Die
Zukunft geht um an den Schulen – die Zukunft der Digitalisierung. Im ganzen
Land werden Leitbilder und Visionen des digitalen Lernens geschrieben. Als gäbe
es kein digitales Heute, soll das Morgen ganz neu sein: Lernen werde im
kommenden digitalen Zeitalter individualisiert, selbstorganisiert, orts- und
zeitunabhängig, kompetenzorientiert und natürlich interdisziplinär sein. In
heterogenen Teams würden Probleme bearbeitet und Kreativität gelernt werden.
Wenn die Schule nicht zum Relikt der Gutenberg-Galaxis verkommen wolle, müssten
Lehrerinnen und Lehrer zu Coachs von Projekten werden.
Digitalisierung und Schule: pragmatische Antworten statt Visionen, NZZ, 21.11. von Andreas Pfister und Philippe Weber
Ort und Zeit
Ganz so
neu ist die digitale Zukunft nicht. Die angeblich digitalen Lehr- und
Lernformen stammen aus reformpädagogischen und postfordistischen Utopien der
1970er Jahre und werden nun mit einem technischen Imperativ aufgefrischt.
«Digitalisierung» ist denn auch eher eine Metapher für neue Lehr- und
Lernformen, die kaum einen direkten Zusammenhang mit digitalen Codes und
Geräten haben. Der rhetorische Effekt der Metapher besteht darin, dass Politik
und Verwaltung die Schule in einer Vergangenheit wähnen, die den Anschluss an
die Zukunft zu verlieren droht.
Das
Problem des gegenwärtigen Diskurses über Digitalisierung liegt darin, dass er
tatsächliche Chancen und Herausforderungen des digitalen Wandels für die Schule
verdeckt. Diese sind weniger mit einer utopischen Zukunft, sondern mehr mit
Spannungsfeldern zu fassen, die bereits in der Vergangenheit zum schulischen
Lernen gehörten.
Die oft
genannte Unabhängigkeit von Ort und Zeit ist nicht neu. Das entscheidende
Medium dafür war nicht das Internet, sondern das Buch. Schulbücher gibt es
schon lange, und tatsächlich wurde dank dem Buch und neuerdings dem Internet
vieles ausserhalb von Schulhäusern gelernt. Trotzdem gehen die Kinder und
Jugendlichen weiterhin zur Schule, und trotzdem macht man Stundenpläne, bildet
Klassen und beschäftigt Lehrerinnen und Lehrer. Und dies mit gutem Grund. Unter
digitalen Bedingungen gilt es, schulisches und ausserschulisches Lernen möglichst
produktiv zu verknüpfen.
Dass in
Zeiten von Wikipedia nicht mehr Wissen, sondern Kompetenzen vermittelt werden
müssten, ist ein weiterer Mythos der Digitalisierung. Das Wissen der Menschheit
stand schon immer irgendwo: in den Klöstern des Mittelalters, in den Lexika des
Bürgertums, heute im Internet. Taschenrechner gibt es auch schon eine Weile,
trotzdem lernen die Kinder rechnen. Die digitale Zugänglichkeit von Informationen
unterschiedlichster Qualität führt zu einer Rückkehr des schon oft totgesagten
Lehrers: Die Fähigkeit zur Recherche wird eine entscheidende Kompetenz, sie
muss geschult werden. Zugleich wird die Lehrperson als Vermittler qualitativ
guten Wissens gestärkt. Die Digitalisierung erfasst beides: sowohl die
Recherche als auch die Vermittlung.
Romantische Konzepte
Im
gleichen Mass, wie die Maschinen Fortschritte machen, wird versucht, der
Technik etwas genuin Menschliches entgegenzustellen. Romantische Konzepte, was
den Menschen angeblich ausmache, etwa seine Emotionalität und Irrationalität,
seine soziale Seite, haben Hochkonjunktur. Das Lernen, heisst es dann, solle
sich auf das fokussieren, was nur ein Mensch könne. Diese Argumentation
entspricht in etwa dem Design von Handys und Laptops, welche die Technik unter
ihrer glatten Oberfläche verschwinden lassen und aus dem Versprechen,
ahnungslos bleiben und einfach nutzen zu dürfen, Profit schlagen.
Junge
Menschen zu Usern bzw. Konsumenten zu erziehen, ist freilich kein Bildungsziel.
Vielmehr geht es um die Zielsetzungen, wie sie die neuen Fächer Medien und
Informatik in der Primarschule sowie Informatik an Gymnasien formulieren:
Menschen sollen befähigt werden, sich im digitalen Zeitalter autonom zu bewegen.
Dieses Befähigen ist weit mehr als nur Anwendungskompetenz. Dazu gehören
Kreativität, Logik, Kritik, Neugierde. An diesen Zielen orientiert sich Bildung
seit dem 18. Jahrhundert. Alle Fächer müssen sich der alten
Herausforderung neu stellen, ihren Beitrag den gegenwärtigen Bedingungen
anzupassen.
Die
Digitalisierung ist ein Angebot, um einmal mehr über Schule und Bildung
nachzudenken. Dabei zeigt sich: Digitalisierung schärft nicht nur den Blick für
das Neue, sondern auch für den Wert des Bestehenden. Lehrerinnen und Lehrer
werden durch Digitalisierung nicht obsolet. Im Gegenteil: Als Experten des
Lernens, die neu auch digitale Instrumente einsetzen, bleiben sie so wichtig
wie eh und je. Man darf gespannt sein, wie sie zusammen mit den Lernenden die
genannten Spannungsfelder angehen. Entscheidend für die Qualität werden nicht
Visionen von Verwaltung und Politik sein, sondern Zeit und Raum, um Neues
auszuprobieren.
Andreas
Pfister ist Bildungsjournalist; Philippe Weber ist Dozent für
Fachdidaktik Geschichte an der Universität Zürich. Sie unterrichten an der
Kantonsschule Zug.
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