21. November 2018

Fähigkeit zur Recherche schulen


Die Zukunft geht um an den Schulen – die Zukunft der Digitalisierung. Im ganzen Land werden Leitbilder und Visionen des digitalen Lernens geschrieben. Als gäbe es kein digitales Heute, soll das Morgen ganz neu sein: Lernen werde im kommenden digitalen Zeitalter individualisiert, selbstorganisiert, orts- und zeitunabhängig, kompetenzorientiert und natürlich interdisziplinär sein. In heterogenen Teams würden Probleme bearbeitet und Kreativität gelernt werden. Wenn die Schule nicht zum Relikt der Gutenberg-Galaxis verkommen wolle, müssten Lehrerinnen und Lehrer zu Coachs von Projekten werden.
Digitalisierung und Schule: pragmatische Antworten statt Visionen, NZZ, 21.11. von Andreas Pfister und Philippe Weber


Ort und Zeit
Ganz so neu ist die digitale Zukunft nicht. Die angeblich digitalen Lehr- und Lernformen stammen aus reformpädagogischen und postfordistischen Utopien der 1970er Jahre und werden nun mit einem technischen Imperativ aufgefrischt. «Digitalisierung» ist denn auch eher eine Metapher für neue Lehr- und Lernformen, die kaum einen direkten Zusammenhang mit digitalen Codes und Geräten haben. Der rhetorische Effekt der Metapher besteht darin, dass Politik und Verwaltung die Schule in einer Vergangenheit wähnen, die den Anschluss an die Zukunft zu verlieren droht.

Das Problem des gegenwärtigen Diskurses über Digitalisierung liegt darin, dass er tatsächliche Chancen und Herausforderungen des digitalen Wandels für die Schule verdeckt. Diese sind weniger mit einer utopischen Zukunft, sondern mehr mit Spannungsfeldern zu fassen, die bereits in der Vergangenheit zum schulischen Lernen gehörten.

Die oft genannte Unabhängigkeit von Ort und Zeit ist nicht neu. Das entscheidende Medium dafür war nicht das Internet, sondern das Buch. Schulbücher gibt es schon lange, und tatsächlich wurde dank dem Buch und neuerdings dem Internet vieles ausserhalb von Schulhäusern gelernt. Trotzdem gehen die Kinder und Jugendlichen weiterhin zur Schule, und trotzdem macht man Stundenpläne, bildet Klassen und beschäftigt Lehrerinnen und Lehrer. Und dies mit gutem Grund. Unter digitalen Bedingungen gilt es, schulisches und ausserschulisches Lernen möglichst produktiv zu verknüpfen.

Dass in Zeiten von Wikipedia nicht mehr Wissen, sondern Kompetenzen vermittelt werden müssten, ist ein weiterer Mythos der Digitalisierung. Das Wissen der Menschheit stand schon immer irgendwo: in den Klöstern des Mittelalters, in den Lexika des Bürgertums, heute im Internet. Taschenrechner gibt es auch schon eine Weile, trotzdem lernen die Kinder rechnen. Die digitale Zugänglichkeit von Informationen unterschiedlichster Qualität führt zu einer Rückkehr des schon oft totgesagten Lehrers: Die Fähigkeit zur Recherche wird eine entscheidende Kompetenz, sie muss geschult werden. Zugleich wird die Lehrperson als Vermittler qualitativ guten Wissens gestärkt. Die Digitalisierung erfasst beides: sowohl die Recherche als auch die Vermittlung.

Romantische Konzepte
Im gleichen Mass, wie die Maschinen Fortschritte machen, wird versucht, der Technik etwas genuin Menschliches entgegenzustellen. Romantische Konzepte, was den Menschen angeblich ausmache, etwa seine Emotionalität und Irrationalität, seine soziale Seite, haben Hochkonjunktur. Das Lernen, heisst es dann, solle sich auf das fokussieren, was nur ein Mensch könne. Diese Argumentation entspricht in etwa dem Design von Handys und Laptops, welche die Technik unter ihrer glatten Oberfläche verschwinden lassen und aus dem Versprechen, ahnungslos bleiben und einfach nutzen zu dürfen, Profit schlagen.
Junge Menschen zu Usern bzw. Konsumenten zu erziehen, ist freilich kein Bildungsziel. Vielmehr geht es um die Zielsetzungen, wie sie die neuen Fächer Medien und Informatik in der Primarschule sowie Informatik an Gymnasien formulieren: Menschen sollen befähigt werden, sich im digitalen Zeitalter autonom zu bewegen. Dieses Befähigen ist weit mehr als nur Anwendungskompetenz. Dazu gehören Kreativität, Logik, Kritik, Neugierde. An diesen Zielen orientiert sich Bildung seit dem 18. Jahrhundert. Alle Fächer müssen sich der alten Herausforderung neu stellen, ihren Beitrag den gegenwärtigen Bedingungen anzupassen.
Die Digitalisierung ist ein Angebot, um einmal mehr über Schule und Bildung nachzudenken. Dabei zeigt sich: Digitalisierung schärft nicht nur den Blick für das Neue, sondern auch für den Wert des Bestehenden. Lehrerinnen und Lehrer werden durch Digitalisierung nicht obsolet. Im Gegenteil: Als Experten des Lernens, die neu auch digitale Instrumente einsetzen, bleiben sie so wichtig wie eh und je. Man darf gespannt sein, wie sie zusammen mit den Lernenden die genannten Spannungsfelder angehen. Entscheidend für die Qualität werden nicht Visionen von Verwaltung und Politik sein, sondern Zeit und Raum, um Neues auszuprobieren.

Andreas Pfister ist Bildungsjournalist; Philippe Weber ist Dozent für Fachdidaktik Geschichte an der Universität Zürich. Sie unterrichten an der Kantonsschule Zug. 


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