Die Alchemisten der Zeit vor dem 19. Jahrhundert
behaupteten, sie könnten aus unedlen Metallen mit Hilfe des Steines der Weisen Silber
und Gold herstellen. Tatsächlich beschäftigten sie sich intensiv mit allen
möglichen Grundstoffen in der Natur und legten damit einen Vorrat an Wissen an,
das die streng wissenschaftliche Chemie später von reinen Spekulationen und
Betrug unterscheiden konnte. Die Alchemisten hielten ihre Erkenntnisse geheim,
nur ihre Schüler, die Adepten, weihten sie ein.
Der Vergleich mit der Fremdsprachendidaktik unserer Tage
scheint etwas weit hergeholt. Dennoch gibt es Parallelen. Seit etwa 50 Jahren
kämpft die Fremdsprachendidaktik darum, als Wissenschaft ernst genommen zu
werden. Sie tut dies, indem sie zu ergründen sucht, wie Menschen eine
Zweitsprache, bzw. nach erworbener Mutter- oder Erstsprache eine oder mehrere
weitere Sprachen lernen. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse sollen dann im
Unterricht genutzt werden können.
Passepartout-Alchemie: Lehrmittel im Spiegel der Spracherwerbsforschung, von Felix Schmutz, 23.10.
Allerdings befindet sich die Disziplin bildlich gesprochen
immer noch in einer Übergangsphase zwischen Alchemie und Chemie. Die Forscher
versuchen, nach wissenschaftlichen Kriterien vorgehend, Teilfragen, zu denen
sie Hypothesen formuliert haben, in Studien zu überprüfen. Dabei zeigt sich,
dass die meisten Hypothesen, kaum sind sie formuliert, auf Grund weiterer
Studien wieder relativiert, verfeinert, teilweise oder sogar ganz widerlegt
werden. Gewisse Forschungsrichtungen sind schon im Ansatz unvereinbar. Von
einer gültigen Theorie des Spracherwerbs ist man nach wie vor weit entfernt.[1]
Während die Forscher unter den Didaktikern davor warnen,
ihre Hypothesen zu Teilfragen in allgemeingültige Unterrichtsprinzipien
umzumünzen[2],
bedienen sich ihre Kollegen, die Alchemisten-Didaktiker, ihrer Hypothesen, um
in Ausbildungsstätten, Handbüchern und Lehrmitteln Unterrichtskonzepte zu
schmieden mit dem Anspruch, den oft unbefriedigenden bisherigen Unterricht zu verbessern.
Sie mixen die Elemente zu einem Elixier, das den Spracherwerb wie Nektar und
Ambrosia an die Lernenden verabreichen solle. Ihre Anhänger übernehmen diese
Lehre wie wahre Adepten und verteidigen sie auch dann noch, wenn das Erz, anstatt
sich in der magischen Retorte in Gold zu verwandeln, einfach nur Rost ansetzt.
Das heisst nun umgekehrt nicht, dass die Forscher nichts
beizutragen hätten und dass die Studien nicht zu Erkenntnissen führten. In den
letzten Jahrzehnten wurde das Spektrum an Unterrichtsideen dank der
Forschungsarbeit erfreulich ausgeweitet. Es zeigt sich jedoch immer deutlicher,
dass der Zweitsprachenerwerb eine ungeheuer komplexe und vielschichtige
Angelegenheit ist, die von vielen sprachlichen, psychologischen, sozialen und kulturellen
Faktoren abhängt, so dass man ihm mit einseitigen Konzepten nicht beikommen
kann. Das eigene Sprachenlernen und die Unterrichtserfahrung bilden eine
sichere Messlatte, an die solche Konzepte der «Experten» und Handbücher stets
angelegt werden sollten. An Untauglichem sollte man nicht festhalten, nur weil
«Experten» einem dies nahelegen.[3]
Die Experten tendieren dazu, die Theorien des Spracherwerbs
in eine zeitliche Abfolge zu bringen. Sie stellen diese so dar, als ob ein
kontinuierliches Fortschreiten die früheren Erkenntnisse jeweils ablösen würde:
Übersetzungsmethode,
Strukturalismus/Behaviourismus, kommunikative Wende, kognitive Wende, soziale
Wende, Viel- oder Mehrsprachigkeitstheorie wären Stichworte in einer
solchen Abfolge. Dass jedoch auch die früheren didaktischen Konzepte wertvolle
und nach wie vor gültige Erkenntnisse gezeitigt und Unterrichtsmethoden
beigesteuert haben, gerät bei den Passepartout-Experten unter die Räder. Nicht
so in der Forschung, deren frühere Hypothesen immer wieder beigezogen werden.
