Rund ein
Viertel aller Schülerinnen und Schüler leidet unter dem Druck der
Leistungsgesellschaft und entwickelt körperliche und psychische Symptome.
Burn-outs gibt es mittlerweile bereits in der Primarschule. Remo Largo, der
wohl bekannteste Kinderarzt der Schweiz, kämpft seit Jahrzehnten dafür, dass
den Kindern nicht ihre gesamte Freiheit und Individualität geraubt wird. Seine
Bücher (z. B. «Kinderjahre», «Schülerjahre») sind Standardwerke, in denen der
Entwicklungsspezialist Verständnis für die enorm unterschiedliche Entwicklung
jedes einzelnen Kindes wecken will.
"Die Kinder werden zu überangepassten Wesen", Basler Zeitung, 24.10. von Dina Sambar
Diesen
Donnerstag hält Remo Largo in Basel einen öffentlichen Vortrag zum Thema
Bildung*. Das Bildungswesen der Schweiz würde er am liebsten komplett
umkrempeln. Und dies nicht nur zum Wohle der Kinder, sondern der gesamten
Gesellschaft.
BaZ: Herr Largo. Noch in
den 50er-Jahren sassen teilweise über 40 Schüler in einer Klasse. Der Lehrer
erteilte rigiden Frontalunterricht. Parierten die Kinder nicht, erhielten sie
Stockhiebe. Heute geht es in den Schweizer Klassenzimmern sehr viel
kindgerechter zu und her. Trotzdem fordern Sie eine grundlegende Änderung des
Bildungssystems. Was läuft Ihrer Meinung nach falsch?
Remo Largo: Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, und so ist
auch die Schule enorm leistungsorientiert. Es braucht eine öffentliche
Diskussion darüber, was für ein Bildungswesen wir wollen. Was für Erwachsene
sollen aus den Schülern werden und was brauchen Kinder, um ihre individuellen
Fähigkeiten zu entfalten und zu selbstbewussten Wesen heranzuwachsen? Im
heutigen Unterricht sind die Kinder weitgehend fremdbestimmt. Es wird ihnen
genau vorgelegt, was sie wann, wie und wie schnell zu tun haben. Das ist sehr
nachteilig für ihr Selbstwertgefühl. Kinder sind nicht faul, sie wollen lernen
– aber auf ihre Art, in ihrem Tempo. Darauf nehmen wir jedoch keine Rücksicht.
Die Befürworter des jetzigen Schulsystems
würden Ihnen sicher widersprechen. Schliesslich steht ein Heer von Fachleuten
bereit, das die Schwächen der Kinder auffangen soll.
Ich halte von dieser Art der Förderung nichts. Schwächen sind ein
Tabu und sollen ausgebügelt werden, was aber nicht geht. Wir akzeptieren, dass
Kinder unterschiedlich gross sind. Alle würden zustimmen, man kann die
kleineren noch so lange füttern, sie werden nicht grösser, sondern nur dick.
Auch eine Leseschwäche kann man nicht ausradieren. Man kann jedoch auf ein Kind
so eingehen, dass es seine beschränkten Fähigkeiten optimal entfalten kann und
lernt, damit umzugehen. Es gibt in der Schweiz 800 000 normal intelligente
Erwachsene, die nicht richtig lesen können. Das ist nicht ein Versagen des
Bildungswesens, sondern Ausdruck der Vielfalt unter uns Menschen. Wir haben
kein Problem damit, wenn jemand unmusikalisch ist. Beim Lesen und Rechnen tun
wir uns aber schwer, denn das sind Grundkompetenzen unserer
Leistungsgesellschaft. Wenn wir diese Unterschiede akzeptieren würden, müssten
wir auch akzeptieren, dass man keine Noten geben kann.
Weshalb?
In der ersten Klasse liegt der Entwicklungsstand der Kinder
irgendwo zwischen 5,5 und 8,5 Jahren. Bei den Zwölfjährigen sind es sogar
plus/minus drei Jahre. Wie wollen sie da gerechte Noten geben? Mit Noten
bestrafen wir Kinder für ihre Minderbegabung, die Erwachsene immer noch haben,
aber besser verstecken können.
