Im Zusammenhang mit der Volksabstimmung zur Doppelinitiative «Gute
Schule Graubünden» ist die schwedische Professorin Inger Enkvist zu Gast in
Chur gewesen. Sie setzte das Publikum über die schwedische Volksschule ins Bild
– besser gesagt über 50 Jahre Reformen und deren Folgen.
Was Graubünden von Schweden lernen kann, Bündner Tagblatt, 24.10. von Enrico Söllmann
Die Frage kam ganz zum Schluss der Veranstaltung aus dem Publikum –
nachdem Inger Enkvist mit Ironie gesagt hatte: «Das waren die happy news from
Sweden.» Wegen dieser eben ganz und gar nicht frohen Botschaften aus
Skandinavien wollte eine Zuschauerin wissen, ob sie denn überhaupt noch
zuversichtlich sei. Enkvist antwortete: «Wenn ich der Meinung wäre, nichts
liesse sich ändern, würde ich nicht darüber referieren. Ich liebe die Schule,
ich liebe es, zu lernen.» Die emeritierte Professorin für Spanisch an der
Universität Lund reiste nach Chur auf Bitte des Komitees «Gute Schule
Graubünden», über deren Doppelinitiative das Bündner Stimmvolk am 25. November
entscheidet, sowie des schweizweit tätigen Komitees «Eltern für eine gute
Volksschule» (BT vom 17. Oktober). Im Calvensaal zeichnete sie auf Englisch 50
Jahre Bildungsreformen und deren Auswirkungen auf die Grundschulen in Schweden
nach – übersetzt von Raimund Klesse. Sie machte dabei gegenüber den rund 35
Anwesenden zu jedem Zeitpunkt klar, was auf Tatsachen und Erfahrungswerten
beruht und was ihre persönliche Meinung darstellt.
Reaktionen auf Enkvists Arbeit
Vorweg hatte Enkvist dem BT erklärt, wie die sowohl positiven als auch
negativen Reaktionen auf ihre Analysen des schwedischen Schulsystems konkret
ausfallen. Sie, die ungebrochen Publikationen zum Thema verfasst, seien es
Bücher oder auch Beiträge in den Medien. In der Regel erhält Enkvist via
Telefon, Mail oder in Gesprächen ausschliesslich Zuspruch, Missbilligung
hingegen entnimmt sie hauptsächlich aus den Medien. Lob kommt aus der
Bevölkerung. Von Menschen, die froh sind, dass Enkvist im Gegensatz zu ihnen
selbst die richtigen Worte für die Missstände findet. Anerkennung gibt es
weiter von Lehrern, die selber Angst haben, sich zu exponieren, weil sie
Repressalien befürchten. Und schliesslich von Personen, welche die Vergleiche
mit anderen Ländern schätzen – Enkvist hat, wie sie sagte, stets über den
Tellerrand hinausgeblickt und sich über Schulsysteme und Reformen in aller Welt
informiert. Die kaum einmal direkt an ihre Person gerichtete Kritik ihrer
Arbeit dreht sich zumeist darum, ihr die Rolle als Expertin abzusprechen. Als
nicht universitär ausgebildete Pädagogin dürfe sie nicht über Bildung und
Erziehung sprechen.
Wie Enkvist dann zu Beginn ihres Vortrages ohne
Power-Point-Präsentationen und Manuskript ausführte, hatte Schweden in den
Sechzigerjahren begonnen, sich vom klassischen Klassenunterricht zu
verabschieden. Bei diesem Modell ist es die Hauptaufgabe des Lehrers, Wissen zu
vermitteln. Seither nämlich krempeln Politiker im Verbund mit Pädagogen die
Schule ständig um. Sie ebneten zunächst den Weg dafür, dass sich die Lehrer
mehr um die Schwächeren kümmerten, und die Stärkeren im Unterricht deshalb
immer weiter in den Hintergrund rückten. Bereits Mitte der Siebzigerjahre kam
das Aus für die Sonderschulen, der Einzelunterricht fiel weg. Alle sollten – im
Sinne der Gemeinschaft – in ein und demselben Klassenzimmer unterricht werden.
Ideologie statt Inhalt, wie Enkvist im Laufe des Abends mehrfach wiederholen
sollte. Und sie warf die Frage in den Raum, was passiere, wenn weitere
Lehrkräfte wie etwa Heilpädagogen parallel zum Gesamtunterricht einzelne
Schüler extra betreuen würden. Die Professorin antwortete trotz des erkennbaren
Aha-Effekts im Publikum gleich selbst: «Der Lärmpegel steigt und mit ihm die
Unaufmerksamkeit.» Die Lehrer seien zunehmend an ihre Grenzen gestossen, ihr
Sorgen ignoriert worden. Plötzlich habe es im Gegensatz zu früher Burn-outs
gegeben, erläuterte Enkvist gegenüber dem BT. Die Position der Lehrer sei
laufend geschwächt worden, die Wissensvermittlung mehr und mehr vernachlässigt
worden.