Tatsächlich ergibt sich durch die genannten Ansätze eine kumulative
Bereicherung des Wissens über Spracherwerb. Ein Abwerten oder Negieren früherer
Erkenntnisse zugunsten einer modischen Neu-Hypothese bedeutet hingegen Verzicht
und Verarmung.
2. Der Stein der
Weisen: Mehrsprachigkeit
Ein Beispiel dafür ist die Mehrsprachigkeitstheorie. Das Sprachenlernen soll miteinander
«kombiniert» werden, indem Sprachvergleiche, Sprachbewusstheit («language
awareness») und das Hin-und-Herschalten («Switching») den gleichzeitigen Erwerb
mehrerer Sprachen fördern sollen. Diese Theorie ist jedoch noch sehr
unausgereift, wie selbst Experten von Passepartout feststellen.[4]
Tatsächlich ist der Nutzen von Sprachvergleichen für den
Spracherwerb wissenschaftlich bisher nicht nachgewiesen, er wird lediglich
spekulativ angenommen. Die Forschung kann zwar zeigen, dass die Methode das
theoretische Wissen über Sprache fördert, nicht aber, ob sie sich auf die
Kompetenz auswirkt. In den Passepartout-Lehrmitteln ist sie dennoch ein
konstitutiver Faktor.[5]
Die Alchemisten der Mehrprachigkeitsdidaktik berufen sich
mit Vorliebe auf die Hirnforschung. Aus der Tatsache, dass bildgebende
Verfahren, unabhängig von der gewählten Sprache L1, L2, L3 oder Ln, das
Aufleuchten gleicher Hirnareale zeigen, leiten sie ihre mantrahaft wiederholte
Behauptung ab, Sprachen seien im Gehirn «nicht getrennt», Mehrsprachigkeit
bilde eine kumulierte sprachliche «Multikompetenz», einen Katalysator, der sich
als «Synergie» in einem Unterricht nutzen liesse, wenn dieser mehrere Sprachen
gleichzeitig vermittle. Es sei nicht mehr angezeigt, Sprachen getrennt zu
lehren.
Die hier geäusserte Vorstellung, wie verschiedene Sprachen
im Gehirn neurophysiologisch repräsentiert werden, ist allerdings bis heute
nicht geklärt. Angenommen wird inzwischen vielmehr, dass sich mit dem Erwerb
der Erstsprache(n) ein neuronales Substrat bildet, das später den Erwerb
weiterer Sprachen erleichtert. Das heisst: Es entstehen gleichzeitig mit der
Ausformung des Gehirns zwischen Geburt und 3./4. Lebensjahr (Wachstum von 30%
auf 80% des Erwachsenengehirns!) kognitive Grundstrukturen, die sprachlicher
Tätigkeit nachher generell zur Verfügung stehen.[6]
Die Benützung (das Training) dieser kognitiven Strukturen
führt beim Erwerb weiterer Sprachen automatisch zum günstigen Effekt bezüglich
geistiger und sprachlicher Beweglichkeit, die bei mehrsprachigen Personen zu
beobachten ist, auch wenn die Probanden der betreffenden Studien noch nicht mit
Mehrsprachigkeitsdidaktik, sondern mit herkömmlichen Methoden unterrichtet
wurden.
Verabschiedet hat sich die Hirnforschung auch vom Gedanken, dass
sich kognitive Vorgänge auf ein Hirnareal lokalisieren lassen. Grundsätzlich
sind immer mehrere Hirnareale und Speicher beteiligt, die unterschiedliche
Funktionen ausüben. Komplexe, in Sekundenbruchteilen ablaufende Vorgänge
steuern das Verstehen, die Wortwahl, die Wahl der Redemuster und die Anwendung
im Kontext. Deshalb wird für sprachliche Verarbeitungsprozesse heute die
Metapher von Netzwerken benützt.[7]
Es ist wohl eine unzulässige
Überinterpretation, wenn aus den Daten der Hirnforschung der Schluss gezogen
wird, der Unterricht solle nicht fokussiert auf eine Sprache ausgerichtet
werden, um den Erwerb zu unterstützen. Denn gleiche kognitive Abläufe bedeuten
nicht, dass keine Trennung der Sprachen im Speichernetzwerk erfolgt. Inhalte
sind eng an die jeweilige Sprache geknüpft. Wer eine Sprache spricht, taucht in
eine ihre eigene Denkwelt ein. Assoziationen steuern
den Sprachduktus, beim
Sprechen wirkt ein sprachlicher Systemzwang. Die Konzentration auf eine
jeweilige Sprache bedeutet deshalb eine didaktisch sinnvolle Nutzung der
Lernzeit. [8]
Dies trifft auch schon auf die
sich dynamisch entwickelnde Lernersprache («interlanguage») zu. Die im
Unterricht oder in zielsprachiger Umgebung angestrebten Kompetenzen orientieren
sich an einem Referenzrahmen, der gerade nicht eine wie auch immer geartete
Mischsprache, sondern eine idealisierte Standardsprache von «native speakers» darstellt.