Wie sollte man Ihrer Meinung nach vorgehen?
Ein Beispiel. Wenn man sieht, dass ein Viertklässler noch nicht so
weit ist, gibt man ihm Aufgaben, die seinem Entwicklungsstand entsprechen, etwa
aus der zweiten Klasse. Dann wird er Erfolg haben. Jedes Kind kommt mit bestimmten
Begabungen zur Welt, die es nicht übersteigen kann. Überfordern wir die Kinder,
wirken sich schlechte Noten nachteilig auf ihr Selbstwertgefühl aus, was zu
einem massiven Problem werden. Ich kenne immer mehr junge Erwachsene, die
schlicht zu Hause sitzen und nichts tun. Sie glauben nicht daran, dass sie eine
Anstellung finden und den Ansprüchen der Wirtschaft genügen können. Etwa 30
Prozent der Studenten schliessen ihr Studium nie ab.
Sie sagen, die Kinder werden durch den
fremdbestimmten, normierten Unterricht falsch sozialisiert.
Ja, man erzieht sie zu passiven, überangepassten Wesen. Das will
eigentlich weder die Gesellschaft noch die Wirtschaft. Diese wünschen sich
Menschen, die initiativ sind und Verantwortung übernehmen wollen. Sie beklagen
sich, dass viele Angestellte einfach nur darauf warten, dass man ihnen sagt,
was sie zu tun haben. Die Bereitschaft, sich eigenverantwortlich als Bürger für
die Gesellschaft einzusetzen, hat ebenfalls gelitten. Um Verantwortung zu
übernehmen, müssen die Schüler konkrete Erfahrungen machen. Da nützt auch der
beste Staatsunterricht über Gewaltentrennung nichts.
Wie sollte guter Unterricht, wie sollte eine
gute Schule aussehen?
Der Volksschulunterricht besteht vor allem aus Auswendiglernen und
Prüfungen. Es ist eine Illusion, anzunehmen, wenn Schüler eine Prüfung
bestehen, hätten sie den Stoff nachhaltig begriffen. Würde die Prüfung einige
Wochen später wiederholt, würden die Noten weit schlechter ausfallen. Lernen
geht nur über konkrete und selbstbestimmte Erfahrungen. Ein eindrückliches
Beispiel habe ich als Primarschüler erlebt. Die Lehrerin liess uns in der
dritten Klasse alle einen Stecken mitbringen, der einen Meter lang sein sollte.
Dann sind wir raus und legten die Stecken immer wieder hintereinander, bis wir
sie 1000-mal abgelegt hatten. Seither weiss ich genau, wie lang ein Kilometer
ist. Wenn Schüler Zahlen nur auf dem Blatt jonglieren, kann keine innere
Vorstellung des Zahlenraums entstehen.
Gibt es weitere wichtige Aspekte?
Die Kinder müssen sich in der Schule geborgen und angenommen
fühlen, um richtig lernen zu können. Schlechte Noten erleben die Kinder als
Ablehnung, der Lehrer mag mich nicht. Weiter muss man sich fragen, welches
Wissen ein Erwachsener überhaupt braucht. Vieles, was heute unterrichtet wird,
hat überhaupt keinen Nutzen. Wissen Sie noch, was eine Differenzialrechnung
ist? Die Mehrheit der Bevölkerung bekommt schon beim Satz des Pythagoras einen
roten Kopf. Es gibt eine Studie, die zeigt, dass sogar Gymi-Lehrer die
Maturafragen anderer Fächer nicht mehr beantworten können.
Sie wünschen sich alternative, autonome
Schulen.
Ja, Eltern, die ihren Kindern dieses Hamsterrad nicht mehr zumuten
wollen, sollen Alternativen haben, auch die Lehrer, die anders unterrichten
wollen. Alle Eltern, die mit der Volksschule zufrieden sind, schicken ihre
Kinder weiter in die Volksschule. Ich wünsche mir autonome Schulen, die wie die
Volksschule subventioniert werden, kein zusätzliches Geld annehmen dürfen und
einen gewissen Prozentsatz von Schülern mit besonderen Bedürfnissen annehmen
müssen. So vermeidet man elitäre Schulen. Mehrkosten würden für die
Gesellschaft nicht entstehen.
