Der
Jugendpsychotherapeut Allan Guggenbühl sagt, dass Kinder zu Opfern des
politisch korrekten Denkens werden. Neue Schulreformen setzen auf
selbstorganisiertes Lernen und Kompetenzen. Das sei Betrug an den Schülern.
"Schüler sind nicht dumm", Tages Anzeiger, 26.5. von Matthias Meili
Sie
kritisieren die heutige Schule. Wie kommen Sie dazu?
Ich gehe
von der Wirkung auf die Kinder aus. Aus meinen Gesprächen mit Kindern und
Eltern und in meinen Beratungen in den Schulen erlebe ich, wie sich der
Unterricht auswirkt und was die Kinder oder Jugendlichen brauchen.
Welchen
Eindruck haben Sie?
Viele
Reformen berücksichtigen die Psychologie der Kinder nicht, es handelt sich um
intellektualistische Kopfgeburten, die logisch und innovativ tönen, Kinder
jedoch überfordern.
Welche
Reformen meinen Sie?
Das
selbstorganisierte Lernen ist neben dem Kompetenzbegriff eine solch mantraartig
vorgebrachte Reform. Die Schüler werden angehalten, ihr eigener Lernmanager zu
sein, Lernziele selber zu formulieren und sich für Stoffschwerpunkte zu
entscheiden. Ausserdem wird praktisch alles, was das Kind macht und denkt, mit
dem Begriff «Kompetenz» erfasst und bewertet.
Die
Kinder lernen so, selbstständig und selbstreflektiert zu sein. Was soll daran
falsch sein?
Autonomie
entsteht nicht, indem man sie verordnet. Wichtig ist, dass man Bedingungen
schafft, die es möglich machen, eigenständig zu sein. Dazu gehört die
Möglichkeit, sich abzugrenzen, eigene Wege zu gehen. Schüler sind nicht dumm.
Sie realisieren, dass die Schule eine Zwangsinstitution ist! Die meisten Kinder
sind aber bereit, sich anzupassen, und neugierig, was man ihnen erzählen wird.
Es ist ein Betrug, wenn nun verlangt wird, die Ziele selber zu setzen, denn
Kinder würden völlig andere Dinge wählen. Unsere Gesellschaft hat genügend
Angebote: gamen, im Internet surfen, Magazine anschauen etc. Selbstständigkeit
entwickeln sie, wenn sie wirklich frei in der Themenwahl sind.
Sie reden
von Betrug. Sie übertreiben.
Nein. Die
Schulzeit ist eine Zeit der Prägung. Die Kinder wollen von Erwachsenen geführt
werden. Sie brauchen Vorbilder, die sie bewundern und über die sie sich
aufregen können. Vor allem aber wollen sie von deren Geschichten und
Leidenschaften hören. Über die Auseinandersetzungen mit den Erfahrungen der
Alten wachsen Kinder in die Gesellschaft hinein. In einem solchen Setting eigene
Lernziele zu setzen, macht keinen Sinn.
Wieso?
Unterrichten
ist psychologisch gesehen ein Anbindungsakt. Viele Kinder lernen dem Lehrer
zuliebe. Kinder lernen am besten, wenn die Lerninhalte emotional besetzt sind,
weil sie von einer geschätzten Bezugsperson vermittelt werden.
Selbstorganisiertes
Lernen bedeutet ja nicht, dass keine Lehrerin mehr im Schulzimmer ist.
Das
selbstorganisierte Lernen basiert auf der Idee, in der gleichen Klasse Kinder
mit verschiedenen Begabungen und unterschiedlicher Leistungsfähigkeit zu
unterrichten. Wenn die Kinder sowohl das Lerntempo wie auch die Lernziele
selber bestimmen, soll mehr Diversität möglich sein. Das Problem ist, dass
diese Unterrichtsform die Rolle der Lehrperson neu definiert. Sie wird zum
Coach und verliert ihre Stellung als Oberbandenführer. Das Lernen ist nicht
mehr ein Gruppenprozess, sondern eine Einzelaktivität. Für viele Kinder eine
klare Überforderung. Ausserdem ist die Lehrperson oft nicht präsent. Mir haben
Schulkinder erzählt, dass sie ihre Fragen nicht mehr dem Lehrer stellen dürfen,
sondern diese mit ihren Klassenkameraden diskutieren müssen.
Wie
leiden die Kinder an der Diskrepanz zwischen Reformen und ihren Bedürfnissen?
Sie
reagieren auf verschiedene Weise. Viele lernen unabhängig von der Methode gut,
selbst beim miserabelsten Unterricht. Andere passen sich oberflächlich an. Sie
mimen Interesse, doch die Themen der Schule finden keinen Widerhall in ihnen.