Bei Passepartout ergibt sich der Widerspruch, dass einerseits Wert gelegt wird
auf den kulturellen Reichtum der Zielsprachen, dieser anderseits durch
multilinguales Sprachgemisch wieder verwischt werden soll.
3. Lehrmittel
Alle Lehrmittel folgen einem Konzept und gründen auf
theoretischen Annahmen. Je mehr sich ein Lehrmittel im Innovationseifer jedoch
auf einseitige Hypothesen festlegt und je weniger es sich von langjähriger Unterrichtserfahrung
leiten lässt, desto mehr läuft es Gefahr, die Komplexität des Lernens zu
unterschätzen und an praktischer Verwendbarkeit einzubüssen. Mehrere
Lehrmittel, die auf konstruktivistischer Basis in den letzten Jahren eingeführt
wurden (Deutsch, Mathematik, Fremdsprachen) leiden unter dieser Schwäche. Am
lautesten ist jedoch die Kritik an den Fremdsprachenlehrmitteln des Projekts
Passepartout zu vernehmen.
In den Medien ist seit einiger Zeit von einem «Grabenkrieg»
zwischen Anhängern und Gegnern unter der Lehrerschaft zu lesen. Einige Journalisten
schlagen sich auf die Seite der «Alchemisten», andere halten zu beiden Lagern
eine gewisse Distanz, Behörden geben die Durchhalteparole aus. Behörden und
«Adepten» suchen angesichts der Kritik und der wenig ermutigenden Ergebnisse
ihrer Didaktik nach Ausreden: Die Gegner seien polemisch, sie verstünden nicht,
dass jetzt etwas «Anderes» gelernt werde als früher, dass im hergebrachten
Unterricht auch nicht mehr Gewinn herausgeschaut habe, dass eine wissenschaftliche
Evaluation noch ausstehe, dass es keine anderen Lehrmittel zur Erreichung der
Lernziele gebe, dass Umfragen unter den Lehrpersonen ein hohes Einverständnis
mit der neuen Didaktik zeigten, dass sich die Kinder mit Freude am Unterricht
beteiligten, dass die Gegner Ewiggestrige seien, die sich dem Neuen
verschlössen, negative Testresultate werden verharmlost, negativ ausfallende
Studien diffamiert oder verschwiegen, etc. [9]
Dennoch verpuffen die Argumente der Kritiker nicht ganz: In
hektischer Betriebsamkeit werden die Lehrmittel Mille feuilles, Clin d’oeil und
New World durch Zusatzmaterialien ergänzt: Wörterbücher und eine Grammatik
wurden entwickelt, ein Alltagswortschatz wurde erarbeitet,
Differenzierungshilfen werden im Internet zur Verfügung gestellt, die Bände 5
und 6 von Mille feuilles werden überarbeitet. Die offensichtlichen Schwächen
des Konzepts wurden erkannt und sollen jetzt therapeutisch abgemildert werden.
Dies ist jedoch noch kein Eingeständnis, dass das Konzept als Ganzes untauglich
sein könnte. Solange die Zusatzmaterialien lediglich um die Lehrmittel herum
konstruiert werden, ohne dass die grundsätzlichen Mängel angegangen werden, betreibt
man lediglich Symptombekämpfung.
An zwei Beispielen möchte ich aufzeigen, welche Freiheiten
sich die Passepartout-Experten genommen haben, um Hypothesen und empirische
Ergebnisse zu einem fragwürdigen Konstrukt zusammenzufügen, auf das sie die
Gestaltung der Lehrmittel abstützen. Für das Konzept der «Passepartout-Alchemisten»
(PPT) beziehe ich mich auf Barbara
Grossenbacher, Esther Sauer, Dieter Wolff, Mille feuilles, Neue
fremdsprachliche Konzepte, Schulverlag plus AG, 2012. Den tatsächlichen
Stand der Forschung übernehme ich der umfassenden analytischen Darstellung von Rod Ellis, Understanding Second Language
Acquisition, Second Edition, Oxford 2015, Kindle-Edition (Ellis).
