Über kaum ein Thema wird so heftig gestritten wie über die Erziehung,
dabei weit mehr über die in der Familie als die in der Schule, und über die
Qualität der zuständigen Lehrer. Aus mehreren Gründen dürfen hier nicht bloss
die Lehrer selber sowie die Pädagogikdozenten und Schulbehörden mitreden:
Schulpolitisch, drüber hinaus gesellschaftspolitisch, ist es erlaubt, sogar
geboten, weil jeder Mensch in der Schule viele Jahre seines Lebens verbringt,
in dieser Zeit zukunftsweisend Weichenstellungen vornimmt oder solche an ihm
vorgenommen werden. Hoffentlich mehr positiv, nicht selten aber auch negativ
wird dabei jeder tief geprägt, allerdings nicht nur von seinen Lehrern, sondern
auch von den Mitschülern.
Worin besteht eine gute Erziehung? NZZ, 31.12. von Otfried Höffe
Nicht weniger sprechen demokratische Gründe für eine Fach- und
Organisationsgrenzen überschreitende Debatte. Denn Schulen sollen sowohl mit
ihren Curricula als auch ihrer sozialen Atmosphäre helfen. Schliesslich darf
man den gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Gesichtspunkt nicht
vergessen, dass die Schule mitlaufend, wenn auch bitte nicht vordringlich zur
Ausbildung und damit zum Lebensunterhalt beiträgt. In einer guten Schule lernt
man jedenfalls Haltungen wie Gerechtigkeit.
Zur Entschärfung des häufig erbitterten Streits über eine gute
schulische Erziehung empfiehlt sich der Blick auf einen Philosophen, der ab dem
Alter von acht Jahren eine der damals besten, religiös aber streng
reglementierten Schulen Deutschlands, das königliche Friedrichskollegium,
besuchte. Obwohl selber ein guter Schüler, denkt der Weltbürger aus Königsberg,
Immanuel Kant, noch im hohen Alter an die «Jugendsklaverei» dieser
«Pietisten-Herberge» «mit Schrecken und Bangigkeit» zurück. Als zweite Stimme
sei ein philosophischer Schriftsteller gehört, der zwei Jahrhunderte später
dank glücklichen Erfahrungen von seinem Lehrer «schwärmt».
Aufklärung durch vier Erziehungsziele
Wie nur wenige wissen, ist der überragende Philosoph der Neuzeit,
Immanuel Kant, nicht bloss ein Erkenntnistheoretiker, ferner Moral-, Rechts-
sowie Geschichts- und Religionsphilosoph. In sein enzyklopädisch weites Denken
fällt auch die «Erziehungskunst», über die er in Kenntnis der damals aktuellen
Reformpädagogik und unter Bezug auf Rousseaus Werk «Über die Erziehung» vier
Mal öffentliche Vorlesungen hält.
Kant gemäss darf der Mensch im Laufe der Erziehung nicht «bloss
dressiert, abgerichtet, mechanisch unterwiesen» werden. Denn gute Erziehung
bezweckt Aufklärung. Darunter ist nicht zu verstehen, was der Ausdruck
metaphorisch bedeutet: in eine bisher verworrene Welt Klarheit oder in eine
bisher dunkle Welt Licht zu bringen. Denn letztlich zählen für die Aufklärung
weder Kenntnisse noch kognitive Eigenschaften, sondern charakterliche
Leistungen. Gemäss Kants vielzitiertem «Wohlspruch der Aufklärung» – «Sapere
aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!» – kommt es auf
jene geistige Anstrengung und Courage, die das Entscheidende, das selbständige
Denken, ermöglicht, an.
Offensichtlich ist der Weg zu diesem Ziel nicht leicht. Nach Kant findet
er in vier sachlich aufeinander aufbauenden Stufen statt. Die Erziehung, die
nicht aus zufälligen Vorlieben, sondern aus gut begründeten Prinzipien zu
erfolgen habe, beginne mit der Disziplinierung. Denn in seinen jungen Jahren –
das müssen Lehrer wie Eltern insbesondere während der Pubertätszeit oft genug
erfahren, nicht selten auch noch später – folgt der Mensch gern seinen Launen,
den jeweiligen Einfällen und Flausen, zu denen nicht selten eine Mutwilligkeit
hinzukommt. Schüler wollen die Geduld ihrer Lehrer austesten, sogar ihre
Autorität infrage stellen, weshalb Disziplinschwierigkeiten das gesamte
Lehrerdasein zu begleiten pflegen.
