Wie lauteten die Proklamationen von politischen Parteien
nach dem Pisa-Schock vor fünfzehn Jahren? «Wir müssen die Kinder vorschulisch
fördern!» Was steht in den Legislaturzielen vieler Kantone und Städte?
«Startchancen für sozial benachteiligte Kinder durch Frühförderung verbessern.»
Was schreiben die Kommentatoren nach der Publikation des neusten Schweizer
Bildungsberichts? «Misserfolge auf dem Bildungs- und Lebensweg sind meist schon
vor dem Eintritt in den Kindergarten vorgespurt» (NZZ 20. 6. 18). Und was wird
konkret für die Umsetzung von erfolgreichen Frühinterventionen zur Steigerung
der Chancengerechtigkeit getan? Immer mehr, aber noch nicht genug. Das ist unklug
und muss geändert werden.
Früher fördern, NZZ, 11.7. von Andrea Lanfranchi
Die soeben kommunizierten Daten aus dem Schweizer
Bildungsbericht 2018 sprechen Klartext: Unserer Schule gelingt es nicht,
Leistungsunterschiede zu vermindern, die auf die soziale Herkunft zurückgehen.
Im Gegenteil: Die bei der Einschulung festzustellenden Unterschiede vergrössern
sich im Laufe der Jahre. Die Schlussfolgerung, die man daraus ziehen kann,
bekräftigt eine seit Jahren bekannte Forderung: Empfohlen werden vorschulische
Förderprogramme mit dem Ziel, dass die Unterschiede bei der Ausgangslage
bereits vor Schuleintritt reduziert werden können. Also schon am Wickeltisch
ansetzen statt erst an der Werkbank.
Nötig ist eine Frühförderung, die sehr konkret im
Erziehungsalltag von sozial belasteten Familien positiv wirkt. Also eine
Förderung über die Stärkung bildungsferner Eltern, die gut erprobt und
realisierbar ist. Es geht darum, dass sie gewissermassen präventiv auch
diejenigen Eltern erreicht, an die man mit den bisherigen Methoden nicht
herangekommen ist.
Studien belegen, worauf es ankommt, damit Frühförderung
langfristig wirkt: Sie besteht erstens aus einem gut begründeten Programm mit
klarem Beschrieb von Zielen und Aktivitäten. Das Programm ist zweitens auf
Familien in besonderen Risikosituationen zugeschnitten. Hierfür muss man die
Familien aktiv zu Hause ansprechen und nicht warten, bis sie von sich aus auf
Förderungsanbieter zugehen. Die Unterstützung der Eltern fängt drittens sehr
früh an – allenfalls schon vor der Geburt. Das Programm weist viertens eine
hohe Intensität und Kontinuität auf. Fünftens braucht es qualifiziertes
Personal, damit die Qualität der Umsetzung garantiert ist und auch sehr kleine
Kinder mit belasteten Eltern begleitet werden können. – In der Schweiz bestehen
bereits vielfältige Einrichtungen für die Kinder- und Familienhilfe, an die wir
anknüpfen können. Die meisten Kantonen haben ein ausgezeichnetes Beratungsnetz,
etwa die Mütter- und Väterberatung und die Erziehungsberatung. Das Problem ist,
dass diese Einrichtungen ausgerechnet diejenigen Eltern, die am meisten auf
Unterstützung angewiesen wären, nur beschränkt erreichen.
Es gibt auch viele gute (manchmal aber lediglich gut
gemeinte) Angebote für kleine Kinder, wie Spielgruppen, Kindertagesstätten,
Mutter-Kind-Treffs usw. Oft stimmt aber die Dosierung nicht. Dazu kommt, dass
das Personal oft ungenügend qualifiziert ist, was im sehr heiklen Bereich der
Erziehungsarbeit mit Familien in Risikosituationen problematisch ist.
Schliesslich kommt es allzu oft zu vollmundigen Erfolgsversprechen gewisser
Programmanbieter, die nicht belegt werden können. Da ist oft von nachhaltiger
Wirksamkeit die Rede, auch wenn es gar keine evaluierenden Studien gibt – oder
aber die Studien entsprechen nicht den erforderlichen wissenschaftlichen
Standards (etwa ein nach dem Zufallsprinzip verteilter
Kontrollgruppenvergleich).
Wir sind heute in der glücklichen Lage, über sorgfältig
überprüfte, wirksame und langfristig kostensparende Förderprogramme für alle
sozial belasteten Familien zu verfügen. Die Mittel für die von Stiftungen
finanzierten Projekte reichen nur für einen Bruchteil dieser Familien. Es fragt
sich nun, was es noch braucht, damit die Förderprogramme in das Regelsystem der
Kinder- und Familienhilfe übernommen und breit umgesetzt werden können.
Andrea Lanfranchi leitet das Institut für Professionalisierung
an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich und die
Langzeitstudie Zeppelin.
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