3.1 Sprachkompetenz
Passepartout versteht unter Sprachkompetenz:
«Neben der kommunikativen umfasst das menschliche
Sprachvermögen eine soziale, eine interkulturelle, eine professionelle und eine
strategische Kompetenz»
«Grammatik und Wortschatz werden zu den so genannten
sprachlichen Mitteln zusammengefasst, auf die während des produktiven und
rezeptiven Gebrauchs einer Sprache immer wieder zurückgegriffen wird... Sie
werden aber der allgemeinen sprachlichen Kompetenz untergeordnet.» (PPT, S. 25)
PPT erweitert damit den Kompetenzbegriff auf weit ausserhalb
des Sprachlichen liegende Gebiete, die der Unterricht abdecken solle. Es begibt
sich tief in philosophisch-ideologische Gefilde (Vigotzky, Habermas), verstrickt
sich jedoch in einen grundlegenden Widerspruch: Soziales, interkulturelles,
professionelles und strategisches Handeln ist erst dann möglich, wenn
Spracherwerb stattgefunden hat und wenn die sprachlichen Mittel dazu auch
wirklich zur Verfügung stehen. Richtig ist zwar, dass kognitive, emotionale, soziale,
interkulturelle Faktoren den Spracherwerb beeinflussen. Von Kompetenz darf man
jedoch erst sprechen, wenn sich diese Merkmale im sprachlichen Handeln der
Lernenden spiegeln, und das ist weitgehend an Sprachform und Sprachverwendung
abzulesen.
Rezeption und Produktion von Sprache heisst Verstehen und
Anwenden von sprachlichen Ausdrucksformen. Kommunikation lässt sich nicht von
Grammatik und Wortschatz abspalten. Jede sprachliche Äusserung besteht aus
einer Form, einer Bedeutung und einer situativ geprägten Anwendung. Sprache ist
hoch strukturiert. Ohne Struktur, wofür der Begriff «Grammatik» eigentlich
steht, und ohne Wörter gibt es keine sprachliche Kommunikation, also auch keine
der Funktionen, welche der weite PPT-Kompetenzbegriff umfasst. Zwischen Inhalt
und Form besteht ein unauflöslicher innerer Zusammenhang.
Ellis stellt fest, dass die Wissenschaft eine Messlatte
braucht, um festzustellen, inwiefern Spracherwerb kurz- oder längerfristig
stattgefunden hat. Die Einschätzung, ob ein kommunikativer Akt gelungen ist
oder nicht, genügt nicht, um einen Fortschritt in Bezug auf Spracherwerb
nachzuweisen, denn kommunikative Akte können auch mit Gestik und Mimik oder
ganz basalen Wortfetzen oder wenigen formelhaften Wendungen gelingen. Dies
belegt eine Studie, bei der ein Migrant bei geringen sprachlichen
Basiskenntnissen stehen blieb, jedoch lernte, seine kommunikativen Bedürfnisse angemessen
zu befriedigen.[10]
Die Forschung bedient sich deshalb nach wie vor bestimmter
Strukturen (z.B. Verneinung, Pluralformen, finite Verbformen, Flexibilität bei
der Verwendung formelhafter Ausdrücke) oder definierter Zuwächse im Wortschatz,
um Spracherwerb bei Lernenden zu dokumentieren. Die zahlreichen Hypothesen zum
Spracherwerb (auch die von PPT zitierten) erhalten ihre Gültigkeit nur dank
eines solchen Nachweises. Meinungsumfragen unter Lernenden, deren Eltern und
Lehrpersonen gelten wissenschaftlich nicht als aussagekräftig. Mit ihrem reichlich
diffusen Kompetenzbegriff und ihrer Abspaltung der Kommunikation von der
Sprache halten sich die PPT-Autoren deshalb die Hintertür offen, dass auch
gelernt werde, wenn kein Spracherwerb erfolgt ist. Wenn dann festgestellt wird,
dass Lernende keine sprachlichen Kenntnisse vorweisen können, ist es nur ein
kleiner Schritt zur Ausrede, dafür hätten sie halt etwas Anderes gelernt. Ein
ernstzunehmender Unterricht muss immer wieder belegen können, dass Spracherwerb
auch tatsächlich stattfindet.
