Als ich 1975 an einem hessischen Gymnasium zum ersten Mal vor einer
Klasse stand, um die Schüler in deutscher Literatur zu unterrichten, war ich
mit den Folgen der drei Jahre zuvor erlassenen „Hessischen Rahmenrichtlinien
Deutsch“ konfrontiert. Literaturunterricht sollte nicht mehr die Interpretation
der „schönen“ klassischen Literatur sein, sondern der „Umgang mit Texten“.
Diesem Textbegriff war alles eins: ein Gedicht von Rilke, eine Stellenanzeige
und ein Zeitungsartikel. Die „hohe“ Literatur sollte vom Sockel geholt werden,
um die Benachteiligung der Schüler zu beseitigen, denen es nicht vergönnt ist,
im Elternhaus mit Büchern und intellektuellen Gesprächen aufzuwachsen. Statt
dem Kind aus der Unterschicht den Umgang mit Literatur wenigstens in der Schule
zu ermöglichen, wurde die Literatur gleich ganz eliminiert. Aus der
„Ungleichheit“ weniger wurde Ungleichheit für alle. Welch fataler Irrtum, der
bis heute nachwirkt.
Unterforderung ist das Übel der Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.10. von Rainer Werner
Es gibt in Deutschland keinen verbindlichen Literaturkanon für den
Deutschunterricht, der unverzichtbare Werke vorschriebe. Die Kultusminister der
Länder unterbreiten lediglich „Lektürevorschläge“, aus denen sich die Lehrer im
Deutschunterricht der gymnasialen Oberstufe bedienen können. Letztlich ist es
also ins Belieben der Lehrer gestellt, welche Literatur sie ihren Schülern
vorsetzen. Es kann durchaus passieren, dass ein deutscher Abiturient die Schule
verlässt, ohne jemals ein Gedicht von Rilke, eine Novelle von Kleist oder eine
Parabel von Kafka gelesen zu haben. Kann man sich das Gleiche bei englischen
oder französischen Schülern vorstellen: Literaturunterricht ohne Shakespeare
und Molière? Würde man unter Deutschlehrern eine Umfrage über die Frage
veranstalten, ob man Schülern der gymnasialen Oberstufe die Lektüre
ausgewählter hochwertiger Texte verbindlich vorschreiben sollte, bekäme man
sicher eine überwältigende Zustimmung. Deutschlehrer kennen die Bedeutung guter
Texte für die geistige Reifung Jugendlicher, für die Erweiterung ihres
gedanklichen Horizontes. Sie kennen die Möglichkeit, mit vorbildlichen
literarischen Helden ein wenig Lebenshilfe und geistige Orientierung zu bieten.
Viele „fortschrittliche“ Schulpolitiker sehen solche Verpflichtungen nur als
unzumutbare Quälerei von Schülern, denen man den Weg zum Abitur nicht mit „antikem
Gerümpel“ verstellen dürfe.
Ich hatte nie eine Scheu davor, meine Abiturienten mit den großen Texten
der deutschen Literatur zu konfrontieren. Auf dem Programm standen Goethes
„Faust“ genauso wie Schillers „Wallenstein“ und Thomas Manns „Zauberberg“. Mussten
sich in meiner eigenen Schulzeit die Schüler beim „Taugenichts“ von Eichendorff
noch mit der Dialektik von Pflicht und Neigung auseinandersetzen, gilt der
Taugenichts heute als Prototyp des selbstbestimmten, musisch begabten
Hedonisten.
„Michael Kohlhaas“ von Kleist und „Die Räuber“ von Schiller eignen sich
hervorragend dazu, mit idealistisch geprägten Heranwachsenden über die
Selbstermächtigung des Individuums zu diskutieren. Ich hatte in den
Abiturkursen heftige Debatten mit Hausbesetzern, Greenpeace-Aktivisten und
Linksautonomen zu bestehen und habe es als Erfolg verbucht, wenn sie
schließlich einsahen, dass das Gewaltmonopol des Staates eine zivilisierende
Wirkung entfaltet, weil es das Recht des Stärkeren einhegt. Den Einsturz des
„ganzen Baus der sittlichen Welt“ (Karl Moor) wollten die rebellischen
Gymnasiasten bei allem Gesinnungsüberschuss dann doch nicht riskieren.
