Die Anzahl
Schüler, die nicht ohne Hilfe durch die Schule kommen, nimmt zu. «Leider», sagt
Walter Strasser, Leiter der Sekundarschule Müllheim. Er hat deshalb an seiner
Schule ein integratives Förderkonzept eingeführt. Denn die separativen Angebote
– Kleinklassen zum Beispiel – wurden weggespart. Müsste jedoch jeder Schüler
mit grösseren Schwierigkeiten an eine Sonderschule, würde das den Kantonviel
kosten, so der Schulleiter. «Deshalb sind diese integrativen Ansätze so
wichtig.»
Ein Thurgauer Beispiel macht Schule, Thurgauer Zeitung, 3.6. von Larissa Flammer
Die Sek
Müllheim besuchen unter anderem auch Schüler mit kognitiven Schwächen, sehr
stark ausgeprägtem ADHS und Autismus. Sie erhalten zum Teil Ergänzungsunterricht,
während die anderen Schüler Wahlfächer belegen, oder besuchen in einzelnen
Fächern separaten Unterricht in kleinen Gruppen, in denen wenige Themenvertieft
behandelt werden. Einige der Schüler sind von Lernzielen befreit und erhalten
anstelle eines Zeugnisses einen Bericht. «Nicht nur zu ihrem Nachteil», betont
Strasser. So würden vor allem die Fähigkeiten der Schüler ins Zentrum gerückt und
nicht deren Schwächen.
Ständige Durchmischung fördert soziale Kompetenzen
Ausgangspunkt
für die integrative Förderung sind Lernlandschaften. Auch diese Art von
Unterricht ist nicht weit verbreitet – noch nicht zumindest. Die Kombination von
Lernlandschaft und integrierter Förderung an der Sekundarschule Müllheim hat
daher Aufsehen erregt. Das kantonale Amt für Volksschule hat Strasser und
seinem Team dazu gratuliert. Vor kurzem hat der Schulleiter zudem sein Konzept
an einer Konferenz in der Innerschweiz vorgestellt, wo die Reaktionen ebenfalls
positiv ausgefallen seien. Doch was macht Müllheim so anders als alle anderen?
Um alle
Schüler – auch diejenigen mit Schwierigkeiten– individuell betreuen zu können, hat
Strasser die Schulorganisation umgestellt. Für jeden Jahrgang gibt es vier Klassenlehrpersonen
–Lerncoaches genannt. Dazu kommen Fachlehrkräfte und eine Heilpädagogin, die
für jeden Jahrgang ein fixes Pensum zur Verfügung hat. Kaum zwei Schüler haben
den genau gleichen Stundenplan. Je nach Niveau-Einstufung haben sie in vielen
Fächern jeweils mit anderen, gleich starken Gspänli des Jahrgangs Unterricht. In
der Lernlandschaft beaufsichtigen mehrere Lehrer Schüler verschiedener
Lerngruppen, und Sport macht zum Teil ein ganzer Jahrgang gemeinsam.
«Durch
diese ständig wechselnde Durchmischung stärken die Schülerihre sozialen
Kompetenzen», ist Strasser überzeugt. Dafür braucht es aber eine «planerische Meisterleistung»,um
Stundenpläne jedes Schülers, Pensum jedes Lehrers und Belegungspläne jedes
Zimmers unter einen Hut zu bringen. Neben dem Schulleiter wurde in Müllheim
zudem eine Stabsstelle geschaffen, die nur für die Schüler mit integrativer
Förderung zuständig ist. So ist auch ein koordinierter Kontakt zum Kanton
sichergestellt. Bereits im Winter nimmt die Schule jeweils mit den Primarlehrern
Kontakt auf, um die Schüler kennen zu lernen, die im Sommer kommen. «So können
wir unsere Plangrösse je nach dem noch etwas anpassen.»
Jeder Schüler wird eng begleitet
Walter
Strasser musste sich schon den Vorwurf anhören, Schüler seien in diesem System
mit ständig neuer Klassendurchmischung und Lernlandschaften doch verloren. «Stimmt
nicht», sagt er. Der Klassenlehrer – oder eben Lerncoach – betreut etwa 16
Schüler während der ganzen drei Jahre. Jede Woche hat er mit jedem seiner
Schüler ein schriftliches Coaching und etwa alle drei Wochen ein Gespräch. Er
begleitet seine Schützlinge durch die Berufswahl und hält den Kontakt zu den Eltern.