Eine dritte Kategorie von Kindern minimalisiert ihren Effort, sie werden
unruhig und stören. Das betrifft in der Mehrheit Knaben.
Spüren
Sie als Jugendpsychotherapeut die Nachteile der Reformen in der Praxis direkt,
zum Beispiel, weil Ihnen mehr Kinder zugewiesen werden?
Das kann
ich nicht beurteilen, weil ich schon längere Zeit mit Kindern arbeite, die von
der Schule herausgefordert werden. Was zugenommen hat, sind die Fälle mit ADHS.
Die Diagnose wird oft ohne seriöse Abklärung gestellt. Sie wird zur Etikette
eines Schülers, ohne dass man weiss, wer sie verabreicht hat. Viele Schüler
sehen dann in ihrer Diagnose eine Auszeichnung. Wer nicht die Etikette ADHS
verabreicht bekommt, ist kein richtiger Bub! Problematisch ist, dass Unruhe,
Dooftun, Frechsein pathologisiert werden und dann als fehlende Sozialkompetenz
in Lernberichten erscheint.
Was ist
falsch daran, wenn Kinder soziale Kompetenzen lernen?
Problematisch
ist nicht, dass man die Kinder auffordert, sich zu benehmen, sondern dass die
Einhaltung dieser Anstandsformen relevant für den Schulerfolg wurden. Ausserdem
werden Verhaltensweisen als ein Zeichen sozialer Inkompetenz bezeichnet, die an
sich normal sind.
Zum
Beispiel?
Widersprechen,
unterbrechen, Provokationen, schimpfen oder in einem Konflikt einfach mal zu
schweigen. Solche Kommunikationsformen sind in der Erwachsenenwelt völlig
normal. Kindern wollen wir jedoch vorgaukeln, dass solche Kommunikationsformen
abwegig sind. Sie werden zu Opfern des politisch korrekten Denkens. Ich hatte
einmal einen Schüler, der nach einem Konflikt mit der Lehrerin über seine
Gefühle hätte sprechen sollen. Er sagte mir, dass er ihr doch nicht sagen
könne, dass er sie eine dumme Kuh finde – absolut zu Recht.
Das
richtige Sozial- und Arbeitsverhalten ist doch zentral fürs spätere Leben.
Natürlich.
Doch wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir zugeben, dass auch abwegige
Verhaltensweisen zu persönlichem Erfolg führen. Viele Wissenschaftler, Politiker
oder Geschäftsleute wurden erfolgreich, weil sie Kollegen wegmobbten. Wer etwas
anderes behauptet, ist entweder naiv, oder er lügt. Natürlich sind diese
Verhaltensweisen problematisch. Wir sollten sie nicht fördern. Aber wenn man
den Kindern vorspielt, dass man nur weiterkommt, wenn man brav ist, nicht
unterbricht, die Lehrerin nicht fragt, ist das nichts anderes als ein
grandioser Betrug.
Wie soll
die Schule denn damit umgehen?
Konflikte
sind ein Teil der Arbeit der Lehrpersonen, es ist ihr Alltag. Kinder zu
unterrichten und zu erziehen, ist Schwerstarbeit. Wie reagieren, wenn ein Knabe
einer Lehrerin «Du Schlampe» sagt? Solche Rede darf man nicht tolerieren, man
muss mit dem Schüler sprechen und allenfalls eine Strafe aussprechen. Aber wir
dürfen nicht vergessen: Es handelt sich um Menschen in Entwicklung! Die
allermeisten verhalten sich als Erwachsene nicht so, wie sie es als Kind taten.
Viele
Lehrer klagen über Stress und Mehrbelastungen.
Lehrpersonen
bewegen sich in einem halbchaotischen Umfeld, müssen immer wieder spontan
reagieren. Meistens können sie sich nicht lange überlegen, wie sie vorgehen
müssen. Doch heute müssen sie sehr viel protokollieren, Lernberichte verfassen,
Beobachtungsberichte nach verschiedenen Kriterien schreiben und notieren, wie
sich das Kind in der Gruppe und beim Lernen verhält. Es droht eine
Verbürokratisierung der Schule, die der spontanen, direkten und
aussergewöhnlichen Auseinandersetzung mit dem Kind wenig Bedeutung gibt.
Die
Berichte sind doch auch für das Kind wichtig, um seine Stärken erkennen und sie
gezielt fördern.
Es ist
natürlich wichtig, dass Eltern und Lehrer über das Kind sprechen und dass man
dies auch mit dem Kind selber tut. Fruchtbare Gespräche sind ein sorgsames
Eindringen in die gegenseitige Gedanken- und Gefühlswelt. Sie sind voller
Überraschungen. Gespräche nach standardisierten Kriterien zu führen, ist eine
Beleidigung der Lehrpersonen und Eltern.