Diese Kinder müssten aber trotzdem in der
Leistungsgesellschaft bestehen.
Ich kenne viele alternative Schulen. Wenn es gute Schulen sind,
was natürlich nicht immer der Fall ist, ist die existenzielle Zukunft dieser
Kinder mindestens so gut abgesichert wie die anderer Kinder. Zusätzlich haben
diese Schüler aber ein gutes Selbstwertgefühl und sind sozial kompetenter, was
in der Dienstleistungsgesellschaft von grosser Bedeutung ist.
Standen die Kinder und das Schulsystem nicht
immer schon unter Leistungsdruck?
Doch, aber er hat ab den 90er-Jahren enorm zugenommen. Immer mehr
Kinder sind krank, leiden an Schlafstörungen, sind depressiv oder haben ein
Burn-out. Sie stehen einfach still. Sie können und wollen nicht mehr und gehen
nicht mehr in die Schule. Geschätzt sind ein Viertel aller Primarschüler
angeschlagen und krank. Natürlich spielt das Familienleben eine wichtige Rolle,
doch wenn es auch noch in der Schule nicht stimmt, wird es für die Kinder
unerträglich.
Bereits Kindergartenkinder geraten laut Ihnen
unter Druck.
Ja, selbst Kinder zwischen zwei und fünf Jahren. Förderstudios für
Vorschulkinder schiessen wie Pilze aus dem Boden. Kitas richten sich darauf
ein, die Kinder zu fördern. Die Kinder haben keine Freizeit mehr und sind
völlig verplant. Und so geht das weiter. Viele Schüler nehmen in der 6.
Primarstufe Nachhilfestunden, um den Sprung ins Gymnasium zu schaffen. In
Zürich sind es je nach Quartier bis zu 80 Prozent. Die Eltern geben Tausende
Franken dafür aus. Doch die Kinder werden dadurch nicht gescheiter, sie lernen
nur, welche Art der Fragen sie wie beantworten müssen. Zu viele schaffen es,
die dann im ersten Gymnasium-Jahr scheitern.
Sie sprechen ein Thema an, das auch in Basel
aktuell ist. Das Erziehungsdepartement will die hohe Gymnasialquote von knapp
50 Prozent senken. Deshalb wurden die Aufnahmekriterien in die verschiedenen
Sekundarzüge verschärft.
Es stimmt, dass viele Kinder nicht ins Gymnasium gehören, die
heute dort sind. Ich gehe davon aus, dass eine Quote von 20 Prozent vernünftig
ist. Die OSZE hat immer bemängelt, die Quote sei in der Schweiz zu tief. Nun,
da sie das Debakel in immer mehr Ländern mit hohen Abiturquoten sieht, findet
sie unsere tiefe Quote richtig.
ln dem Fall befürworten Sie die Massnahme des
Erziehungsdepartements?
Ich befürchte, dass die Verschärfung zu einem noch absurderen
Wettbewerb in der sechsten Primarklasse führen wird. Eltern, die es vermögen,
schicken ihre Kinder in den Nachhilfeunterricht. Die Wahrscheinlichkeit, dass
ein solches Kind ins Gymnasium kommt, ist viermal höher als bei einem Kind aus
einer tieferen sozialen Schicht, das oftmals intelligenter ist. Diese Massnahme
des Erziehungsdepartements greift zu kurz. Zu einem solchen Entscheid gehört in
einer Demokratie eine Diskussion. Das hätte das Erziehungsdepartement nicht
einfach so bestimmen dürfen. Viele Eltern werden das sicher nicht einfach so
akzeptieren.
Als Hauptgrund für die hohe Gymnasialquote hat
das Erziehungsdepartement die Eltern ausgemacht. Sie drängen die Kinder um
jeden Preis ins Gymnasium und setzen ihre Kinder unter Druck.
Man kann den Eltern nicht einfach den Schwarzen Peter zuschieben.
