mensch» schreibt er, dass die Schule ihm und seinen Mitschülern «nicht nur eine Ausflucht aus dem Familienleben bot». Obwohl man diesen Aspekt nicht unterschätzen darf: dass die Schule teils trotz, teils sogar wegen ihrer alltäglichen Unvollkommenheiten auch motiviert, Auswege daraus zu suchen.

Camus jedenfalls fand, was in den oft verbitterten Klagen über die Schule zu kurz kommt: Der Unterricht kann in den Schülern «einen Hunger, der für das Kind wesentlicher als für den Erwachsenen war, den Hunger nach Entdeckung», wecken. Das Gegenbild stellten nach Camus’ Ansicht die «anderen Klassen» dar. Dort lehrte man die Schüler, so vermutete er, «wahrscheinlich vieles, aber ein wenig so, wie man Gänse mästet», was an Kants Verdikt gegen Dressieren, Abrichten und mechanisches Unterweisen erinnert. In Camus’ eigener, in Monsieur Germains Klasse jedoch fühlten die Schüler «zum ersten Mal, dass sie existierten und Gegenstand höherer Achtung waren». Dafür brauchte der Lehrer weder fromme Worte noch vehemente Ermahnungen, vielmehr jene Haltung der Achtung, die auch lernunwillige und widerborstige Schüler zu motivieren vermag: «Man hielt sie für würdig, die Welt zu entdecken.»

Bei Camus tauchen weitere Elemente eines vorbildlichen Lehrerethos auf, vor allem zwei Elemente einer erziehungsspezifischen Toleranz. Ein guter Lehrer, so das erste Argument, indoktriniert nicht. Obwohl laut Camus sein Lehrer «antiklerikal wie viele seiner Kollegen» war, «sagte (er) im Unterricht doch nie ein einziges Wort gegen die Religion oder gegen etwas, was eine Wahl oder Überzeugung betraf». Aber, so das zweite Element eines vorbildlichen Lehrerethos: «Er verurteilt umso vehementer, was indiskutabel war, nämlich Diebstahl, Denunziation, Taktlosigkeit, Unaufrichtigkeit.»

Fraglos kann bei einem ungeliebten Lehrer dieses Verurteilen auf taube Ohren, sogar auf innere Ablehnung stossen. Bei einer vorbildlichen Lehrerpersönlichkeit droht diese Gefahr jedoch nicht. Im Gegenteil wird man angespornt, all diese Dinge nie zu tun, weder zu stehlen noch zu denunzieren, weder taktlos noch unanständig zu sein, und ein mutwilliges Stören des Unterrichts kommt keinem in den Sinn. Dass nicht jeder eine so herausragende Lehrerpersönlichkeit wie Camus’ Monsieur Germain sein kann, ist naheliegend. Weniger als ein guter Lehrer darf aber niemand sein.

Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und leitet die Forschungsstelle Politische Philosophie an der Universität Tübingen. Als Letztes erschienen bei C. H. Beck: «Geschichte des politischen Denkens. Zwölf Porträts und acht Miniaturen» und «Die hohe Kunst des Alterns. Kleine Philosophie des guten Lebens».


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