Letztlich kommt es bei der Disziplin aber nicht darauf an, den Eltern
und Lehrern den Umgang mit den ihnen anvertrauten Jugendlichen zu erleichtern.
Vielmehr geht es um das Wohl der Heranwachsenden. Um der Fähigkeit willen,
selber Ziele und Wege ihres Lebens zu wählen, müssen sie nicht etwa alle
spontanen Antriebskräfte unterdrücken, wohl aber von ihrem etwaigen Despotismus
frei werden.
Kultivieren, zivilisieren ...
Die laut Kant nächste Stufe steht beim Schulunterricht häufig im
Vordergrund: die Vermittlung von zunächst elementaren Fertigkeiten wie Lesen,
Schreiben und Rechnen, später von anspruchsvolleren Fähigkeiten, weiterhin von
Kenntnissen und anderen «Stoffen». Im Blick auf die Verwendbarkeit für
vielfältige Zwecke spricht Kant von Kultivieren. In diesem grundlegenderen Sinn
ist nicht kultiviert, wer sich durch gute Umgangsformen auszeichnet, sondern
wer, von einer zu engen Bindung an die Bedürfnisse der Gegenwart frei, sich
dank vielfältigen Geschicklichkeiten für eine sich wandelnde Welt vorbereitet,
wer für sie offen ist.
Die dritte Erziehungsstufe kann mit Kant «Zivilisieren» heissen, weil
man hier zum Bürger zu erziehen ist. Allerdings genügt es nicht, ein mündiger
Staatsbürger zu werden, man muss zum umfassenden Mitbürger werden. Dazu gehört
eine Fähigkeit, die manche Pädagogik unter-, andere überbewertet. Man muss für
seinen eigenen Lebensunterhalt sorgen können. Aus diesem Grund muss der
Heranwachsende durchaus im Gegensatz zu einer Ökonomisierung von Bildung und
Ausbildung spielen dürfen. Das Kind soll aber auch, betont Kant, arbeiten
lernen.
Der gute Bürger braucht nicht nur die Charaktermerkmale, die manche
Pädagogik ausschliesslich betont und die nach Kant zu der vierten, krönenden
Stufe, der Moralisierung, gehört: Ehrlichkeit, Fairness, Mitgefühl und soziale
Verantwortung. Denn es ist zweifellos richtig, dass der Mensch kein
Tausendkünstler werden darf, der sich zwar auf alles versteht, sich aber auch
gewissenlos auf alles einlässt. Das verhindert die zusätzliche Stufe einer
Erziehung zur Moral. Nicht minder wichtig sind Charaktereigenschaften, die zu
einem erfolgreichen Leben genauso erforderlich sind, die der realitätsoffene
Moralphilosoph Kant daher nicht unterschlägt: Menschen wollen sich hervortun.
Nicht nur im Sport, sondern auch in anderen Schulfächern wollen sie die
Mitschüler überflügeln und auf keinen Fall das bemitleidenswerte Schlusslicht
bilden.
Zu diesem Zweck, aber nicht seinetwegen allein muss ein guter Lehrer
fähig sein, die Schüler zu den ihnen möglichen Höchstleistungen zu motivieren.
Dabei sind Elemente von Wettbewerb nicht a priori auszuschliessen. Gemäss Kants
Formel der ungeselligen Geselligkeit ist der Mensch nämlich sowohl ein
Kooperations- als auch ein Konkurrenz- und Konfliktwesen. Und nur wegen dieser
Doppelnatur sieht sich der Heranwachsende herausgefordert, auch unter
Anstrengungen seine eigenen Talente zu entfalten und sowohl sich selbst als auch
der Gesellschaft zum Aufblühen zu verhelfen.
Einer der späteren grossen Philosophen, Pädagogen und Sozialreformer,
John Dewey, bekräftigt mit eigenen Worten das kantische Programm. In seiner auf
die Demokratie orientierten Erziehungstheorie, die weltweiten Einfluss erlangt,
führt er in der «Einleitung in die Philosophie der Erziehung» von «Democracy
and Education» drei Generalziele an, die Kants Zielen nahekommen: Es sind die
Entwicklung menschlicher Fähigkeiten (Kants Kultivierung), die gesellschaftliche
Nützlichkeit des Erziehungsprogramms und die kulturelle Bereicherung im Sinne
einer gesteigerten Fähigkeit, Sinnbedeutungen zu verstehen und mit ihnen
kreativ umzugehen, was in etwa Kants Zivilisierung entspricht.
