Bisweilen lohnt es sich, einem jungen Philosophen zuzuhören. Denn alle
Philosophie beginnt damit, dass man sich wundert. Solch ein junger Philosoph,
vielleicht zehn Jahre alt, wunderte sich kürzlich und fragte: «Wie kam Martin
Luther eigentlich ins Internet, wo es doch damals noch keine Computer gab?»
Wir Fingerwesen, NZZ, 23.6. von Manfred Schneider
Die Antwort, die unser politischer Zeitgeist bereithält, lautet: Weil
die Fürsten des 16. Jahrhunderts statt der Digitalisierung die Alphabetisierung
gefördert haben. Aber, keine Sorge: Das wollen viele europäische Regierungen
rückgängig machen. An der Spitze unserer politischen Agenda steht die
Digitalisierung. Regierungen, Parteien und Verbände wetteifern in der Forderung
nach «digitalen Strategien».
Während in vielen Städten die Schulen verschimmeln, werden die Kleinen
in das digitale Zeitalter eingeführt, wo sie längst sind. Das bedeutet jedoch
nicht, dass sie vor dem Abc und dem Einmaleins das Hallo-Welt-Computerprogramm
lernen können, denn leider setzt das Programmieren die Kenntnis von
verschiedenen Symbolen voraus. Es heisst vielmehr, dass die Kleinen das alte
Schulpensum jetzt auf digitalen Oberflächen erledigen, und, wenn sie nicht
wissen, wann Martin Luther versuchte, ohne Computer ins Internet zu kommen, bei
Wikipedia nachfragen können.
Inzwischen kann man die Zehnjährigen fragen, was die wichtigste politische Aufgabe
unserer Zeit sei, und sie werden antworten: Digitalisierung. Es ist die
Ideologie unserer Tage. Gewiss leiden manche Unternehmen und Betriebe darunter,
dass ihnen kein schnelles Internet zur Verfügung steht.
Hier ist der Staat sicher gefordert. Aber ist ruckelfreies Streamen von
Netflix-Serien in U-Bahnen ein Menschenrecht? Aus einer gleichen Verblendung
kommt der Glaube, dass Europa technologisch zurückfiele, wenn es nicht
auch politisch die künstliche Intelligenz fördert. Liebe
Zeitgenossen und politischen Meisterdenker: Welches drängende politische oder
soziale Problem werden die Digitalisierung oder die künstliche Intelligenz
lösen?
Werden sie Wohnungen bauen, den allgemeinen Bildungsstand erhöhen, die
verseuchten Meere reinigen, die Halbwertszeiten des Atommülls verkürzen, die
Migrantenströme an ihren Ursprung zurücklenken, den Populisten das Maul stopfen
und die Diktatoren ins Gefängnis bringen? Werden sie die Gletscher und das
arktische Eis wieder gefrieren lassen, die Kindersterblichkeit senken, die
versunkenen Salomonen-Inseln noch einmal auftauchen lassen, werden sie den
Millionen jugendlicher Arbeitsloser helfen, werden sie den Hunger stillen?
Werden sie den Verfall unserer politischen Institutionen aufhalten? Ach, und
werden sie jemals den Tomaten ihren Geschmack zurückgeben?
Man darf sagen, dass die Digitalisierung, die unser Leben seit vier
Jahrzehnten so gründlich verändert, unzählige Bequemlichkeiten hervorgebracht,
aber wirklich nichts grundlegend verbessert hat. Facebook und zahllose andere
Internetkonzerne rüsten weiter den Kinderglauben auf: «We make life better.»
Nichts ist trügerischer.
Solche strategische Täuschung nennen Unternehmer heutzutage gerne:
unsere Philosophie! Ihr Ursprung ist nicht mehr das Sich-Wundern, sondern das
Alle-Benebeln. Niemand zweifelt daran, dass grosse Intelligenz die digitale
Welt hervorgebracht hat. Während auf den Thronen und Präsidentenstühlen die
politischen Intelligenzleistungen an die aufziehbaren Spielzeugautos des
vergangenen Jahrhunderts erinnern, verdanken wir bewundernswerten Intelligenzen
leider nur die wuchernden digitalen Umwelten. Das ist das eine. Die andere
masslose Intelligenz spielt an den Börsen und in der Wirtschaft. Sie ruiniert
die Welt mit digital gesteuerten Kapitalströmen, die nicht sinnvolle, sondern
profitable Unternehmungen pushen, ohne jede weiterblickende Verantwortung.
«Digitalisierung» heisst in der lateinischen Bedeutung des Wortes so
viel wie «Verfingerung». Tatsächlich ist die tätige und untätige Menschheit in
einer unfassbaren Homogenisierung in allen Winkeln der Welt zu einer
tastendrückenden und fingerwischenden Spezies geworden. Gleich, ob wir Raketen
lenken, Gedichte schreiben, Baukräne steuern, Organe untersuchen, den
Sternenhimmel scannen, Blutdruck messen, Musik hören oder die nächste
Tankstelle suchen: Wir sind Fingerwesen geworden. Für die Monotonie der
digitalen Tätigkeit müssen wir jedoch ständig nach Ausgleich suchen, der uns
für ein kurzes Intervall des Wohlgefühls wieder in ein laufendes, schwitzendes,
staunendes, sich ängstigendes Menschenwesen verwandelt.
Die digitale Welt lässt sich nicht rückgängig machen. Wir könnten aber
nach der Erleuchtung tasten, dass all dies keinen Fortschritt bringt, sondern
nur noch Erleichterung. Und dass die Erleichterung unser seliges Ende sein
wird. Aber was soll die Politik tun? Sie soll die natürliche Intelligenz und
die Verantwortung für den Globus fördern.
Martin Luthers Problem war nicht die Frage: Wie komme ich ins Internet?
Sondern: Wie komme ich ins Himmelreich? Wir sind im Begriff, das Internet und
seinen Komfort mit dem Himmelreich zu verwechseln.
Manfred Schneider ist
emeritierter Professor für deutsche Literaturwissenschaft an der
Ruhr-Universität Bochum.
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