Ausgerechnet die links regierten Städte
Winterthur und Zürich hinken bei der Schulsozialarbeit den kantonalen
Empfehlungen hinterher. Nun wollen sie das ändern. Kritiker befürchten eine Aufblähung
des Bildungsbereichs.
Die Städte Winterthur und Zürich wollen die Ausgaben erhöhen, NZZ, 23.7. von Fabian Baumgartner
Roger-Paul Speck wird gerufen, wenn Schüler Probleme haben. Seit zehn Jahren arbeitet der 58-Jährige, der für die SP im Stadtzürcher Parlament politisiert, als Schulsozialarbeiter in der Gemeinde Bassersdorf. Zusammen mit drei Kolleginnen und Kollegen kümmert er sich um die Problemfälle an den vier Schulen im Ort. Er ist gefragt, wenn Schüler unpünktlich sind, wenn Essstörungen oder Mobbing auftreten oder wenn nach der Trennung von Eltern Diskussionsbedarf da ist. «Meist haben wir es mit Kindern aus belasteten Familien zu tun. Dort ist der Support von zu Hause nicht immer vorhanden», sagt Speck.
Er erwähnt einen Fall, bei dem ein Schüler aus der Klassenkasse Geld abgezweigt hatte, weil er selbst klamm war. Speck erreichte schliesslich, dass der Jugendliche das Geld wieder zurück in die Kasse legte. In den letzten Jahren sah er sich aber auch immer wieder mit Schülern mit psychischen Schwierigkeiten konfrontiert. «Manchmal müssen bis zu zwei Schüler pro Klassenjahrgang in eine Klinik eingewiesen werden. Da macht man sich schon Gedanken.»
«Gezielte Förderung»
Es seien Alltagssorgen, die sie zu lösen versuchten, sagt Speck. Für ihn ist klar: «Ein Schulsozialarbeiter muss vor Ort sein, um die Probleme rechtzeitig erkennen zu können.» Nur so könnten sie die Lehrer wirksam entlasten.
Der Sozialdemokrat hat sich denn auch für einen Ausbau der Schulsozialarbeit starkgemacht, als der Gemeinderat Anfang Juli im Rahmen einer Motion der Alternativen Liste über die Thematik hitzig debattierte. Der Tenor von links ist deutlich: Die Zahl der Schulsozialarbeiter muss mit der wachsenden Schülerzahl mithalten. Letztmals waren die Ausgaben im Jahr 2012 von 4,2 auf 5,35 Millionen Franken angepasst worden. Der AL-Politiker Walter Angst begründete die Forderung nach einer erneuten Aufstockung in der Ratsdebatte so: «Es ist eine gezielte Förderung, die sehr vielen Jugendlichen und Familien zugutekommt.» Angst rechnet mit zusätzlichen Ausgaben in der Höhe von jährlich ein bis zwei Millionen Franken.
Mit der Forderung rennt die Linke bei den Stadtbehörden offene Türen ein. Denn ausgerechnet in den Städten Zürich und Winterthur sind im Vergleich zu Gemeinden wie Bassersdorf weniger Ressourcen für die Schulsozialarbeit vorhanden. Das ergab ein Bericht des kantonalen Amts für Jugend- und Berufsberatung von 2016. Während in Winterthur auf einen Schulsozialarbeiter 1038 und in Zürich 727 Schüler kommen, sind es in den Bezirken Bülach und Dielsdorf lediglich 546.
Die beiden Städte wollen deshalb ihr Angebot in den nächsten Jahren nochmals ausbauen. Der Stadtzürcher Sozialvorsteher Raphael Golta hat eine Verstärkung der Schulsozialarbeit bis ins Schuljahr 2019/20 angekündigt, um dem Wachstum bei den Schülerzahlen zu begegnen. Details zu den Plänen will das zuständige Sozialdepartement jedoch noch keine bekanntgeben. Der Stadtrat werde bis spätestens Anfang September eine Weisung zuhanden des Gemeinderats verabschieden, sagt die Sprecherin Heike Isselhorst auf Anfrage.