3.2 Progression
Lehrmittel sind dazu da, Wissen und Können in einem
Fachgebiet zu vermitteln. Dabei besteht in der Pädagogik Konsens, dass das
Material nach irgendeinem geeigneten Ordnungsprinzip ausgelesen und präsentiert
werden soll, welches das Lernen ermöglicht. Sprachlehrmittel orientieren sich
heute an mehreren Parametern: Formale Strukturen, situative Strukturen,
Wortschatzaufbau, kulturelle Eigenheiten der Zielsprache, Alter und Reife der
Lernenden, spezifische Anwendungsgebiete (z.B. Business English).
PPT lehnt jedoch sowohl einen grammatischen als auch einen
kommunikativen Aufbau der Lehrgänge ab:
«Die grammatischen Progressionen ... sind «intuitiv»
entstanden und wurden dann von
Lehrwerkgeneration zu Generation unkritisch weitergegeben.[...]
Zweitsprachenlernende ... scheinen bestimmte grammatische Phänomene in einer
andern Abfolge zu lernen ..., als es ... eine dem Unterricht zugrunde liegende
strukturelle Progression vorsieht.» (PPT, S. 48)
«Es wird ... deutlich, dass die pragmalinguistische
Progression den Kriterien der geringeren oder grösseren Schwierigkeit objektiv
ebenfalls nicht gerecht werden kann.» (PPT, S.49)
Statt dessen wählt PPT
den Weg der «inhaltlich/kompetenzorientierten
Progression» unterstützt durch «strategische Kompetenzen»:
«Themen und Materialien [richten] sich nach dem kognitiven
Entwicklungsstand der Lernenden und ihrer Interessenlage ... Wenn man
gleichzeitig auch den Aufbau von Kompetenzen im Auge behält, so entwickelt sich
eine Art «natürlicher Progression», die nicht auf grammatische Phänomene oder
kommunikative Absichten fokussiert, sondern von den Lernenden ausgeht.[...]
Durch die Festlegung auf Kompetenzstandards ... des Europäischen
Referenzrahmens ... ergibt sich eine kompetenzorientierte Progression.» (PPT,
S.49)
Mit diesem von
Idealismus durchströmten Konzept begibt sich PPT wiederum auf das Gelände der
Alchemie:
1. Die Kompetenzen
des Referenzrahmens sind an kommunikative Handlungen und sprachformale, bzw.
lexikalische Mittel gebunden. Denn wer mit Sprache handelt, ist auf deren
Ausdrucksformen angewiesen. Wieder schimmert bei PPT die Vorstellung durch, Sprache
könne von kommunikativem Handeln abgetrennt werden. Diese Vorstellung wird
verbunden mit der Hoffnung, die sprachlichen Mittel würden sich beim
Kompetenztraining von selbst «intuitiv» einstellen, eine Hoffnung, die sich auf
Krashens «Natural Order Hypothesis» und seine «Comprehensible Input Hypothesis»
abstützt.[11]
2. Die Ausrichtung
nach dem «kognitiven Entwicklungsstand» und der «Interessenlage der Lernenden»
wirft die Frage auf, wie es möglich sein soll, den unterschiedlichen Interessen
und kognitiven Entwicklungsschritten der Individuen gerecht zu werden, und wer
eigentlich darüber entscheidet, was den Lernenden angeboten werden soll. Ferner
entsteht die Schwierigkeit, wie die gewählten Themen mit Sprachkompetenzen
sinnvoll verknüpft werden sollen.
Wie verhält sich
diese Abkehr von sprachlicher Progression vom Einfachen zum Schwierigen zur
Spracherwerbsforschung, die sich seit Jahren mit der Frage beschäftigt?
Die Ergebnisse der
zahlreichen Studien, die im Zusammenhang mit den vielen Hypothesen auf diesem
Gebiet durchgeführt wurden, ergeben ein sehr viel differenzierteres Bild, als
PPT glauben macht. Hier eine kleine Auswahl:
- Drei Stufen in der
Abfolge des Spracherwerbs können mit oder ohne Unterricht
universell beobachtet werden: prae-basal
(«pre-basic), basal («basic) und post-
basal («post-basic»), wobei das
Einteilungskriterium darin besteht festzustellen, mit
welcher strukturellen Differenziertheit und
Flexiblität Wörter zu adäquaten
inhaltlichen Aussagen verbunden werden.[12]
Ein schlagendes Beispiel für prae-
basales Sprachverhalten mit einzelnen
Ansätzen von basaler Kompetenz bietet die
- Entscheidendes Erfolgskriterium für den
Spracherwerb ist der Nachweis, dass
sprachliche
Mittel beim Sprechen in spontaner Weise abgerufen werden können.
