«Massiv mehr Übergriffe», titelte der Sonntagsblick,
darunter in fetter gelber Schrift: «Diskriminierung an den Schulen nimmt zu!»
Im Text folgten Sätze wie: «Die Schweiz ist in dieser Hinsicht europaweit ein
negatives Vorbild.» Da war die Rede von rassistischen Chauffeuren, die
Migranten aus dem Bus werfen, Bademeistern, die Schwarzen das Warmwasser
abstellen, und Eltern, die nicht wollen, dass ihre Kinder mit Migrantenkindern
unterrichtet werden. Ein kleiner Junge wurde sogar als «Ebola-Kind» beschimpft.
Insgesamt 301 Fälle zählen die Rassismusberatungsstellen: Das ist
nicht mal einer pro Tag, darunter keine einzige Gewaltanwendung. Bei einer
Bevölkerung von 8,4 Millionen, wobei ein Viertel davon Migranten sind,
eigentlich eine überschaubare Zahl. Trotzdem fordert die Präsidentin der
Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus, Martine Brunschwig-Graf, einen
besseren Opferschutz, sprich neue Gesetze: «Der gesetzliche Schutz vor
Diskriminierung ist in der Schweiz ungenügend.» Dabei wird die ominöse Dunkelziffer
ins Feld geführt – wohl in der Annahme, dass diese Zahlen wenig hergeben. Viele
rassistische Vorfälle würden, so eine Rassismusberaterin, gar nicht erst
angezeigt.
Der wahre Rassismus an den Schulen, Weltwoche, 25.4. von Alain Pichard
Mit dem Küchenmesser
Als Lehrer mit vierzig Jahren Berufserfahrung und inzwischen schweizweiter
Vernetzung kann ich aus dieser Dunkelkammer ein paar Ereignisse hinzufügen,
welche mir von Kolleginnen und Kollegen in der Schweiz allein in diesem Jahr
zugetragen worden sind.
Da wäre ein junger Migrant türkischer Abstammung, der mit einem Küchenmesser
in die Schule spazierte und zu einem Klassenzimmer schritt, in welchem eine
13-jährige Mazedonierin auf ihren Lehrer wartete. Diese hatte am Vortag die
Ehre seines jüngeren Bruders «befleckt» und ihn rassistisch beleidigt. Dank dem
entschlossenen Eingriff zweier Lehrer wurde der Jugendliche gestoppt und wieder
hinausspediert. Es folgten Strafanzeige, Verhöre, befristete Schulausschlüsse.
An den Begriff «Scheissschweizer» haben wir uns schon gewöhnt. Eine neue
und gar nicht so selten auftauchende Begrüssungsvokabel türkischer Schüler
gegenüber ihren kurdischen Mitkameraden lautet: «Hallo, du Landloser!»
Deftig ging es kürzlich auch auf einem Pausenplatz unseres Landes zu,
auf dem sich eine Gruppe von schwarzafrikanischen Mädchen und arabische Girls
wüst beschimpften und danach aufeinander losgingen, angefeuert von Jungs beider
Ethnien. Dabei fielen rassistische Injurien, die wohl auf einer
Rassismusberatungsstelle sämtliche Alarmglocken hätten klingen lassen. Ein
Polizeieinsatz und das wiederum sofortige Einschreiten der Lehrerschaft
verhinderten Schlimmeres.
Es ist bei uns ein offenes Geheimnis, dass sich die Schwarzafrikaner im
Schulalltag einiges anhören müssen. Aber nicht einfach, wie die
Rassismusexperten gemeinhin annehmen, von ihren Schweizer Kameradinnen und
Kameraden, sondern auch von arabischstämmigen Migrantinnen und Migranten.
Das erklärt vielleicht auch den Vorfall, den mir ein engagierter linker
Lehrerkollege kürzlich erzählt hat. Es begann damit, dass er sich über den
grossen Lärm ärgerte, der während seines Unterrichts draussen auf dem Gang
herrschte. Als es ihm zu bunt wurde, trat er vor die Klassenzimmertüre und rief
in den Gang: «Was ist das für ein Affentheater!» Sein Pech war, dass sich unter
den lärmenden Schülern Schwarzafrikaner befanden, die sofort eine rassistische
Beleidigung witterten und umgehend auf den verdutzten Lehrer losgingen. Es
blieb nicht nur bei verbalen Ausfälligkeiten, es kam auch noch zu Rempeleien.
Interessant sei hier auch die Reaktion seiner eigenen Schülerinnen und Schüler
gewesen, allesamt mit Migrationshintergrund. Sie waren entsetzt und meinten:
«Wie kann man nur so auf einen Lehrer losgehen.» Auch dieser Vorfall ging
glimpflich aus – dank des wiederum entschlossenen Eingreifens von Lehrerschaft
und Schulleitung.
Vorkommnisse mit rassistischen Ausfälligkeiten, wenn es denn dazu kommt,
laufen eben nicht immer nach einem Schwarzweissdrehbuch à la «Tatort» ab. Die
Wirklichkeit ist um einiges vielschichtiger. Lehrkräfte und Schulleitungen
stellen auch Spannungen innerhalb der verschiedenen Ethnien fest, bei denen es
ab und an zu solchen Eruptionen kommen kann.
Grundsätzlich aber gilt, was kürzlich der Integrationsexperte Thomas
Kessler im Bund klarstellte: Es gibt weniger Rassismus und
weniger Gewalt als früher. Einer der Gründe dafür ist sicher, dass in den
Schulen inzwischen eine grosse Professionalität im Umgang mit
Disziplinlosigkeiten herrscht, wozu auch rassistische Beschimpfungen gehören.
