In den Schulen und in den Diskursen der
Bildungspolitiker und Erziehungswissenschafter macht seit einiger Zeit eine
Formulierung die Runde, zu der sich jeder irgendwie verhalten muss: «digitale
Bildungsrevolution». Gemeint ist die Umstellung der Bildung auf digitale
Medien, wozu Investitionen in die digitale Infrastruktur der Schulen gehören,
die didaktische Nutzung digitaler Medien sowie perspektivisch die Schaffung
virtueller Lernumgebungen. Die Schlagwörter lauten: Blended und Distant
Learning, Global Teacher, Online Campus, MOOC (Massive Open Online Course) und
POOC (Personalized Open Online Course).
Informatik braucht auch Ethik, NZZ, 23.7. von Roberto Simanowski
Wie bei vielen Revolutionen wird auch
in dieser zum Teil wild um sich geschossen. Es ist zu bezweifeln, dass man
heute besser als 1789 weiss, wohin die Reise gehen soll, und eine Vorstellung
hat, was man eigentlich mit so viel Internet im Klassenzimmer anfangen will.
Aber auch wenn Lehrer nicht vom pädagogischen Sinn der verordneten Umwälzung
überzeugt sind, in einer Revolution ist es gefährlich, gegen die Revolution zu
sein, und zwar, wie Dantons Tod zeigt, selbst für Revolutionäre. So wie damals
Menschen mit einem Taschentuch Gefahr liefen, als Aristokraten zur Guillotine
geschleppt zu werden, stehen nun erprobte Lehrmethoden und Kommunikationsformen
schon deswegen als «Bewahrpädagogik» am Pranger, weil sie ohne digitale Medien
auskommen.
Das Argument der Revolutionäre lautet,
dass die Schule realitätsnah operieren müsse und die Jugend nicht mit den
Werkzeugen der Vergangenheit auf die Zukunft vorbereiten könne. Der
unterstellte Anachronismus wird dabei gern mit einer doppelsinnigen Kurzformel
illustriert: «Ende der Kreidezeit.» Sprüche sind allerdings noch nicht richtig,
weil sie gut gemacht sind. Alter ist auch dann, wenn es um Unterrichtsmittel
geht, so wenig eine Schande wie Jugend eine Tugend. Wer im Geschichtsunterricht
über die Grosse Oktoberrevolution nicht geschlafen oder «gewhatsappt» hat, wird
dagegen gewappnet sein, im Neuen immer gleich das Bessere zu sehen. Wer sich
darüber hinaus für die Interna der Tech-Welt interessiert und weiss, dass
IT-CEO im Silicon Valley ihre Kinder in technologiefreie Waldorfschulen
stecken, wird sich fragen, welche Risiken ihrer Produkte diese Eltern ihren
Kunden verschweigen.
Digitalen Smog reduzieren
Aus neurowissenschaftlicher Perspektive
fördert der Computer vieles von dem, was Pädagogen als problematisch erachten:
eine Kultur der Hyperattention und Hyperstimulation, in der Sofortbelohnung vor
Lustaufschub geht, mit der Folge, dass man immer dann, wenn die Dinge komplex
werden, ohne Verzug und Ehrgeiz zur nächsten Ablenkung klickt. Im Grunde ist es
also eher absurd als einleuchtend, dass man umso mehr auf digitale Medien im
Unterricht umstellen soll, je mehr diese den ausserschulischen Raum bestimmen.
Natürlich haben jene recht, die
betonen, dass die Aufgabe der Schule darin bestehe, die künftige Gesellschaft
aktiv mitzugestalten. Aber muss das heissen, radikal die Tafel durch den
Computer zu ersetzen? Immerhin ist man nach der Erfindung moderner Fahrzeuge ja
auch nicht dazu übergegangen, von Dorf zu Dorf zu fliegen. Im Gegenteil, gerade
die Autogesellschaft führte zur Schaffung von Fahrradspuren, Fussgängerzonen und
Umweltplaketten. Wäre es also nicht vernünftig, auch den digitalen Smog in den
Köpfen der Schüler durch Gegenmassnahmen zu reduzieren, statt skrupellos auf
«Modernisierung» zu setzen?
Um Missverständnissen vorzubeugen:
Lehrer, die sich prinzipiell gegen den Einsatz digitaler Medien im Unterricht
sperren, betrügen ihre Schüler und sich um wertvolle Motivationsimpulse. Nichts
spricht etwa gegen das projektbezogene Arbeiten mittels Online-Foren und Wikis
oder Computeranimationen chemischer Reaktionen. Es gibt viele interessante
Formen der Nutzung digitaler Medien und sozialer Netzwerke im Unterricht, und
es geht keineswegs darum, die Schule als Hort der Bildung gegen die
vermeintliche Verblendung der neuen Medien abzuschotten.