Meist werden dabei Komplexität, Genauigkeit,
Geläufigkeit geprüft («complexity,
accuracy, fluency»). Krashens Annahme, der sich
PPT anschliesst,
Instruktion
könne die Reihenfolge des Spracherwerbs nicht beeinflussen, ist
widerlegt. In verschiedenen Phasen des Lern-
und Übungsvorgangs wirken
instruktive Massnahmen nachweislich auf den
Spracherwerb ein, auch wenn
allgemein gültige Entwicklungsschritte nicht
auszuschliessen sind.[14]
- Die «natürliche Progression» wird von der
Erstsprache stark beeinflusst, indem
Strukturelemente automatisch auf die
Zweitsprache übertragen werden, was
sowohl Hilfe als auch Hindernis für den
Erwerb der Zweitsprache sein kann. [15]
- Gewisse Forscher haben zu allen Zeiten die
«natürliche Progression» in Frage
gestellt, weil sie bemerkt haben, dass sich
die Reihenfolge, mit der Lernende
Sprachmittel in ihren Sprachgebrauch
aufnehmen, nach deren hervorstechenden
Auffälligkeit («saliency»), deren Bedeutung
für den Inhalt von Aussagen
(«meaningfulness») und deren häufigem
Auftreten («frequency») richten.
- Motivation, Aufmerksamkeit, Aufnahmekapazität
des Gedächtnisses und
Verarbeitungstiefe des Gehirns steuern und
begrenzen den Spracherwerb in
bedeutendem Masse. Gestuftes Vorgehen ist
essenziell, damit Neues überhaupt
bemerkt, erinnert und integriert werden
kann.
- Der Spracherwerb kann auf jeder Stufe stehen
bleiben. Der Begriff
«Fossilisierung» wird in der neueren
Forschung durch den neutraleren der
«Stabilisierung» ersetzt.
- Die Entwicklung verläuft nicht linear. Ein
linearer Kompetenzaufbau, wie er PPT-
Autoren, gestützt auf den Europäischen
Referenzrahmen vorschwebt, bleibt
illusorisch. Die Forschung spricht von einem
U-förmigen Verlauf, bei dem neue
sprachliche Elemente aufgenommen werden, bei
der nächsten Sprechgelegenheit
jedoch wieder verschwinden und nach Phasen
des Verwechselns und falschen
Generalisierens erst allmählich in das
bisherige Sprachkönnen integriert werden.
Dies erklärt auch einigen Frust, den
Lehrpersonen erleiden, wenn Lernende das
Neue nach Kurzem schon wieder vergessen zu
haben scheinen.
- Spracherwerb
findet sowohl in der rezeptiven Phase als auch in der produktiven
Phase des Unterrichts statt. Gesteuerte
inhaltsbezogene, aber auf formale Mittel
ausgerichtete Aufgabenformen («meaningful»
and «focus-on-form» tasks) fördern
den impliziten Sprachgebrauch am ehesten,
wenn die Lehrperson korrigierend
begleitet («corrective feedback» in Form von
«recasts» (Umformulierungen) und
«elicitation» (Anstösse)) und wenn die
Aufgaben repetitiv angelegt sind (z.B.
mehreren Personen dasselbe erklären). Aber
auch «focus-on-forms» Übungen
(Sprachübungen) können zum Spracherwerb
beitragen, wenn sie inhaltlich sinnvoll
gestaltet sind. Dabei ist die häufig
propagierte Regel, auf Korrekturen zu verzichten,
da sie Lernende demoralisieren würden,
offenbar nicht haltbar. [16]
- Der Erfolg von Lernstrategien
hängt ab von der kognitiven Reife der Lernenden und
deren individuellen Erfahrung und
Sprachbewusstheit. Sie können nicht auf Vorrat
in Trockenschwimmübungen gelernt werden (vgl.
Strategienliste in Clin d’oeil 7).
Eine Vergleichsstudie zum Leseverstehen
zeigte inzwischen, dass zumindest
schwächere Lernende von Strategien nicht
profitieren. Auch internationale Studien
Die Kritik an den PPT-Lehrmitteln
bemängelt wenig überraschend folgende durch das oben Gesagte erwartete Punkte:
- Viele Themen
interessieren nicht, sind nicht altersgemäss, zu fachspezifisch oder
dem Sprachvermögen nicht entsprechend.
- Es fehlt ein
schrittweises Vorgehen vom Einfachen zum Schwierigen.