Dabei ist Kants erste Aufgabe, die Disziplinierung, als Vorstufe wie
selbstverständlich vorausgesetzt. Kants Endziel jedoch, die vierte Stufe, die
der Moralität, fehlt bei Dewey. In unseren Zeiten, die die Ethik auf
Sozialethik zu verkürzen pflegen, droht einer Pädagogik, die Deweys Konzept übernimmt,
die Gefahr, sich bei der Erziehung mit persönlichem und politischem Wohl
zufriedenzugeben und beispielsweise den Pflichten des Menschen gegen sich nicht
das ihnen gebührende Gewicht anzuerkennen.
Ein idealer Lehrer
Viele Erwachsene denken an ihre Schulzeit mit Unwillen und Enttäuschung,
mit Erfahrungen von Frustration und Unterdrückung zurück. Glücklich hingegen
und für sein Leben lang positiv geprägt ist, wer auf einer Erfahrung wie Albert
Camus aufbauen kann. Wie Kant stammt auch Camus aus einfachen Verhältnissen. In
seinem autobiografischen Roman «Der erste Mensch» schreibt er, dass die Schule
ihm und seinen Mitschülern «nicht nur eine Ausflucht aus dem Familienleben
bot». Obwohl man diesen Aspekt nicht unterschätzen darf: dass die Schule teils
trotz, teils sogar wegen ihrer alltäglichen Unvollkommenheiten auch motiviert,
Auswege daraus zu suchen.
Camus jedenfalls fand, was in den oft verbitterten Klagen über die
Schule zu kurz kommt: Der Unterricht kann in den Schülern «einen Hunger, der
für das Kind wesentlicher als für den Erwachsenen war, den Hunger nach
Entdeckung», wecken. Das Gegenbild stellten nach Camus’ Ansicht die «anderen
Klassen» dar. Dort lehrte man die Schüler, so vermutete er, «wahrscheinlich
vieles, aber ein wenig so, wie man Gänse mästet», was an Kants Verdikt gegen
Dressieren, Abrichten und mechanisches Unterweisen erinnert. In Camus’ eigener,
in Monsieur Germains Klasse jedoch fühlten die Schüler «zum ersten Mal, dass
sie existierten und Gegenstand höherer Achtung waren». Dafür brauchte der
Lehrer weder fromme Worte noch vehemente Ermahnungen, vielmehr jene Haltung der
Achtung, die auch lernunwillige und widerborstige Schüler zu motivieren vermag:
«Man hielt sie für würdig, die Welt zu entdecken.»
Bei Camus tauchen weitere Elemente eines vorbildlichen Lehrerethos auf,
vor allem zwei Elemente einer erziehungsspezifischen Toleranz. Ein guter Lehrer,
so das erste Argument, indoktriniert nicht. Obwohl laut Camus sein Lehrer
«antiklerikal wie viele seiner Kollegen» war, «sagte (er) im Unterricht doch
nie ein einziges Wort gegen die Religion oder gegen etwas, was eine Wahl oder
Überzeugung betraf». Aber, so das zweite Element eines vorbildlichen
Lehrerethos: «Er verurteilt umso vehementer, was indiskutabel war, nämlich
Diebstahl, Denunziation, Taktlosigkeit, Unaufrichtigkeit.»
Fraglos kann bei einem ungeliebten Lehrer dieses Verurteilen auf taube Ohren,
sogar auf innere Ablehnung stossen. Bei einer vorbildlichen
Lehrerpersönlichkeit droht diese Gefahr jedoch nicht. Im Gegenteil wird man
angespornt, all diese Dinge nie zu tun, weder zu stehlen noch zu denunzieren,
weder taktlos noch unanständig zu sein, und ein mutwilliges Stören des
Unterrichts kommt keinem in den Sinn. Dass nicht jeder eine so herausragende
Lehrerpersönlichkeit wie Camus’ Monsieur Germain sein kann, ist naheliegend.
Weniger als ein guter Lehrer darf aber niemand sein.
Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und leitet die
Forschungsstelle Politische Philosophie an der Universität Tübingen. Als
Letztes erschienen bei C. H. Beck: «Geschichte des politischen Denkens.
Zwölf Porträts und acht Miniaturen» und «Die hohe Kunst des Alterns. Kleine
Philosophie des guten Lebens».
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