Vielmehr kommt es darauf an, dass die
Digitalisierung der Schule nicht jenseits des didaktisch und pädagogisch
Sinnvollen im Interesse der IT-Unternehmen betrieben wird. Es geht darum, dass
die in der Lehreraufstockung und Schulsanierung dringend benötigten Mittel
nicht allein in Hardware investiert werden. Und es geht darum, dass die
Digitalisierung des Unterrichts nicht zum «Homo algorithmicus» führt, der als
rundum evaluiertes «Humankapital» beharrlich von der Wenn-dann-Logik der
Software auf seine effektive Erfüllung der Vorgaben und Erwartungen hin
überprüft wird – mit den problematischen Grunderfahrungen der Überwachung und
Ohnmacht.
Denn zum einen bringt die Vermessung
der biologischen und mentalen Prozesse des Lernens, die perspektivisch auch
Tracking-Technologien zur Analyse von Tonfall und Mimik einsetzt, eine
Ausweitung der «Dataveillance», also der datengetriebenen Überwachung von allem
und allen. Die maschinelle Erfassung geistiger Tätigkeit darf nicht zur
Normalisierung von Vermessungs- und Regulationsprozeduren führen. Die personenbezogene
Bedürfnisanalyse und Informationszuteilung durch die neuen Technologien erregte
im Kontext der Wahlmanipulation durch Datenanalysefirmen neulich zu Recht
Aufsehen. Ist sie wirklich so unschuldig, wenn sie nicht im Bereich der
Politik, sondern der Bildung eingesetzt wird?
Zum anderen betrügt die digitale
Organisation der Lernumgebung das Phänomen der Autorität um seine dialektische
Spannung. Denn es ist zwecklos, gegen Aufgaben und Anweisungen aufzubegehren,
wenn man nur noch mit künstlicher Intelligenz interagiert oder mit
menschlicher, die kein Weisungsrecht gegenüber den Algorithmen besitzt. Ganz zu
schweigen von der Sozialerfahrung der Gruppe, die im Modus der individuellen,
modulorientierten Wissensvermittlung verloren geht.
Ermächtigen statt ausrichten
Ein zentraler Bestandteil der digitalen
Bildungsreform ist die Forderung nach Informatikunterricht. Dem Argument
«Program or Be Programmed», wie ein Buch von Douglas Rushkoff aus dem Jahr 2010
heisst, lässt sich kaum widersprechen – natürlich ist es gut, wenn man
versteht, was hinter dem Interface passiert, und die Dinge notfalls selbst
reparieren kann.
Gleichwohl sollte auch klar sein, dass
Informatikunterricht den Menschen noch nicht davor schützt, programmiert zu
werden. Das staatsbürgerliche Bewusstsein, das zum Beispiel Edward Snowden dazu
bewog, unter Riskierung seines Lebens auf die antidemokratischen Aktivitäten
der eigenen Regierung aufmerksam zu machen, entstammt wohl weniger seinen
Informatikkursen als dem Ethikunterricht oder wie auch immer das Fach hiess, in
dem an seiner Schule die Grundlagen der Demokratie und die Heldentaten ihrer
Vorkämpfer vermittelt wurden. Programmieren mag das Denken trainieren, soweit
es um mathematische Logik geht, man muss aber auch das Denken über das
Programmieren üben.
Man muss nicht nur zu programmieren
verstehen, man muss die gesellschaftlichen Konsequenzen des Programmierens
verstehen. Man muss nicht nur wissen, wie ein Algorithmus funktioniert, man
muss wissen, wie er die menschliche Situation ändert. Konkret heisst dies etwa,
ein Verständnis für die Bedeutung von «Ranking» und «Sortiertheit» als
ontologische und ideologische Organisations- und Hierarchisierungsform zu
entwickeln, was nicht die Vertrautheit mit einem Sortierungsalgorithmus wie
Quicksort voraussetzt. Ein Informatikunterricht, der diese Vertrautheit
vermittelt, ohne jenes Verständnis zu entwickeln, wäre keine Ermächtigung des
Bürgers gegenüber den Gefahren der Programmierung, sondern eher eine
Ausrichtung der Schüler auf die Anforderungen des digitalen Arbeitsmarktes.
Nichts ist falsch an dieser
Ausrichtung, solange sie nicht auf Kosten jener Ermächtigung geht. Andernfalls
liefe die digitale Bildungsrevolution auf eine berufstaugliche Zurichtung des
Menschen als Rädchen im Getriebe der Gesellschaft hinaus. Eine solche
Zurichtung wurde im 19. Jahrhundert unter dem Stichwort «verhältnismässige
Aufklärung» gefordert und im 20. Jahrhundert unter dem Stichwort «Erziehung zur
Mündigkeit» vehement abgelehnt. Im 21. Jahrhundert zu ihr zurückzukommen, wäre
im anderen Sinne des Wortes und trotz all den digitalen Unterrichtsmitteln eine
neue Form von Kreidezeit.
Roberto Simanowski ist
Medienwissenschafter in Basel. Sein jüngst bei Matthes & Seitz erschienenes
Buch «Stumme Medien. Vom Verschwinden der Computer in Bildung und Gesellschaft»
widmet sich der Digitalisierung und Bildung.
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