Die Digitalisierung der Schulen wird
von übertriebenen Hoffnungen begleitet. Sie ersetzt weder gute Lehrer noch gute
Schüler.
Smartphone-Pädagogik, Süddeutsche Zeitung, 6.5. von Michael Felten
Gerade Kinder aus bildungsfernen Schichten
brauchen eine direkte und geduldige Lern-Anleitung
Doch
dann zeigte sich: Bei selbständiger Arbeit lassen viele Schüler schwerere
Aufgaben zu oft links liegen, mit engerer Anleitung hätten sie die vielleicht
gelöst. Und beim Stationenlernen, das funktioniert wie das Zirkeltraining im
Sport, sind die Jugendlichen zwar bestenfalls ständig beschäftigt, stellen aber
ohne Diskussion nur selten gedankliche Zusammenhänge zwischen den einzelnen
Stoffportionen her. Kinder in der Pubertät verlieren bei übertriebener
Unterteilung einer Aufgabe die Orientierung, und sogar Oberstufenschüler sind
ohne Lehrer schnell überfordert.
Besonders pikant: Die Selbstlerneuphorie geht zu Lasten gerade der schwächeren
Schüler. Denn struktur- und beziehungsarmer Unterricht benachteiligt Kinder aus
bildungsferneren Schichten in besonderem Maße. In ihrem Herkunftsmilieu gilt
Selbstbestimmung eher wenig, weshalb gerade sie eines direkt angeleiteten, aber
auch geduldigen und ermutigenden Unterrichts bedürfen. Sonst bleibt ihnen der
schulische Aufstieg erschwert bis verwehrt, so eine nach wie vor aktuelle
Warnung des Erziehungswissenschaftlers Hermann Giesecke.
Und
nicht nur Unterschichtskindern erwachsen Probleme aus voreiliger
Eigenverantwortlichkeit. Psychoanalytiker wie Neurobiologen kritisieren am
lehrerarmen Lernen etwas Prinzipielles: Dass es die Heranwachsenden des
menschlichen Gegenübers beraube, der für sie Spiegelung und Herausforderung
zugleich beinhalte. Überhaupt entfällt beim atomisierten Selbstlernen eine
eminent wichtige Funktion des Schulischen, das Sozialisierende. Und letztlich
ist die viel beschworene Selbständigkeit ja ein halbes Fake: Alles ist doch
bereits vorgedacht, herausfordernde Problemstellungen und ungeplante
Lösungswege sind kaum vorgesehen.
Die
jüngere empirische Bildungsforschung hat denn auch die schulische
Selbstlerneuphorie erheblich abgebremst. Die derzeit weltgrößte Datenbasis zu
Unterrichtseffekten, die XXL-Metastudie "Visible Learning" des
neuseeländischen Forschers John Hattie, besagt nämlich: Im Vergleich zur
durchschnittlichen Lernprogression (Effektstärke 0,4)
erzielen gelenkte Unterrichtsverfahren wie direkte Instruktion (0,59) oder Klassendiskussionen (0,82)
attraktiv hohe Werte, während Individualisierung (0,21)
oder Freiarbeit (0,04) höchst bescheiden abschneiden.
Im Schülerslang kommentiert: "Ist ja der Hammer!"
Der
Erziehungswissenschaftler Ewald Terhart drückt sich nüchterner aus: Hatties
Daten würden den aktiven, dominanten, redenden Lehrer rehabilitieren, der aber
auch genau wisse, wann er zurücktreten und schweigen muss. "Die
Perspektive auf den Unterricht ist lehrerzentriert. Im Zentrum steht ein
Lehrer, für den allerdings seine Schüler im Zentrum stehen." Und nicht nur
empirische Bildungsforscher, auch moderne Kognitionspsychologen wie Elsbeth
Stern sehen den Lehrer keineswegs im Abseits, sondern fordern sein
Lenkungshandeln geradezu heraus.
Dieser
Befund hat Praktiker nicht wirklich überrascht, manchen Visionär in gehobener
Position indes beunruhigt - weshalb die Botschaft viel zu langsam ihre Kreise
zieht. Sagen wir's deshalb noch mal kurz und knackig: Schüler, denen der Lehrer
beibringt, wie man Probleme löst, profitieren nach Hattie - salopp gesagt -
viermal so stark wie Lernende, die man lediglich mit Problemen konfrontiert,
die sie dann in Eigenregie lösen müssen. Interessanterweise beeinflusst es
übrigens die Lernwirksamkeit kaum, ob Internet zur Verfügung steht
oder nicht.
Nun,
die digitale Aufrüstung wird kommen, es sind ja auch außerpädagogische
Interessen im Spiel - aber das wird das Anthropologische nicht umkrempeln. Wie
beim Lernen mit Kreide und Schiefertafel wird es darauf ankommen, dass Lehrer
Personen sind, die das Digitale als sinnvolle Ergänzung des Unterrichts
einsetzen, nicht aber als Ersatz für sich selbst. Üben und Anwenden kann dann
für Schüler reichhaltiger und individueller werden, Einsichten lassen sich
vielfältiger vertiefen, es gibt mehr Möglichkeiten für das oft noch
unterentwickelte Feedback. Ein selbstgesteuertes Erarbeiten neuer Zusammenhänge
aber wird problematisch bleiben.
Und
in einer Hinsicht wird der Lehrer zusätzlich gefragt sein, denn die neuen
Medien fordern eine ganz neue Kontrollintensität. Schließlich ist ihr
Ablenkungspotenzial kaum zu bändigen, lassen sie die Heranwachsenden doch
ständig vom Lernen ins Private abgleiten, zu ihren Spielen, Chats, Videos. Die
sind nämlich allemal interessanter als Formeln oder Farbkontraste.
Michael
Felten, 66, war Gymnasiallehrer in Köln und hat
zu pädagogischen Themen publiziert
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