28. Oktober 2018

Wir brauchen verbindliche Texte im Deutschunterricht


Als ich 1975 an einem hessischen Gymnasium zum ersten Mal vor einer Klasse stand, um die Schüler in deutscher Literatur zu unterrichten, war ich mit den Folgen der drei Jahre zuvor erlassenen „Hessischen Rahmenrichtlinien Deutsch“ konfrontiert. Literaturunterricht sollte nicht mehr die Interpretation der „schönen“ klassischen Literatur sein, sondern der „Umgang mit Texten“. Diesem Textbegriff war alles eins: ein Gedicht von Rilke, eine Stellenanzeige und ein Zeitungsartikel. Die „hohe“ Literatur sollte vom Sockel geholt werden, um die Benachteiligung der Schüler zu beseitigen, denen es nicht vergönnt ist, im Elternhaus mit Büchern und intellektuellen Gesprächen aufzuwachsen. Statt dem Kind aus der Unterschicht den Umgang mit Literatur wenigstens in der Schule zu ermöglichen, wurde die Literatur gleich ganz eliminiert. Aus der „Ungleichheit“ weniger wurde Ungleichheit für alle. Welch fataler Irrtum, der bis heute nachwirkt.
Unterforderung ist das Übel der Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.10. von Rainer Werner


Es gibt in Deutschland keinen verbindlichen Literaturkanon für den Deutschunterricht, der unverzichtbare Werke vorschriebe. Die Kultusminister der Länder unterbreiten lediglich „Lektürevorschläge“, aus denen sich die Lehrer im Deutschunterricht der gymnasialen Oberstufe bedienen können. Letztlich ist es also ins Belieben der Lehrer gestellt, welche Literatur sie ihren Schülern vorsetzen. Es kann durchaus passieren, dass ein deutscher Abiturient die Schule verlässt, ohne jemals ein Gedicht von Rilke, eine Novelle von Kleist oder eine Parabel von Kafka gelesen zu haben. Kann man sich das Gleiche bei englischen oder französischen Schülern vorstellen: Literaturunterricht ohne Shakespeare und Molière? Würde man unter Deutschlehrern eine Umfrage über die Frage veranstalten, ob man Schülern der gymnasialen Oberstufe die Lektüre ausgewählter hochwertiger Texte verbindlich vorschreiben sollte, bekäme man sicher eine überwältigende Zustimmung. Deutschlehrer kennen die Bedeutung guter Texte für die geistige Reifung Jugendlicher, für die Erweiterung ihres gedanklichen Horizontes. Sie kennen die Möglichkeit, mit vorbildlichen literarischen Helden ein wenig Lebenshilfe und geistige Orientierung zu bieten. Viele „fortschrittliche“ Schulpolitiker sehen solche Verpflichtungen nur als unzumutbare Quälerei von Schülern, denen man den Weg zum Abitur nicht mit „antikem Gerümpel“ verstellen dürfe.

Ich hatte nie eine Scheu davor, meine Abiturienten mit den großen Texten der deutschen Literatur zu konfrontieren. Auf dem Programm standen Goethes „Faust“ genauso wie Schillers „Wallenstein“ und Thomas Manns „Zauberberg“. Mussten sich in meiner eigenen Schulzeit die Schüler beim „Taugenichts“ von Eichendorff noch mit der Dialektik von Pflicht und Neigung auseinandersetzen, gilt der Taugenichts heute als Prototyp des selbstbestimmten, musisch begabten Hedonisten.

„Michael Kohlhaas“ von Kleist und „Die Räuber“ von Schiller eignen sich hervorragend dazu, mit idealistisch geprägten Heranwachsenden über die Selbstermächtigung des Individuums zu diskutieren. Ich hatte in den Abiturkursen heftige Debatten mit Hausbesetzern, Greenpeace-Aktivisten und Linksautonomen zu bestehen und habe es als Erfolg verbucht, wenn sie schließlich einsahen, dass das Gewaltmonopol des Staates eine zivilisierende Wirkung entfaltet, weil es das Recht des Stärkeren einhegt. Den Einsturz des „ganzen Baus der sittlichen Welt“ (Karl Moor) wollten die rebellischen Gymnasiasten bei allem Gesinnungsüberschuss dann doch nicht riskieren.

