Drei Tage vor den Sommerferien halten etliche Schulleiter
verzweifelt Ausschau nach neuem Lehrpersonal.162 Stellen sind noch nicht
besetzt. Das Volksschulamt will im Ausnahmefall nun auch über 70-Jährige
beschäftigen.
Torschlusspanik in den Schulen, Tages Anzeiger, 11.7. von Daniel Schneebeli
Ferienstimmung mag bei Martin Gehrig noch überhaupt nicht
aufkommen. Für zwei offene Stellen an der Mittelstufe hat der Schulleiter im
Schulhaus Friesenberg in Zürich-Uto noch immer niemanden gefunden. Er hat zwar
in den letzten Tagen einige Gespräche mit Interessentinnen geführt, doch
zugesagt hat ihm bis gestern Abend noch niemand. Trotz allem ist er mit seinen
zwölf Jahren Schulleitererfahrung zuversichtlich, dass er es auch dieses Jahr
wieder schafft, bis Mitte August Lösungen zu finden. In einer grossen Schule
wie der seinen könne man die Pensen viel einfacher so zusammenstellen, dass sie
auf die Ansprüche der einzelnen Lehrerinnen und Lehrer und auch von
Bewerberinnen passen: «Da haben es Schulleiter in kleinen Schulen schwerer.»
Besonders schwierig sei die Situation im Kindergarten.
Gehrig hat dieses Jahr zwar Glück, weil eine ehemalige Kindergärtnerin ins
Schulhaus Friesenberg zurückkehrt und die offene Stelle übernimmt. Doch er
weiss von Schulleiter-Kolleginnen und -kollegen, die verzweifelt auf der Suche
sind. Auf Inserate im Kindergarten sei der Rücklauf von Bewerbungen extrem
schwach. Ebenso bei Stellen für Heilpädagogen und Heilpädagoginnen. Und am
schwierigsten sei es, eine Heilpädagogin für den Kindergarten zu finden.
200 neue Klassen
Bei der kantonalen Bildungsdirektion sieht man die Situation
weniger dramatisch: «Wir sind nicht in einer ausserordentlichen Situation, es
gibt keinen ausgeprägten Lehrermangel», sagt Marion Völger, Chefin des Volksschulamtes.
Wie sie weiter mitteilt, sind von den rund 16 000 Stellen an der Volksschule
noch 162 nicht besetzt, 33 davon sind Hauptstellen für Klassenlehrer in der
Primarschule, 11 Stellen für Kindergärtnerinnen. 62 Stellen sind noch für
Heilpädagoginnen und -pädagogen offen. Der Rest sind Teilzeitstellen mit
kleineren Pensen. Laut Völger ist die Situation ähnlich wie im Vorjahr, man sei
allerdings etwa zwei Wochen später dran, Stellen würden heute länger
offenbleiben.
Völger bestätigt, dass es besonders im Kindergarten Engpässe
gebe. Allerdings ist das für die Chefin des Volksschulamtes nicht erstaunlich,
denn in den letzten vier Jahren sind über 200 neue Kindergartenklassen eröffnet
worden, wegen klar steigender Schülerzahlen. Das heisst: Im Kanton Zürich
braucht es deutlich mehr Lehrer und Kindergärtnerinnen. Doch an der
Pädagogischen Hochschule stagnieren derzeit die Anmeldezahlen.
Hoffen auf Quereinsteiger
Für die kommenden Jahre sieht Völger keine Entspannung,
genauer will sie nicht werden: «Das wäre ein Blick in die Kristallkugel, und
dazu bin ich nicht geeignet.» Den Schulen hat das Volksschulamt gleichwohl
schriftlich Massnahmen vorgeschlagen, wie sie ihre schwierige Lage am besten
meistern können. Viel Hoffnung setzt der Kanton in die Quereinsteigerinnen und
Quereinsteiger, welche an der Pädagogischen Hochschule ausgebildet werden.
Darum empfiehlt das Volksschulamt den Schulleitungen, deren Bewerbungen
prioritär zu behandeln.