Alle Lehrer des Jahrgangsteams und auch die Heilpädagogin haben zudem
gemeinsame, fest vorgegebene und auch bezahlte Sitzungen, in denen sie
organisieren und sich austauschen. Jeder weiss daher über jeden Schüler
Bescheid. «Dafür brauchen wir teamfähige Lehrer. Wer das nicht kann, muss sich
eine andere Schule suchen», stellt Strasser klar.
Jeder
Schüler führt ein persönliches Lernjournal, in dem er die ihm erteilten
Aufgaben einträgt und dann für die Lernlandschaft sein Tun selber plant. «Das
können längst nicht alle gleich gut. Es gibt grosse Unterschiede», sagt
Strasser. Doch sowohl der Lerncoach als auch die aufsichthabenden Lehrer helfen
den Schülern dabei und überprüfen den Arbeitsfortschritt. «Natürlich schaut ein
Jugendlicher dort ma lfür eine Weile aus
dem Fenster, anstatt zu lernen. Doch das gibt es in den Unterrichtsstunden auch.»
Etwa drei Monate würden die Schüler brauchen, bis sie sich an das
selbstständige Planen und Lernen gewöhnt hätten.
Das Modell Müllheim erfüllt viele Vorgaben des
Lehrplans
Vor drei
Jahren, als Strasser als Schulleiterin Müllheim anfing, hatte die Schule schon
auf Lernlandschaften umgestellt. Doch das Misstrauen war damals noch gross.
«Die Bevölkerung im Dorf traute der Sache nicht und war sehr kritisch eingestellt»,
sagt der 59-Jährige. Und obwohl er mit der integrativen Förderung das Konzept
der Lernlandschaften noch weiterentwickelt hat, steht die Bevölkerung heute mehrheitlich
hinter der Schule. «Ich habe mich bemüht, den Leuten zu zeigen und zu erklären,
was wir hier machen.» Erst vergangenes Wochenende führte die Schule einen Besuchsmorgen
durch, der Einblicke ermöglichte.
Bevor
Strasser nach Müllheim kam, war er Sekundarlehrer in Bürglen. Dort hat er als
Behördenmitglied die Umsetzung der ersten Lernlandschaft im Kanton miterlebt.
In Müllheim ist er nun noch einen Schritt weiter in die Zukunft gegangen. Für die
Sekundarschule hat er zusammen mit Lehrerschaft und Behörde eine «Vision 2030»
ausformuliert. Dabei setzt die Sekundarschule bereits mit ihrem heutigen System
viele Vorgaben des neuen Lehrplans 21 um. Die Individualität, die
überfachlichen Kompetenzen, das Lernen ausserhalb des normalen Klassenzimmers –
das und vieles andere ist in Müllheim möglich. Im persönlichen Coaching und den
Gesprächen müssen die Schüler sich zudem immer wieder selber reflektieren und
einschätzen. «Etwa 80 Prozent eines Elternabendgesprächs übernimmt der Schüler
mit seiner Selbsteinschätzung», sagt Strasser. Der Lerncoach hilft bei der
Vorbereitung, ergänzt und moderiert. Immer wieder müssen die Schüler zudem
Gelerntes und Erarbeitetes vor anderen präsentieren. «Dabei lernen die
Jugendlichen nicht nur sicher aufzutreten, sondern auch konstruktive Kritik zu
äussern und damit umzugehen.» Anderen Schulen, die dem Beispiel der
Sekundarschule Müllheim folgen wollen, rät Strasser: «Das Rad nicht neu
erfinden. Es gibt mittlerweile genügend vorbildliche Schulen in diesem Bereich.»
Viele Aspekte ihres Konzepts hätten auch er und sein Team zusammengesucht.
Einige Anpassungen brauche es jedoch meist an der Infrastruktur der Schule. «Für
die grossen Lernlandschaften haben wir einfach Wände herausgenommen.» Von der Idee
bis zur Etablierung eines solchen System dauere es etwa acht Jahre.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen