24. Oktober 2018

Von Schweden lernen


Im Zusammenhang mit der Volksabstimmung zur Doppelinitiative «Gute Schule Graubünden» ist die schwedische Professorin Inger Enkvist zu Gast in Chur gewesen. Sie setzte das Publikum über die schwedische Volksschule ins Bild – besser gesagt über 50 Jahre Reformen und deren Folgen.
Was Graubünden von Schweden lernen kann, Bündner Tagblatt, 24.10. von Enrico Söllmann


Die Frage kam ganz zum Schluss der Veranstaltung aus dem Publikum – nachdem Inger Enkvist mit Ironie gesagt hatte: «Das waren die happy news from Sweden.» Wegen dieser eben ganz und gar nicht frohen Botschaften aus Skandinavien wollte eine Zuschauerin wissen, ob sie denn überhaupt noch zuversichtlich sei. Enkvist antwortete: «Wenn ich der Meinung wäre, nichts liesse sich ändern, würde ich nicht darüber referieren. Ich liebe die Schule, ich liebe es, zu lernen.» Die emeritierte Professorin für Spanisch an der Universität Lund reiste nach Chur auf Bitte des Komitees «Gute Schule Graubünden», über deren Doppelinitiative das Bündner Stimmvolk am 25. November entscheidet, sowie des schweizweit tätigen Komitees «Eltern für eine gute Volksschule» (BT vom 17. Oktober). Im Calvensaal zeichnete sie auf Englisch 50 Jahre Bildungsreformen und deren Auswirkungen auf die Grundschulen in Schweden nach – übersetzt von Raimund Klesse. Sie machte dabei gegenüber den rund 35 Anwesenden zu jedem Zeitpunkt klar, was auf Tatsachen und Erfahrungswerten beruht und was ihre persönliche Meinung darstellt.

Reaktionen auf Enkvists Arbeit
Vorweg hatte Enkvist dem BT erklärt, wie die sowohl positiven als auch negativen Reaktionen auf ihre Analysen des schwedischen Schulsystems konkret ausfallen. Sie, die ungebrochen Publikationen zum Thema verfasst, seien es Bücher oder auch Beiträge in den Medien. In der Regel erhält Enkvist via Telefon, Mail oder in Gesprächen ausschliesslich Zuspruch, Missbilligung hingegen entnimmt sie hauptsächlich aus den Medien. Lob kommt aus der Bevölkerung. Von Menschen, die froh sind, dass Enkvist im Gegensatz zu ihnen selbst die richtigen Worte für die Missstände findet. Anerkennung gibt es weiter von Lehrern, die selber Angst haben, sich zu exponieren, weil sie Repressalien befürchten. Und schliesslich von Personen, welche die Vergleiche mit anderen Ländern schätzen – Enkvist hat, wie sie sagte, stets über den Tellerrand hinausgeblickt und sich über Schulsysteme und Reformen in aller Welt informiert. Die kaum einmal direkt an ihre Person gerichtete Kritik ihrer Arbeit dreht sich zumeist darum, ihr die Rolle als Expertin abzusprechen. Als nicht universitär ausgebildete Pädagogin dürfe sie nicht über Bildung und Erziehung sprechen.

Wie Enkvist dann zu Beginn ihres Vortrages ohne Power-Point-Präsentationen und Manuskript ausführte, hatte Schweden in den Sechzigerjahren begonnen, sich vom klassischen Klassenunterricht zu verabschieden. Bei diesem Modell ist es die Hauptaufgabe des Lehrers, Wissen zu vermitteln. Seither nämlich krempeln Politiker im Verbund mit Pädagogen die Schule ständig um. Sie ebneten zunächst den Weg dafür, dass sich die Lehrer mehr um die Schwächeren kümmerten, und die Stärkeren im Unterricht deshalb immer weiter in den Hintergrund rückten. Bereits Mitte der Siebzigerjahre kam das Aus für die Sonderschulen, der Einzelunterricht fiel weg. Alle sollten – im Sinne der Gemeinschaft – in ein und demselben Klassenzimmer unterricht werden. Ideologie statt Inhalt, wie Enkvist im Laufe des Abends mehrfach wiederholen sollte. Und sie warf die Frage in den Raum, was passiere, wenn weitere Lehrkräfte wie etwa Heilpädagogen parallel zum Gesamtunterricht einzelne Schüler extra betreuen würden. Die Professorin antwortete trotz des erkennbaren Aha-Effekts im Publikum gleich selbst: «Der Lärmpegel steigt und mit ihm die Unaufmerksamkeit.» Die Lehrer seien zunehmend an ihre Grenzen gestossen, ihr Sorgen ignoriert worden. Plötzlich habe es im Gegensatz zu früher Burn-outs gegeben, erläuterte Enkvist gegenüber dem BT. Die Position der Lehrer sei laufend geschwächt worden, die Wissensvermittlung mehr und mehr vernachlässigt worden.

