24. Juni 2018

"Nicht auf dem Buckel der Kinder"

Es gab wohl kaum je einen Elternabend, an den so viele Eltern kommen wollten, dass gleich die Dietiker Stadthalle nötig ist. Doch am Dienstag- und Mittwochabend war es so. Denn es ging um ein polarisierendes Thema: den Lehrplan 21, der auf das neue Schuljahr hin in den Schulen des Kantons Zürich bis zur 5. Klasse eingeführt wird. Die 6. Klasse und die Sekundarstufe folgen ein Jahr später. Der neue Lehrplan will zusätzlich zum blossen Wissen mehr Fokus auf das Erlernen von Kompetenzen legen.
"Der Lehrplan 21 bereitet Kinder auf eine Zukunft vor, die niemand kennt", Limmattaler Zeitung, 22.6. von Leo Eiholzer


Rolf Gollob, Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich, hielt auf Einladung der Dietiker Schulabteilung zwei Referate. Trotz Fussball-WM hatten sich für beide Abende zusammen 919 Eltern angemeldet. In Dietikon gibt es rund 1300 Schüler. Mit etwa 400 Personen am Dienstag und knapp 300 am Mittwoch kamen zwar etwas weniger Eltern als erwartet. Die Zahlen sind trotzdem beachtlich. Gollob versuchte zu erklären, warum der 505-seitige Lehrplan 21 nötig ist. Die Kernaussage des Referats am Mittwochabend: «Früher wussten wir in etwa, wie das Leben in Zukunft aussieht. Heute ist das nicht mehr so.» Deshalb sei das Lernen von Kompetenzen so wichtig. Denn damit könnten die Schüler das Erlernte auf Probleme, die die Eltern-Generation gar nie hatte, anwenden.

Innovation, um zu überleben
Um das zu erklären, wurde der Ethnologe Gollob grundsätzlich. Er unterscheidet statische und innovative Gesellschaften. In einer statischen Gesellschaft muss das Wissen der Eltern übernommen werden, um zu überleben. Als Beispiel dafür nahm Gollob ein indigenes Volk, das vom Jagen lebt. Er sagte: «Wenn der Sohn von seinem Vater nicht lernt, wie man jagt, wird die Gruppe, die er ernähren muss, nicht überleben. Er kann nicht einfach ein bisschen ausprobieren.»
Im Gegensatz dazu stehe unsere Innovationsgesellschaft, in der es lebensbedrohlich wird, wenn die Kinder das Wissen der Eltern kritiklos übernehmen. Dies, weil sich die Umstände ändern. Als Gegensatz zum Jäger-Volk zeigte er das Bild eines Astronauten.

«Er kann nicht seinen Vater fragen, wie man zum Mond fliegt», so Gollob. Er müsse es selbst herausfinden, indem er sein Wissen und seine Erfahrungen neu zusammensetzt.
Beim Lehrplan 21 gehe es darum, Kinder auf eine Zukunft vorzubereiten, die niemand kennt. «Wir wollen den Kindern ein Problem vor die Nase setzen und es sie lösen lassen», sagte Gollob. Er machte ein Beispiel: Man gibt fünf Primarschülern 22 Äpfel. Die Schüler würden selber anfangen, die Äpfel zu verteilen und merken, dass zwei übrig bleiben. Gollob: «So lernten Sie das Teilen mit Rest.»

Ursache dafür, dass man einen neuen Lehrplan einführen wollte, sei der sogenannte Pisa-Schock gewesen. Bei der internationalen Pisa-Studie für Schüler schloss die Schweiz im Jahr 2001 unter dem Durchschnitt der Industrieländer ab.

Gollob frischte sein Referat mit persönlichen Anekdoten auf und sprach äusserst pointiert. So sagte er: «Schülern erzählt man immer wieder, ‹Du lernst nicht für die Schule, sondern für das Leben.›» Ans Publikum gerichtet, sagte er: «Vergessen Sie diesen Spruch! Das ist etwas vom Dümmsten, was man sagen kann. Denn wir wissen nicht, wie das Leben in Zukunft aussieht.»

Das Publikum war ihm schon gewogen, doch endgültig für sich gewonnen hatte Gollob die Anwesenden, als er sagte, dass sein Grossvater 1897 als Ofenbauer aus Slowenien nach Dietikon gezogen ist und hier lebte. Im Heimatmuseum stehe ein Kachelofen, den sein Grossvater gebaut habe.
Doch zurück zum Lehrplan: Gollob verteidigte ihn auch gegen Kritik, die in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit angeklungen ist: «Der Lehrplan 21 ist nicht verkopft.» Es stimme ausserdem nicht, dass kein Wissen mehr gelehrt werde: «Das ist totaler Quatsch. Ohne Wissen gibt es auch keine Kompetenzen», sagte Gollob.

Nach dem Referat vom Mittwoch sagte er auf Anfrage, in anderen Gemeinden seien sogar Flugblätter verteilt worden, in denen kritische Eltern aufgerufen wurden, an die Veranstaltung zu kommen. In Dietikon musste sich Gollob an diesem Abend nicht mit offenen Kritikern herumschlagen. Doch den Fragen war anzumerken, dass der neue Lehrplan die Dietiker Eltern auf jeden Fall umtreibt. Ein Vater fragte, ob der Lehrplan schon irgendwo erprobt worden sei. Gollobs Antwort: «Nein, nicht als gesamtes Projekt.» Doch die Grundlagen und einzelne Elemente würden schon länger getestet. Angewendet würden sie auch unbewusst schon längst, so etwa im Projektunterricht. Er versicherte: «Es wird nichts auf dem Buckel Ihrer Kinder getestet.»

Es gibt auch künftig Zeugnisse
Ein weiterer Elternteil fragte danach, ob es denn weiterhin Noten und Zeugnisse
gebe. Gollob bejahte dies. «Zeugnisse helfen dabei, sich einzuordnen und natürlich auch bei Selektionen.» Wie genau man dies aber machen will, sei noch nicht in allen Details klar. Die Bildungsdirektion wolle zusammen mit den Lehrern Erfahrungen sammeln. Bewertet werden könnten natürlich nicht die Kompetenzen selbst, sondern erst die Anwendung der Kompetenzen.

Der abtretende Dietiker Schulvorstand Jean-Pierre Balbiani (SVP) sprach am Anlass die Begrüssungsworte. Er sagte: «Der Lehrplan 21 ist ein wesentlicher Wechsel.» Darum habe man diese Vorträge im grossen Rahmen organisiert. «Nicht nur von der Art des Lernens her ist die Umstellung gross, sondern auch operativ. Man braucht neue Lehrmittel und teilweise zusätzliche Räumlichkeiten wie Gruppenräume. Die Eltern im Boot zu haben, ist dabei sehr wichtig.»

1 Kommentar:

  1. Online-Kommentar von Peter Aebersold:
    Niemand kennt die Zukunft, nur die Lehrplan 21-Experten, die die Kinder angeblich auf die Zukunft vorbereiten? Die sechs von der D-EDK ausgewählten Gender-, Kompetenz- und Reformexperten, die von 2006 bis 2010 die "Grundlagen für den Lehrplan 21" ausgebrütet haben, haben es sich einfach gemacht. Sie haben den Kompetenzraster der OECD (nach Weinert), einer Wirtschaftsorganisation der Global Player, übernommen. Wenn das kein blinder Test auf dem Buckel unserer Kinder ist, was dann?

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