Das ist hilflos. Das Problem sind nicht nur die Eltern oder das Bildungswesen,
es ist die ganze Gesellschaft. Alle machen mit. Der wichtigster Faktor in der
Wirtschaft ist der Wettbewerb. Das bekommen auch die Eltern zu spüren. Sie
haben unterschwellige Existenzängste und wollen deshalb, dass ihre Kinder in
der Schule erfolgreich sind, damit sie in der Leistungsgesellschaft bestehen.
Deshalb brauchen wir eine allgemeine Diskussion.
Können die Eltern denn gar nichts tun?
Die Eltern sollten sich an der Einzigartigkeit ihres Kindes
orientieren, sie sollten sein Bemühen wertschätzen und nicht die absolute
Leistung. Und sie sollten akzeptieren, wenn ihr Kind nicht fürs Gymnasium
gemacht ist – auch wenn sie beide Akademiker sind. 40 Prozent der Kinder aus
solchen Familien werden nicht mehr Akademiker. Die Eltern sollten, wenn sie ihr
Kind nicht unglücklich machen wollen, einen «Abstieg» akzeptieren, wenn dieses nicht
über die notwendigen Begabungen verfügt.
Der zweite Bildungsweg ist für Sie eine genauso
gute, wenn nicht bessere Lösung?
Eine Studie von Rudolf Strahm hat die Erfolgsaussichten beim
direkten Weg über Gymnasium/Universität oder mit dem zweiten Bildungsweg
untersucht. Die Frage lautete: Wo landen die Kinder als Erwachsene, wenn sie in
die Wirtschaft integriert sind? Das Resultat ist erhellend. Jene, die den
zweiten Bildungsweg eingeschlagen haben, werden von der Wirtschaft als
kompetenter eingeschätzt, werden bevorzugt und verdienen auch mehr.
Weshalb?
Viele Kinder werden durchs Gymnasium und Studium gepusht. Sie
lassen alles passiv über sich ergehen. Auf dem zweiten Bildungsweg ist das
anders. Dieser wurde von den Jugendlichen bewusst gewählt. Sie mussten dafür
Eigeninitiative, Interesse und Eigenverantwortung aufbringen. Zudem haben sie
in einer Lehre konkrete Erfahrungen gesammelt, die man im Gymnasium nicht
macht.
Wie sieht Ihrer Meinung nach die Zukunft aus,
wenn wir weitermachen wie bisher?
Wir müssen gar nicht in die Zukunft schauen. Wir haben ja schon
jetzt ein monströses Problem, das sich einfach noch verstärken wird. Nicht nur
in der Schule, auch in der Wirtschaft. Die Arbeit ist immer mehr sinnentleert.
Immer mehr Menschen arbeiten nur noch für den Lebensunterhalt. Doch der Mensch
hat ein Bedürfnis nach Befriedigung und Wertschätzung. Er will seine Begabungen
bei der Arbeit einsetzen, Leistung erbringen. Das ist in der Wirtschaft immer
weniger möglich. Wenn wir beispielsweise ein Grundeinkommen hätten, hätten wir
viel mehr Freiheiten, das zu tun, was wir wollen und auch brauchen.
Das bedingungslose Grundeinkommen haben wir
jedoch vor Kurzem an der Urne verworfen.
Das kommt wieder. Es ist unvermeidlich, da es bald gar nicht mehr
genug Arbeit für alle geben wird. Digitalisierung und Automatisierung
vernichten Stellen. In den nächsten 10 bis 20 Jahren werden 50 Prozent aller
Dienstleistungsstellen verloren gehen. Der Lebensunterhalt kann nicht mehr nur
durch Arbeit allein finanziert werden. Wir werden das Grundeinkommen schneller
einführen, als wir uns das derzeit vorstellen können.
Dann hätte der Mensch endlich die Freiheit, die
Sie ihm schon von Kindesbeinen an gewünscht hätten? Sie sehen also nicht
schwarz wie so viele andere?
Ich bin tatsächlich ziemlich optimistisch. Das ist eine gute
Entwicklung. Doch es wird schmerzhaft werden, umzudenken. Der materielle
Wohlstand wird abnehmen. Die Freiheit aber, ein Leben zu führen, das dem
einzelnen Menschen entspricht, wird zunehmen.
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