«Sie reformierten die Reformen»
Die Politik ging zwar laufend über die Bücher, ohne aber – nach Meinung von Enkvist – eine eigentliche Ursachenforschung für die Fehlentwicklungen zu betreiben. «Sie reformierten die Reformen.» Die Linke, die hauptsächlich am Drücker war, investierte Unsummen in den Ausbau des Bildungssystems. Die Rechte machte sich nach dem Vorbild der USA für einen Wettbewerb unter den Schulen stark, die mit der Vorgabe eines Globalbudgets und eines Lehrplans unabhängig schalten und walten konnten. «Es wurden wieder neue Probleme geschaffen, ohne eines zu lösen», so Enkvist. «Die Pädagogen setzten zudem die Idee ihrer postmodernen Methoden erfolgreich durch.» Grob zusammengefasst also die Abwendung von Fakten, Wahrheit und Vernunft. Gruppenarbeiten und Präsentationen seien in den Vordergrund getreten. «Die Schüler durften ihre eigenen Infos kreieren.» Rechtschreibfehler seien kaum mehr korrigiert worden.

Die Folgen: Schweden schnitt in den Pisa-Studien, bei denen die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Schulleistungen auf internationaler Ebene vergleicht, immer schlechter ab. Wobei es ab den Neunzigerjahren, als «nichts mehr vom einstigen Klassenunterricht übrig war», in den Fächern Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften exponentiell runter ging, wie Enkvist ausführte. Zum Vergleich: In führenden Pisa-Ländern wie Singapur, Japan, Taiwan und lange Zeit Finnland wird ein klassischer Unterricht gepflegt mit dem Lehrer als dominante Figur, wobei die Kinder natürlich auch Problemstellungen eigenständig zu bearbeiten haben. Als Reaktion auf die schlechten Ergebnisse forderte die Politik von der OECD, andere Fächer zu prüfen, in denen die Leistungen der schwedischen Schüler klar besser seien. Tatsächlich sei die Kreativität in Schweden gestiegen, betonte Enkvist. Als leuchtende Beispiele hierfür nannte sie das Internet-Telefonie-Unternehmen Skype sowie den Musik-, Hörbuch- und Videostreaming-Dienst Spotify, Computergames sowie die boomende Musikbranche, die auch lange Zeit nach Abba überdurchschnittlich viele Popsterne hervorbringt. Die Kehrseite der Medaille sind laut Enkvist mangelhafte Selbstdisziplin, fehlendes Verantwortungsbewusstsein und wenig bis gar keine Kontrolle des eigenen Verhaltens. Ein Oberstufenlehrer in Malmö lud einmal eine Führungskraft von McDonald’s ein, um über die Fähigkeiten zu sprechen, die es für eine Führungsrolle beim Fast-Food-Konzern braucht. Danach meinte dieser: Er würde höchstens einen der insgesamt 25 Schüler rekrutieren wollen. Die Gründe: Einige erschienen zu spät, andere hingen in den Stühlen, sassen mit Kappe da, schwatzten miteinander, spielten mit dem Telefon oder hörten einfach nicht zu. Eine 15-Jährige aus gut situiertem Hause dagegen, die den Unterricht schwänzte, weil sie im Parlament einen Streik für die Umwelt durchführte, wurde nicht nur medial als Heldin gefeiert. Sogar die Eltern sagten, sie seien stolz auf ihre Tochter. Sie sei sehr mutig. Ideologie statt Inhalt, so Enkvist erneut. «Die Jugend von heute hat sehr starke Gefühle für ihre eigenen Rechte.»

Und die Alternative?
Und welcher Weg führt aus dem Bildungsdebakel, wollte eine Zuschauerin wissen – bei der im Anschluss ans Referat engagiert geführten Fragerunde. Enkvist würde von Null beginnen und nannte die Zutaten, die ihr schulisches Rezept benötigt: neue Verhaltensregeln; Kinder der gleichen Klasse sollen auf demselben Wissensstand sein; klarer Fokus auf das Beherrschen der Muttersprache (mündlich wie schriftlich); die Oberaufsicht den Schulen überlassen, die Lehrerausbildung grundlegend neu konzipieren, die Position der Lehrpersonen stärken (auch gegenüber den Eltern). Als oberste Maxime müsste laut Enkvist gelten: Die Schule ist da, um zu lernen. Dann würde es tatsächlich wieder «happy news from Sweden» geben.


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