«Sie reformierten die Reformen»
Die Politik ging zwar laufend über die Bücher, ohne aber – nach Meinung
von Enkvist – eine eigentliche Ursachenforschung für die Fehlentwicklungen zu
betreiben. «Sie reformierten die Reformen.» Die Linke, die hauptsächlich am
Drücker war, investierte Unsummen in den Ausbau des Bildungssystems. Die Rechte
machte sich nach dem Vorbild der USA für einen Wettbewerb unter den Schulen
stark, die mit der Vorgabe eines Globalbudgets und eines Lehrplans unabhängig
schalten und walten konnten. «Es wurden wieder neue Probleme geschaffen, ohne
eines zu lösen», so Enkvist. «Die Pädagogen setzten zudem die Idee ihrer
postmodernen Methoden erfolgreich durch.» Grob zusammengefasst also die
Abwendung von Fakten, Wahrheit und Vernunft. Gruppenarbeiten und Präsentationen
seien in den Vordergrund getreten. «Die Schüler durften ihre eigenen Infos kreieren.»
Rechtschreibfehler seien kaum mehr korrigiert worden.
Die Folgen: Schweden schnitt in den Pisa-Studien, bei denen die
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die
Schulleistungen auf internationaler Ebene vergleicht, immer schlechter ab.
Wobei es ab den Neunzigerjahren, als «nichts mehr vom einstigen
Klassenunterricht übrig war», in den Fächern Lesen, Mathematik und
Naturwissenschaften exponentiell runter ging, wie Enkvist ausführte. Zum
Vergleich: In führenden Pisa-Ländern wie Singapur, Japan, Taiwan und lange Zeit
Finnland wird ein klassischer Unterricht gepflegt mit dem Lehrer als dominante
Figur, wobei die Kinder natürlich auch Problemstellungen eigenständig zu
bearbeiten haben. Als Reaktion auf die schlechten Ergebnisse forderte die
Politik von der OECD, andere Fächer zu prüfen, in denen die Leistungen der
schwedischen Schüler klar besser seien. Tatsächlich sei die Kreativität in
Schweden gestiegen, betonte Enkvist. Als leuchtende Beispiele hierfür nannte
sie das Internet-Telefonie-Unternehmen Skype sowie den Musik-, Hörbuch- und
Videostreaming-Dienst Spotify, Computergames sowie die boomende Musikbranche,
die auch lange Zeit nach Abba überdurchschnittlich viele Popsterne
hervorbringt. Die Kehrseite der Medaille sind laut Enkvist mangelhafte
Selbstdisziplin, fehlendes Verantwortungsbewusstsein und wenig bis gar keine
Kontrolle des eigenen Verhaltens. Ein Oberstufenlehrer in Malmö lud einmal eine
Führungskraft von McDonald’s ein, um über die Fähigkeiten zu sprechen, die es
für eine Führungsrolle beim Fast-Food-Konzern braucht. Danach meinte dieser: Er
würde höchstens einen der insgesamt 25 Schüler rekrutieren wollen. Die Gründe:
Einige erschienen zu spät, andere hingen in den Stühlen, sassen mit Kappe da,
schwatzten miteinander, spielten mit dem Telefon oder hörten einfach nicht zu.
Eine 15-Jährige aus gut situiertem Hause dagegen, die den Unterricht schwänzte,
weil sie im Parlament einen Streik für die Umwelt durchführte, wurde nicht nur
medial als Heldin gefeiert. Sogar die Eltern sagten, sie seien stolz auf ihre
Tochter. Sie sei sehr mutig. Ideologie statt Inhalt, so Enkvist erneut. «Die
Jugend von heute hat sehr starke Gefühle für ihre eigenen Rechte.»
Und die Alternative?
Und welcher Weg führt aus dem Bildungsdebakel, wollte eine Zuschauerin
wissen – bei der im Anschluss ans Referat engagiert geführten Fragerunde.
Enkvist würde von Null beginnen und nannte die Zutaten, die ihr schulisches
Rezept benötigt: neue Verhaltensregeln; Kinder der gleichen Klasse sollen auf demselben
Wissensstand sein; klarer Fokus auf das Beherrschen der Muttersprache (mündlich
wie schriftlich); die Oberaufsicht den Schulen überlassen, die Lehrerausbildung
grundlegend neu konzipieren, die Position der Lehrpersonen stärken (auch
gegenüber den Eltern). Als oberste Maxime müsste laut Enkvist gelten: Die
Schule ist da, um zu lernen. Dann würde es tatsächlich wieder «happy news from
Sweden» geben.
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