22. Juli 2018

Noch früher und noch mehr fördern

Wie lauteten die Proklamationen von politischen Parteien nach dem Pisa-Schock vor fünfzehn Jahren? «Wir müssen die Kinder vorschulisch fördern!» Was steht in den Legislaturzielen vieler Kantone und Städte? «Startchancen für sozial benachteiligte Kinder durch Frühförderung verbessern.» Was schreiben die Kommentatoren nach der Publikation des neusten Schweizer Bildungsberichts? «Misserfolge auf dem Bildungs- und Lebensweg sind meist schon vor dem Eintritt in den Kindergarten vorgespurt» (NZZ 20. 6. 18). Und was wird konkret für die Umsetzung von erfolgreichen Frühinterventionen zur Steigerung der Chancengerechtigkeit getan? Immer mehr, aber noch nicht genug. Das ist unklug und muss geändert werden.
Früher fördern, NZZ, 11.7. von Andrea Lanfranchi


Die soeben kommunizierten Daten aus dem Schweizer Bildungsbericht 2018 sprechen Klartext: Unserer Schule gelingt es nicht, Leistungsunterschiede zu vermindern, die auf die soziale Herkunft zurückgehen. Im Gegenteil: Die bei der Einschulung festzustellenden Unterschiede vergrössern sich im Laufe der Jahre. Die Schlussfolgerung, die man daraus ziehen kann, bekräftigt eine seit Jahren bekannte Forderung: Empfohlen werden vorschulische Förderprogramme mit dem Ziel, dass die Unterschiede bei der Ausgangslage bereits vor Schuleintritt reduziert werden können. Also schon am Wickeltisch ansetzen statt erst an der Werkbank.

Nötig ist eine Frühförderung, die sehr konkret im Erziehungsalltag von sozial belasteten Familien positiv wirkt. Also eine Förderung über die Stärkung bildungsferner Eltern, die gut erprobt und realisierbar ist. Es geht darum, dass sie gewissermassen präventiv auch diejenigen Eltern erreicht, an die man mit den bisherigen Methoden nicht herangekommen ist.

Studien belegen, worauf es ankommt, damit Frühförderung langfristig wirkt: Sie besteht erstens aus einem gut begründeten Programm mit klarem Beschrieb von Zielen und Aktivitäten. Das Programm ist zweitens auf Familien in besonderen Risikosituationen zugeschnitten. Hierfür muss man die Familien aktiv zu Hause ansprechen und nicht warten, bis sie von sich aus auf Förderungsanbieter zugehen. Die Unterstützung der Eltern fängt drittens sehr früh an – allenfalls schon vor der Geburt. Das Programm weist viertens eine hohe Intensität und Kontinuität auf. Fünftens braucht es qualifiziertes Personal, damit die Qualität der Umsetzung garantiert ist und auch sehr kleine Kinder mit belasteten Eltern begleitet werden können. – In der Schweiz bestehen bereits vielfältige Einrichtungen für die Kinder- und Familienhilfe, an die wir anknüpfen können. Die meisten Kantonen haben ein ausgezeichnetes Beratungsnetz, etwa die Mütter- und Väterberatung und die Erziehungsberatung. Das Problem ist, dass diese Einrichtungen ausgerechnet diejenigen Eltern, die am meisten auf Unterstützung angewiesen wären, nur beschränkt erreichen.
Es gibt auch viele gute (manchmal aber lediglich gut gemeinte) Angebote für kleine Kinder, wie Spielgruppen, Kindertagesstätten, Mutter-Kind-Treffs usw. Oft stimmt aber die Dosierung nicht. Dazu kommt, dass das Personal oft ungenügend qualifiziert ist, was im sehr heiklen Bereich der Erziehungsarbeit mit Familien in Risikosituationen problematisch ist. Schliesslich kommt es allzu oft zu vollmundigen Erfolgsversprechen gewisser Programmanbieter, die nicht belegt werden können. Da ist oft von nachhaltiger Wirksamkeit die Rede, auch wenn es gar keine evaluierenden Studien gibt – oder aber die Studien entsprechen nicht den erforderlichen wissenschaftlichen Standards (etwa ein nach dem Zufallsprinzip verteilter Kontrollgruppenvergleich).

Wir sind heute in der glücklichen Lage, über sorgfältig überprüfte, wirksame und langfristig kostensparende Förderprogramme für alle sozial belasteten Familien zu verfügen. Die Mittel für die von Stiftungen finanzierten Projekte reichen nur für einen Bruchteil dieser Familien. Es fragt sich nun, was es noch braucht, damit die Förderprogramme in das Regelsystem der Kinder- und Familienhilfe übernommen und breit umgesetzt werden können.


Andrea Lanfranchi leitet das Institut für Professionalisierung an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich und die Langzeitstudie Zeppelin.

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