Für Jungen mit Liebeskummer bietet Goethes „Werther“ auch heute noch die
ideale Möglichkeit, das ausweglose Liebesgefühl des Schwärmers auszukosten. Bei
aller Verzweiflung werden sie sich schließlich an den Rat Lottes an Werther
halten, sein Herz einem anderen Mädchen zuzuwenden. An keinem anderen Text
können Schüler so gut lernen, wie sehr unser positives Welterleben von einem
intakten Selbstgefühl abhängig ist: „Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch
alles.“
Ich habe noch keinen Schüler erlebt, den die Schilderung des Todes des
„herzigen Kindes“ Nepomuk in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ kaltgelassen
hätte. Der Fünfjährige, der einen „elfenartigen Reiz“ ausstrahlt, stirbt unter
grauenvollen Schmerzen an einer eitrigen Hirnhautentzündung. Große Literatur
mutet ihren Lesern auch immer Großes zu: die Einsicht in die unumstößlichen
Gesetzmäßigkeiten des Lebens.
Wann wäre ein Text wie Lessings „Ringparabel“ aus seinem „Nathan“
wichtiger als heute? Die Einsicht des Richters, dass sich die Echtheit der
Ringe allein im praktischen Tun ihrer Träger bewähren müsse, könnte das
Fundament religiöser Toleranz in unseren bewegten Zeiten sein. „Es strebe von
euch jeder um die Wette,/Die Kraft des Steins in seinem Ring‘ an Tag/Zu legen!
komme dieser Kraft mit Sanftmut,/Mit herzlicher Verträglichkeit, mit
Wohltun,/Mit innigster Ergebenheit in Gott/Zu Hilf’.“
Wenn man deutschen Gymnasiasten ein Glanzstück Lutherscher
Bibelübersetzung, wie zum Beispiel Psalm 23 („Der Herr ist mein Hirte, mir wird
nichts mangeln“) zumutete, erlebten sie nicht nur ein Beispiel lebendiger
Veranschaulichung religiöser Sachverhalte; sie lernten dabei auch die Grundlage
für das metaphorische Sprechen klassischer Dichter kennen.
Im Leistungskurs Deutsch simulierte ich das „Literarische Quartett“, das
vor einigen Jahren die Lesegemeinde vor den Fernsehbildschirmen versammelt hat.
Drei Schüler lasen freiwillig drei deutsche Romane und diskutierten vor der
Lerngruppe mit mir über deren literarische Qualität. Die Schüler wählten keine
leichte Kost: „Die Deutschstunde“ von Lenz, „Das siebte Kreuz“ von Seghers und
„Berlin Alexanderplatz“ von Döblin. Was viele Lehrer inzwischen lieber
vermeiden, muteten sich die Schüler selbst zu: Einsamkeit des Lesens und
intellektuelle Herausforderung. Warum sollte der Anspruch, den die Schule an
die Schüler stellt, geringer sein als der, den sie selbst an sich stellen?
Unterforderung ist das Übel unserer Zeit.
Literatur kann Heimat sein, in der sich ein geistig geprägter Mensch
sein Leben lang wohl fühlt. Botho Strauß hat die Folgen geistiger Entwurzelung
als „kulturellen Schmerz“ beschrieben, der einen befällt, wenn die ästhetische
Überlieferung eines Volkes gekappt wird. Wer süchtig sei nach deutscher
Dichtersprache, der lese den „Zauberberg“ auch zum dritten Mal. Thomas Mann
sagte bei seiner Ankunft im amerikanischen Exil vor der versammelten Presse:
„Wo ich bin, ist Deutschland.“ Er hatte den geistigen Fundus Deutschlands im
Kopf und hätte an jedem Ort der Welt davon zehren können. Wäre eine solche
Haltung bei unseren Heranwachsenden heute noch möglich?
Unser Land hat 73 Jahre nach Kriegsende eine gefestigte demokratische
Kultur und eine wachsame und tolerante Zivilgesellschaft. Das solide Fundament
an gesellschaftlich verankerten Werten garantiert, dass eine
kulturell-ästhetische Leitkultur vor Deutschtümelei und nationaler
Überheblichkeit gefeit wäre. Es ist nicht einzusehen, dass große Kulturnationen
wie Frankreich, England, Italien und Spanien ihren Schülern mit großer
Selbstverständlichkeit ihr kulturelles Erbe verpflichtend nahebringen, während
wir aus Angst vor einem Rückfall in unselige Zeiten den kulturellen Fundus
unserer Nation verleugnen. Kulturelle Selbstverleugnung aus Selbsthass ist auch
eine Form von Nationalismus. Er ist nur negativ gewendet. Es gehört zu den
traurigen Aporien fortschrittlicher Literaturdidaktik, die sich zu
Schutzbefohlenen der Kinder aus unterprivilegierten Familien aufschwingt, dass
sie diese Schüler um das betrügt, wessen sie am nötigsten bedürfen:
Selbsterkenntnis und Selbstermächtigung. Für beide sind literarische Vorbilder
unentbehrlich.
Der Autor unterrichtete Deutsch und Geschichte an einem Berliner Gymnasium.
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