Für Jungen mit Liebeskummer bietet Goethes „Werther“ auch heute noch die ideale Möglichkeit, das ausweglose Liebesgefühl des Schwärmers auszukosten. Bei aller Verzweiflung werden sie sich schließlich an den Rat Lottes an Werther halten, sein Herz einem anderen Mädchen zuzuwenden. An keinem anderen Text können Schüler so gut lernen, wie sehr unser positives Welterleben von einem intakten Selbstgefühl abhängig ist: „Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles.“

Ich habe noch keinen Schüler erlebt, den die Schilderung des Todes des „herzigen Kindes“ Nepomuk in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ kaltgelassen hätte. Der Fünfjährige, der einen „elfenartigen Reiz“ ausstrahlt, stirbt unter grauenvollen Schmerzen an einer eitrigen Hirnhautentzündung. Große Literatur mutet ihren Lesern auch immer Großes zu: die Einsicht in die unumstößlichen Gesetzmäßigkeiten des Lebens.

Wann wäre ein Text wie Lessings „Ringparabel“ aus seinem „Nathan“ wichtiger als heute? Die Einsicht des Richters, dass sich die Echtheit der Ringe allein im praktischen Tun ihrer Träger bewähren müsse, könnte das Fundament religiöser Toleranz in unseren bewegten Zeiten sein. „Es strebe von euch jeder um die Wette,/Die Kraft des Steins in seinem Ring‘ an Tag/Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,/Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,/Mit innigster Ergebenheit in Gott/Zu Hilf’.“

Wenn man deutschen Gymnasiasten ein Glanzstück Lutherscher Bibelübersetzung, wie zum Beispiel Psalm 23 („Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“) zumutete, erlebten sie nicht nur ein Beispiel lebendiger Veranschaulichung religiöser Sachverhalte; sie lernten dabei auch die Grundlage für das metaphorische Sprechen klassischer Dichter kennen.

Im Leistungskurs Deutsch simulierte ich das „Literarische Quartett“, das vor einigen Jahren die Lesegemeinde vor den Fernsehbildschirmen versammelt hat. Drei Schüler lasen freiwillig drei deutsche Romane und diskutierten vor der Lerngruppe mit mir über deren literarische Qualität. Die Schüler wählten keine leichte Kost: „Die Deutschstunde“ von Lenz, „Das siebte Kreuz“ von Seghers und „Berlin Alexanderplatz“ von Döblin. Was viele Lehrer inzwischen lieber vermeiden, muteten sich die Schüler selbst zu: Einsamkeit des Lesens und intellektuelle Herausforderung. Warum sollte der Anspruch, den die Schule an die Schüler stellt, geringer sein als der, den sie selbst an sich stellen? Unterforderung ist das Übel unserer Zeit.

Literatur kann Heimat sein, in der sich ein geistig geprägter Mensch sein Leben lang wohl fühlt. Botho Strauß hat die Folgen geistiger Entwurzelung als „kulturellen Schmerz“ beschrieben, der einen befällt, wenn die ästhetische Überlieferung eines Volkes gekappt wird. Wer süchtig sei nach deutscher Dichtersprache, der lese den „Zauberberg“ auch zum dritten Mal. Thomas Mann sagte bei seiner Ankunft im amerikanischen Exil vor der versammelten Presse: „Wo ich bin, ist Deutschland.“ Er hatte den geistigen Fundus Deutschlands im Kopf und hätte an jedem Ort der Welt davon zehren können. Wäre eine solche Haltung bei unseren Heranwachsenden heute noch möglich?

Unser Land hat 73 Jahre nach Kriegsende eine gefestigte demokratische Kultur und eine wachsame und tolerante Zivilgesellschaft. Das solide Fundament an gesellschaftlich verankerten Werten garantiert, dass eine kulturell-ästhetische Leitkultur vor Deutschtümelei und nationaler Überheblichkeit gefeit wäre. Es ist nicht einzusehen, dass große Kulturnationen wie Frankreich, England, Italien und Spanien ihren Schülern mit großer Selbstverständlichkeit ihr kulturelles Erbe verpflichtend nahebringen, während wir aus Angst vor einem Rückfall in unselige Zeiten den kulturellen Fundus unserer Nation verleugnen. Kulturelle Selbstverleugnung aus Selbsthass ist auch eine Form von Nationalismus. Er ist nur negativ gewendet. Es gehört zu den traurigen Aporien fortschrittlicher Literaturdidaktik, die sich zu Schutzbefohlenen der Kinder aus unterprivilegierten Familien aufschwingt, dass sie diese Schüler um das betrügt, wessen sie am nötigsten bedürfen: Selbsterkenntnis und Selbstermächtigung. Für beide sind literarische Vorbilder unentbehrlich.

Der Autor unterrichtete Deutsch und Geschichte an einem Berliner Gymnasium.


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