23. Juni 2018

Digitalisierung benebelt

Bisweilen lohnt es sich, einem jungen Philosophen zuzuhören. Denn alle Philosophie beginnt damit, dass man sich wundert. Solch ein junger Philosoph, vielleicht zehn Jahre alt, wunderte sich kürzlich und fragte: «Wie kam Martin Luther eigentlich ins Internet, wo es doch damals noch keine Computer gab?»
Wir Fingerwesen, NZZ, 23.6. von Manfred Schneider


Die Antwort, die unser politischer Zeitgeist bereithält, lautet: Weil die Fürsten des 16. Jahrhunderts statt der Digitalisierung die Alphabetisierung gefördert haben. Aber, keine Sorge: Das wollen viele europäische Regierungen rückgängig machen. An der Spitze unserer politischen Agenda steht die Digitalisierung. Regierungen, Parteien und Verbände wetteifern in der Forderung nach «digitalen Strategien».

Während in vielen Städten die Schulen verschimmeln, werden die Kleinen in das digitale Zeitalter eingeführt, wo sie längst sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie vor dem Abc und dem Einmaleins das Hallo-Welt-Computerprogramm lernen können, denn leider setzt das Programmieren die Kenntnis von verschiedenen Symbolen voraus. Es heisst vielmehr, dass die Kleinen das alte Schulpensum jetzt auf digitalen Oberflächen erledigen, und, wenn sie nicht wissen, wann Martin Luther versuchte, ohne Computer ins Internet zu kommen, bei Wikipedia nachfragen können.

Inzwischen kann man die Zehnjährigen fragen, was die wichtigste politische Aufgabe unserer Zeit sei, und sie werden antworten: Digitalisierung. Es ist die Ideologie unserer Tage. Gewiss leiden manche Unternehmen und Betriebe darunter, dass ihnen kein schnelles Internet zur Verfügung steht.

Hier ist der Staat sicher gefordert. Aber ist ruckelfreies Streamen von Netflix-Serien in U-Bahnen ein Menschenrecht? Aus einer gleichen Verblendung kommt der Glaube, dass Europa technologisch zurückfiele, wenn es nicht auch politisch die künstliche Intelligenz fördert. Liebe Zeitgenossen und politischen Meisterdenker: Welches drängende politische oder soziale Problem werden die Digitalisierung oder die künstliche Intelligenz lösen?
Werden sie Wohnungen bauen, den allgemeinen Bildungsstand erhöhen, die verseuchten Meere reinigen, die Halbwertszeiten des Atommülls verkürzen, die Migrantenströme an ihren Ursprung zurücklenken, den Populisten das Maul stopfen und die Diktatoren ins Gefängnis bringen? Werden sie die Gletscher und das arktische Eis wieder gefrieren lassen, die Kindersterblichkeit senken, die versunkenen Salomonen-Inseln noch einmal auftauchen lassen, werden sie den Millionen jugendlicher Arbeitsloser helfen, werden sie den Hunger stillen? Werden sie den Verfall unserer politischen Institutionen aufhalten? Ach, und werden sie jemals den Tomaten ihren Geschmack zurückgeben?

Man darf sagen, dass die Digitalisierung, die unser Leben seit vier Jahrzehnten so gründlich verändert, unzählige Bequemlichkeiten hervorgebracht, aber wirklich nichts grundlegend verbessert hat. Facebook und zahllose andere Internetkonzerne rüsten weiter den Kinderglauben auf: «We make life better.» Nichts ist trügerischer.

Solche strategische Täuschung nennen Unternehmer heutzutage gerne: unsere Philosophie! Ihr Ursprung ist nicht mehr das Sich-Wundern, sondern das Alle-Benebeln. Niemand zweifelt daran, dass grosse Intelligenz die digitale Welt hervorgebracht hat. Während auf den Thronen und Präsidentenstühlen die politischen Intelligenzleistungen an die aufziehbaren Spielzeugautos des vergangenen Jahrhunderts erinnern, verdanken wir bewundernswerten Intelligenzen leider nur die wuchernden digitalen Umwelten. Das ist das eine. Die andere masslose Intelligenz spielt an den Börsen und in der Wirtschaft. Sie ruiniert die Welt mit digital gesteuerten Kapitalströmen, die nicht sinnvolle, sondern profitable Unternehmungen pushen, ohne jede weiterblickende Verantwortung.

«Digitalisierung» heisst in der lateinischen Bedeutung des Wortes so viel wie «Verfingerung». Tatsächlich ist die tätige und untätige Menschheit in einer unfassbaren Homogenisierung in allen Winkeln der Welt zu einer tastendrückenden und fingerwischenden Spezies geworden. Gleich, ob wir Raketen lenken, Gedichte schreiben, Baukräne steuern, Organe untersuchen, den Sternenhimmel scannen, Blutdruck messen, Musik hören oder die nächste Tankstelle suchen: Wir sind Fingerwesen geworden. Für die Monotonie der digitalen Tätigkeit müssen wir jedoch ständig nach Ausgleich suchen, der uns für ein kurzes Intervall des Wohlgefühls wieder in ein laufendes, schwitzendes, staunendes, sich ängstigendes Menschenwesen verwandelt.

Die digitale Welt lässt sich nicht rückgängig machen. Wir könnten aber nach der Erleuchtung tasten, dass all dies keinen Fortschritt bringt, sondern nur noch Erleichterung. Und dass die Erleichterung unser seliges Ende sein wird. Aber was soll die Politik tun? Sie soll die natürliche Intelligenz und die Verantwortung für den Globus fördern.
Martin Luthers Problem war nicht die Frage: Wie komme ich ins Internet? Sondern: Wie komme ich ins Himmelreich? Wir sind im Begriff, das Internet und seinen Komfort mit dem Himmelreich zu verwechseln.

Manfred Schneider ist emeritierter Professor für deutsche Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum.


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