Was für
ein Schüler waren Sie eigentlich?
In der
Primarschule war ich ein hoffnungsloser Fall, vor allem in der Orthografie.
Mein Lehrer hat damals beschlossen, dass es keinen Sinn macht, mit mir Diktate
zu üben.
Heute
sind Sie Autor mehrerer Bücher. Wäre Ihr Weg vom Schulmuffel zum Erfolg heute
noch möglich?
Ich bin
mir nicht sicher, eher nein. Ich glaube jedoch, dass Schulerfolg wenig aussagt
über den späteren Erfolg im Leben. Um beruflich erfolgreich zu sein, braucht es
noch ganze andere Fähigkeiten: Intuition, spielerische Begabung,
Durchsetzungsfähigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Schlauheit.
Alles
ausserschulische Kompetenzen. Im Sommer wird in vielen Kantonen, darunter Bern
und Zürich, der Lehrplan 21 eingeführt, der den ganzen Schulstoff in
Kompetenzen aufgliedert. Was ist daran falsch?
Mit dem
Begriff «Kompetenzen» wird suggeriert, dass ein grosser Wandel bevorstehe, dass
Lernen zu einem zielgerichteten Prozess werde. So hofft man, dass die grosse
Professionalisierung herannaht und die Schule die Kinder zu perfekten
Arbeitnehmern macht. «Kompetenz» wurde als Wort gehypt, um mess- und vergleichbare
Resultate ins Zentrum zu stellen. Das Ziel ist, sich auf den Output zu
konzentrieren, die Leistungen der Schüler mutieren zu
Persönlichkeitseigenschaften.
Der
Lehrplan 21 will, dass die Kinder das dargebotene Wissen richtig umsetzen, also
Wissen mit Kompetenzen verbinden.
Vergessen
wird, dass Verhalten und Leistungen vom Kontext, vom System abhängen, indem man
sich bewegt. Teamfähigkeit hängt zum Beispiel davon ab, ob man sich mit der
Gruppe identifiziert; den Inhalt der Arbeit interessant findet. Lesen wird
interessant, wenn die Lektüre spannend ist. Der Lehrplan führt aber über 2000
Kompetenzen auf, was keinen Sinn macht. In der Praxis wird der Lehrplan kaum
handlungsrelevant werden.
Was
sollte die Schule stattdessen leisten?
Der
Schwerpunkt müsste meiner Meinung nach wieder auf die Vermittlung von Wissen im
persönlichen Kontakt von der Lehrperson zu den Schülern gelegt werden. Das tönt
jetzt etwas altmodisch. Aber die Kinder gehen in die Schule, um von Menschen zu
erfahren, was im Leben spannend ist, was sie können und wissen sollten. Sie
gehen nicht primär in die Schule, um zu lernen, wie man lernt.
Hinter
dem neuen Lehrplan steckt jahrelange Arbeit, in der die besten Experten
zusammen mit allen Beteiligten alles berücksichtigt haben. Machen Sie es sich
nicht ein bisschen einfach, diese Arbeit von aussen jetzt zu kritisieren?
Es
stimmt, viele gescheite Leute haben mitgearbeitet. Sie wurden jedoch von einer
kollektiven Erneuerungsmanie erfasst, die ihr Denken einengt. Es ist immer
gefährlich, wenn man sich als isoliertes Kollektiv den Auftrag gibt, die
Gesellschaft zu erneuern. Aber der Schule und Bildung wird grosses Vertrauen
entgegengebracht. Das ist gut, doch hat es zur Folge, dass sich die breite
Bevölkerung nicht wirklich für Schule und Erziehung interessiert. Deshalb ist
es sehr schwierig, diese Themen zu einem Politikum zu machen. Die meisten
denken, die Verantwortlichen machen es schon richtig. Dies wurde jedoch nun zu
einem Nachteil, weil im Zusammenhang mit den neuen Reformen niemand richtig
hinschaut.
Können
die Reformen überhaupt noch rückgängig gemacht werden?
Die
Gefahr ist, dass die Schule an Bedeutung verliert und sich andere Formen der Sozialisation
verbreiten, Ad-hoc-Schulen oder Subgruppen. Ich bin nicht sicher, ob die
aktuelle Form der Schule, bei der ein immenser, von der Realität der Kinder
isolierter Überbau existiert, überleben wird.
Allan
Guggenbühl (66) studierte nach Ausbildungen zum Lehrer und Musiker Psychologie
an der Universität Zürich. Seit 1984 leitet er das Institut für
Konfliktmanagement. Er ist Autor zahlreicher Bücher zu den Themen Jugendgewalt,
Bildung sowie Jungen- und Männerarbeit. Allan Guggenbühl hat drei erwachsene
Kinder.
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