- Viele Texte sind
zu schwierig, da zu wenig didaktisiert.
- Es gibt zu wenig
einfache Übungen. Handlungsorientierte Aufgaben sind zu
anspruchsvoll, wenn sie nicht mit
Unterstützung eines kompetenten Sprechers
zusammen ausgeführt werden.
- Die Lernenden
verzetteln sich in der Unübersichtlichkeit eines auf so viele
verschiedene sprachliche und
aussersprachliche «Kompetenzen» ausgerichteten
Lehrwerks.
- Der
Alltagswortschatz wird nicht eingeführt, der intendierte Kompetenzaufbau
erfolgt nicht.
- Die Vermittlung
von «Strategien» hat sich auf das Leseverständnis bei
schwächeren Lernenden nicht merklich
ausgewirkt.
4. Fazit:
Die
inhaltlich/kompetenzorientierte Progression von PPT glaubt, auf die
Gesetzmässigkeiten des Spracherwerbs verzichten zu können, indem sie ohne
wissenschaftliche Grundlage darauf vertraut, dass sich sprachliches Können im
Fahrwasser einer nicht näher definierten «kognitiven» Entwicklung, einer
willkürlich- magazinartigen Zusammenstellung von Themen und den dazu
konstruierten Produktionsaufgaben unter Anwendung abstrakter Strategien von
selbst ergeben werde. Sie verlässt sich auf Hypothesen, die zu ihrem Konstrukt
passen, selbst wenn deren Erfolg für den Spracherwerb nicht nachgewiesen sind.
Letztlich sind die
Ziele von PPT zu weit gefasst: Soziale, interkulturelle, professionelle und
strategische Kompetenz in zwei oder
drei Wochenlektionen Sprachunterricht neben dem eigentlichen Spracherwerb als dafür
unabdingbare Grundlage aufzubauen, überfordert sowohl Lernende als auch
Lehrende. Eine Beschränkung auf elementarere Ziele des Spracherwerbs, geeignete
Inhalte und Übungsformen, explizites Anleiten und implizites Lernen, ein
abgestuftes, spiralförmig angelegtes Fortschreiten, Übersichtlichkeit in Aufbau
und Gestaltung sind nach wie vor der Königsweg zum Lernen einer Sprache in der
Unterrichtssituation. Es gibt keine Forschungsergebnisse, die diesem Vorgehen
widersprechen würden.[19]
Wenn der Erfolg bei
den PPT-Lehrmitteln nicht eingetreten ist und Lücken mit immer neuen Zusatzmaterialien
gestopft werden müssen, bestätigt das nur die These, dass das zu Grunde liegende
Konzept den Spracherwerb vernachlässigt und ihn einem wissenschaftlich nicht
fundierten, ideologisch bestimmten Prinzip geopfert hat. Anders gesagt: Passepartout
vertraute auf Alchemie statt auf Chemie.
[1] “Ideally, I would
like to conclude this book with a general theory of L2 acquisition but— as will
have become clear— this is not possible given the diversity of the theoretical
positions on offer and their fundamental epistemological differences.” (Ellis (2015),
Pos.6821-6823)
“We are currently in a situation where there is a plethora of SLA
theories offering different— and often conflicting— accounts of L2 acquisition.”
(Ellis (2015) Pos. 7131-7132)
[2] “In general,
however, SLA researchers have been wary of prescribing or proscribing how to
teach, preferring instead to exercise caution about applying SLA findings.” (Ellis
(2015), Pos. 7122-7123) “Exactly how SLA can best inform language pedagogy
remains uncertain” (Ellis (2015) Pos.6816-6817)
[3] "Wissenschaftliche Theorien leisten
gegenwärtig für die Aufklärung und Optimierung der Phänomene, Prozesse und
Produkte des Fremdsprachenerwerbs weniger als manche ihrer Verfechter glauben
und viele ihre Benutzer hoffen." (Weinert, Franz E. (1995). Das Verhältnis
von metakognitiver Kompetenz und kognitiven Automatismen beim
Zweitspracherwerb. In Swantje Ehlers (Hg.). (1995). Lerntheorie -
Tätigkeitstheorie - Fremdsprachenunterricht (S. 103-117). München.)