Es bietet ihnen auch zusätzliche Stellenprozente bei der
Anstellung von Quereinsteigern, die noch in der Ausbildung stecken. Auch
regulär Studierende können bereits vor Abschluss des Studiums befristet für ein
Jahr eingestellt werden. Sollte eine Gemeinde eine Ex-Lehrerin an der Angel
haben, bietet das Volksschulamt finanzielle Hilfe für den Wiedereinstieg an,
wenn die Kandidatin seit über acht Jahren nicht mehr unterrichtet hat.
Am Kindergarten brauche es in den nächsten Jahren grössere
Anstrengungen, um Stellen zu besetzen, schreibt das Amt in seinem Brief an die
Schulleiter. Deshalb empfiehlt es, persönliche Kontakte zu nutzen. Diese können
auch hilfreich sein, wenn eine Kindergärtnerin bereits pensioniert ist. Gemäss
Lehrpersonalrecht ist der Einsatz bis zum 70. Altersjahr möglich. Neu will das
Volksschulamt auch Ausnahmebewilligungen für über 70-Jährige ausstellen,
allerdings nur bei Lehrermangel. Volksschulamtschefin Marion Völger rechnet
nicht mit einem Ansturm der Generation 70 plus. Derzeit sei keine einzige
Lehrperson in diesem Alter an Zürcher Schulen tätig. Allerdings habe man vor
kurzem die Anfrage einer Gemeinde gehabt, welche eine über 70-jährige
Heilpädagogin anstellen wollte: «Aus rechtlichen Gründen konnten wir dies nicht
erlauben, was im konkreten Fall bedauerlich war.»
Miese Arbeitsbedingungen
Der Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverband (ZLV) zeigte sich
gestern in einem Communiqué besorgt über die Situation auf dem Stellenmarkt. Es
greife zu kurz, nur die steigenden Schülerzahlen und die
Babyboomer-Pensionierungswelle in der Lehrerschaft dafür verantwortlich zu
machen.
Die jährlich wiederkehrende Krise bei der Besetzung der
Stellen weise auf tiefer liegende Probleme hin. Für den ZLV liegen sie in den
schlechten Arbeitsbedingungen und in der Überlastung vieler Lehrerinnen und
Lehrer. Es sei nicht verwunderlich, wenn frisch ausgebildete Lehrpersonen oft
nach wenigen Jahren in andere Berufe wechseln würden. Aus diesem Grund fordert
der ZLV Massnahmen, die das Image des Lehrerberufs so aufwerten, dass er wieder
attraktiv wird für eine «lebenslange Karriere» in der Schule. Für den ZLV
sollen es Massnahmen sein, welche nicht kostenneutral zu haben sind.
Insbesondere verlangt der Berufsverband eine Senkung der Pflichtstundenzahl.
Marion Völger weist solche Forderungen zurück. Es gebe keine
Belege, dass Lehrerinnen und Lehrer überdurchschnittlich häufig aus dem Beruf
ausstiegen: «Berufswechsel sind heute nicht unüblich, das sehen wir daran, dass
sehr viele Leute aus fremden Berufen in den Lehrerberuf umsteigen wollen.» Was
die Imagepflege des Berufs angeht, gibt Völger den Ball zurück an den
Lehrerverband: «Wer das Ansehen seines Berufes heben will, sollte vor allem
über seine schönen Seiten reden.»
Zuwanderung sorgt für Wachstum
Die Prognosen der Schülerzahlen im Kanton Zürich haben sich
in den letzten zwanzig Jahren grundlegend verändert. Während man um die
Jahrtausendwende mit sinkenden Zahlen rechnete, ist jetzt das Gegenteil der
Fall: Seit 2007 ist die Zahl der Volksschülerinnen und Volksschüler um rund
11,5 Prozent gestiegen. Hauptgrund der Entwicklung ist die Zuwanderung aus
anderen Kantonen und aus dem Ausland. Zwischen 2012 und 2015 betrug das
Wachstum auf Stufe Kindergarten jedes Jahr vier Prozent, inzwischen ist es
etwas abgeflacht und beträgt jährlich noch rund zwei Prozent. In den kommenden
Jahren wird die Wachstumswelle die Sekundarschulen und die Gymnasien erreichen,
wo die Schülerzahlen im Moment nur moderat steigen.
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