«Bedarfsgerechtes Angebot»
In Winterthur tönt es ähnlich. Eine Evaluation der Fachhochschule Nordwestschweiz hat im letzten Jahr ergeben, dass die Ressourcen für die Schulsozialarbeit zu knapp sind. Man nehme die Empfehlung sehr ernst, sagt der zuständige Schulvorsteher Jürg Altwegg. Die Bevölkerung und damit auch die Zahl der schulpflichtigen Kinder wüchsen stark. Bereits im Budget für das nächste Jahr will die Stadt deshalb etwas mehr als eine zusätzliche Stelle einbauen. Das Vorhaben muss aber noch vom Parlament bewilligt werden.
Für die eigentliche Aufstockung bereitet die Winterthurer Zentralschulpflege bis im Oktober eine Weisung an den grossen Gemeinderat vor. Laut Altwegg wird der Ausbau auf Basis der Empfehlungen des Kantons erfolgen.
Die Schulsozialarbeit war im Kanton Zürich mit dem 2012 eingeführten Kinder- und Jugendhilfegesetz gesetzlich verankert worden. Darin ist festgehalten, dass die Gemeinden ein «bedarfsgerechtes Angebot» schaffen müssen. Seither ist die Schulsozialarbeit kantonsweit massiv ausgebaut worden. Nicht alle Gemeinden gehen jedoch gleich vor. Die meisten haben aber die Führung mittels Leistungsvereinbarungen an das kantonale Amt für Jugend- und Berufsbildung übertragen. Konkret haben 127 von 166 Gemeinden eine solche Leistungsvereinbarung unterzeichnet. Die übrigen – unter ihnen die beiden grossen Städte Zürich und Winterthur – stellen das Angebot selbst sicher.
Der Lagebericht des Kantons kam zum Schluss, dass die Schulsozialarbeit von den Lehrern als Entlastung wahrgenommen wird. Beim Lehrerverband stossen die Ausbaupläne denn auch auf Anklang. Christian Hugi, Präsident des Zürcher Lehrerverbands, sagt, zusätzliche Unterstützung sei gerade im sozialen Bereich willkommen. «Die Lehrkräfte sollen sich auf den Unterricht der Kinder konzentrieren können.» Lehrer könnten zwar einen Teil der Probleme im Schulalltag selbst lösen, sie seien aber natürlich keine Sozialarbeiter. Aufgrund des derzeitigen Lehrermangels seien zudem auch die Ressourcen beschränkt.
Schwächung der Lehrer?
Kritiker befürchten hingegen eine Aufblähung im Bildungsbereich. Der SVP-Gemeinderat Stefan Urech sprach im Parlament Anfang Juli von einem aufgeblähten Funktionärsapparat, der zudem die Position der Lehrer schwäche. Einen Fehler nennt auch die FDP-Gemeinderätin Yasmine Bourgeois die Ausbaupläne der Stadt Zürich. In ihrem Alltag als Primarlehrerin erlebe sie, dass inzwischen wegen jeder Kleinigkeit zum Schulsozialarbeiter gerannt werde. Die Jugendlichen würden fast gezwungen, diese mit einzubeziehen. «Die Schulsozialarbeit übernimmt heute häufig auch Aufgaben, welche früher die Kinder unter sich gelöst haben.»
Eine grundsätzliche Schwierigkeit sieht Bourgeois darin, dass immer mehr Kinder in die Regelklassen integriert würden – auch solche mit schweren Lernschwächen und solche, die kaum Deutsch sprächen. «Das führt – neben anderem – oftmals auch zu erheblichen sozialen Problemen, weil diese Kinder den Anschluss selbst bei grösster Anstrengung nicht schaffen.» Man müsse deshalb auch darüber diskutieren, ob nicht die Mindestanforderungen für den Besuch einer Regelklasse wieder erhöht werden sollten.
Die Schulsozialarbeit hält Bourgeois zwar für grundsätzlich sinnvoll, sie biete manchmal auch eine Entlastung. Was nun passiere, sei aber ein klarer Angebotsausbau, der auch mit den wachsenden Schülerzahlen nicht zu rechtfertigen sei. «Statt aber darüber zu klagen, dass die Schulsozialarbeit überlastet ist, sollte zunächst deren Wirksamkeit hinterfragt werden.» Dann könnten die Mitarbeiter auch zielgerichteter eingesetzt werden. «Es braucht wieder mehr Generalisten, die zwar nicht in allen Details Fachwissen haben, dafür aber die Fälle kennen und einen Überblick haben.»
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