[4]
«Der Bereich der Mehrsprachigkeitsdidaktik steht
in voller Entwicklung. Eine Vielzahl von Konzepten und z.T. mehrdeutigen
Begriffen aus Praxis und Forschung erschweren einen einheitlichen und
eindeutigen Gebrauch der begrifflichen Instrumente.» Esther Sauer, Victor
Saudan Passepartout – Aspekte einer Didaktik der Mehrsprachigkeit. Vorschläge zur Begrifflichkeit, August 2008
[5] “Consciousness-raising Instruction has been shown to
be effective in helping learners develop explicit knowledge. But does this knowledge
facilitate the processes involved in subsequent development of implicit
knowledge? In fact, this has been little
studied.” (Ellis (2015) Pos.5999-6001)
[6]
„Mittlerweile
existieren viele Befunde zur neuronalen Organisation des bilingualen Gehirns…
Eindeutige Ergebnisse zu dieser Frage konnten jedoch noch nicht erzielt
werden.“
„Der späte … Zweitsprachenerwerb könnte zu einer
andersartigen Repräsentation im Gehirn führen.“ (Horst M. Müller Psycholinguistik
– Neurolinguistik, Paderborn 2013, S. 58).
„Weitere
wichtige Einflussgrössen bei der Entwicklung eines bilingualen neuronalen
Netzwerks sind das Erwerbsalter sowie die erreichte Sprachkompetenz in der
Zweitsprache.“
(Müller, S. 58)
[7]
„Für die
höheren kognitiven Leistungen treffen … eins zu eins Zuordnungen von Hirnareal
und Funktion … nicht zu. Sie gelten seit mindestens 30 Jahren als überholt.
Gegenwärtig wird davon ausgegangen, dass kognitive Funktionen von grossen
Neuronengruppen (cell assemblies) geleistet werden, die … in verteilten
Netzwerken agieren.“ (Müller, S. 165)
[8]«Den Unterschied zwischen den beiden Sprachen empfinde
ich in der Art, als ob ich mich in der französischen auf den wohl gepflegten
Wegen eines Parks erginge, in der deutschen aber mich in einem herrlichen Wald
herumtriebe.“ (Albert Schweitzer in Reinhard Griebner Der lachende Löwe.
Eine Albert Schweitzer-Biographie Heidelberg 2014)
[9] Thomas Dähler Lehrplanziele
nicht erreicht, Basler Zeitung 08.10.2018
und Jeremias Schulthess Tausend Blätter
und kein Ende: Die Hysterie um das Lehrmittel «Mille feuilles» Tageswoche,
08.10.2018
[10] Ellis (2015) Schmidt’s study of
Wes, Pos. 1659-1686
[11] Steven Krashen Principles and Practice in Second Language
Acquisition, Oxford 1982, First Internet Edition 2009.
[13]
https://www.youtube.com/watch?v=OCFj9lf8IQE
[14] Zhang and Lantolf (2014) report a study that shows
that instruction can override the natural tendency of learners to acquire
grammatical structures in a fixed sequence. To some extent at least, the route
that learners follow is teachable. Ellis (2015) Pos.7190-7192)
[15] The role of the first
language, Chapter 6 (Ellis (2015) Pos. 2795-3365)
[16] Popular teacher [...] guides typically advise teachers
not to engage in corrective feedback while students are engaged in performing
communicative tasks on the grounds that this will detract from the main purpose
of the tasks, namely to promote ‘fluency’. The corrective feedback research in
SLA, however, indicates a clear advantage in correcting errors while learners
are primarily focused on meaning (see Chapter 6 and Chapter 11). The research
also shows that corrective feedback need not interfere unduly with fluency,
especially if it takes the form of recasts or elicitation. It would seem, then,
that— in this case— there is a mismatch between what is promoted as ‘good
practice’ in the teacher guides and what SLA has demonstrated. (Ellis (2015) Pos. 7166-7177).
[17]
Susanne Zbinden, Leseverstehen mit neuem und altem Lehrmittel im Vergleich, Masterarbeit
Universität Freiburg, 2017.
[18] A ... meta-analytic review of strategy instruction
studies (Plonsky 2011) ... included 61 studies involving 6,791 learners... He
... investigated how moderating variables such as the age of the learners, the
kind of the strategy instruction, and the type of learning outcome impacted on
the overall effect. The overall effect size was ‘small to medium’. He argued
that this compared favourably with the effect sizes reported in meta-analyses
of strategy training studies in general education, but was modest compared to
meta-analyses of other types of L2 instruction. (Ellis (2015) Pos.1507-1513)
[19] “A language curriculum that includes both explicit and
implicit instructional components is perhaps most likely to ensure that
language pedagogy is efficient and effective for ensuring balanced L2
development.” (Ellis (2015) Pos.6663-6664)
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