Dies gilt übrigens auch im Umgang mit Fehlleistungen von Lehrkräften. Man
schaut hin, führt minutiöse Gespräche und verhängt, wenn es angezeigt ist,
massive Sanktionen. Die Eltern werden in die Pflicht genommen. Ich weiss nicht,
an welcher Schule der junge Afrikaner als «Ebola-Kind» beschimpft wurde. Wenn
dieser Vorfall aber uns zu Ohren gekommen wäre, dann wäre, das kann ich mit
Sicherheit sagen, eine sofortige und massive Intervention erfolgt. Das heisst:
Vorladung der Eltern, schriftliche Verwarnung, Sanktionen und im
Wiederholungsfall ein befristeter Schulausschluss. Das wirkt meistens.
Besser integriert als anderswo
Man muss den Schulen ihren Freiraum lassen. Sie wählen sich die
Kooperationen, die sie benötigen, selber aus: Schulsozialarbeit, Polizei,
Erziehungsberatung, Jugendschutz. Wenn die vorgesetzten Behörden mitspielen,
braucht es nicht mehr. Auch wenn es immer wieder zu Vorfällen kommt, die
kurzfristig einen ziemlichen Stress auslösen können, ist es doch erstaunlich,
wie unaufgeregt Schulleitungen und Lehrkräfte oftmals mit ihnen umgehen.
Das kann man von der antirassistischen Helfergemeinde aus
nachvollziehbaren Gründen weniger behaupten. Denn sie muss vor ihren privaten
und staatlichen Geldgebern rechtfertigen, dass sie wirklich notwendig ist.
Natürlich ist in unserem Land nicht alles zum Besten bestellt, die
301 Vorfälle hat es zweifellos gegeben. Aber die Schweiz in Sachen
Rassismus als ein Negativum darzustellen, ist schlicht faktenwidrig. Beat
Kappeler schrieb in seinem Buch «Wie die Schweizer Wirtschaft tickt», dass
unsere ausländischen Mitbürger viel besser integriert seien als im übrigen
Europa. Und dies, obwohl die Schweiz seit dem Jahr 2000 im Verhältnis
wesentlich mehr Migranten aufgenommen habe als beispielsweise die USA. Sie
seien auch alle kranken- und altersversichert und pensionsberechtigt.
Die Geschichte der Integration ist vielmehr eine Erfolgsgeschichte
ohnegleichen. Wer jemals gesehen hat, wie in einer schweizerischen
Asylunterkunft Erwachsene unterrichtet werden, die in ihrer Heimatsprache
faktisch Analphabeten sind, nun aber plötzlich Deutsch lernen sollen, der hat
eine Vorstellung davon, welche didaktischen und pädagogischen Herausforderungen
damit verbunden sind. Und trotz aller Widrigkeiten ist es uns bisher gelungen,
die grosse Mehrheit der Migranten in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Dies ist
mit Sicherheit auch eine Erklärung dafür, weshalb bei uns Migranten weitgehend
von rassistischen Übergriffen verschont bleiben.
Diese Erfolgsgeschichte gerät nun ins Stocken. Denn damit die
wirtschaftliche und gesellschaftliche Integration und somit das friedliche
Zusammenleben gelingen, müssen folgende Bedingungen erfüllt sein: Beherrschen
der Landessprache, Erreichen der Grundanforderungen im Fach Mathematik,
Akzeptanz der hiesigen Demokratie-Spielregeln sowie Schulabschlüsse. «Wer die
Unterrichtssprache nicht beherrscht, fällt schnell zurück, wer die Leistung
nicht erbringt, wird keine Abschlüsse machen, womit der erste Arbeitsmarkt
weitgehend verschlossen bleibt. Damit werden Lebensperspektiven drastisch
reduziert», meint der Pädagogikprofessor Jürgen Oelkers. Zudem muss die Schule
vielen Migranten beibringen, dass die hier geltenden Normen nicht mehr von
einer Religion bestimmt werden. Das erweist sich oft als grosser Schock für
einen Teil unserer Neuankömmlinge.
Diese Lernprozesse kann nur die Schule ermöglichen, was den Lehrkräften
bei allen Schwierigkeiten auch recht gut gelingt. Aber sie fühlen sich
zunehmend in die Rolle eines Sisyphus gedrängt. Kaum ist eine Migrationswelle
mit ihren Herausforderungen einigermassen bewältigt, kommt die nächste. Kaum
sind die Konzepte entwickelt, welche erfolgreiches Lernen ermöglichen, und die
disziplinarischen Konflikte einigermassen unter Kontrolle, tritt man mit
weiteren Heilserwartungen und zusätzlichen untauglichen Reformvorgaben an die
Schule. Gleichzeitig werden der Schulpraxis finanzielle Ressourcen entzogen,
Letzteres notabene bei steigenden Bildungsausgaben.
Plötzlich Opfer
Wenn dann noch eine so alberne Rassismusdebatte hinzukommt, kann dies,
wie mein letztes Beispiel aus dem Monat Februar aufzeigt, auch kontraproduktive
Auswirkungen haben. Da beschuldigte nämlich eine schwarzafrikanische Mutter den
Klassenlehrer ihrer Tochter und die Schulleitung des Rassismus, weil die Noten einen
weiteren Verbleib auf der Sekundarstufe nicht zuliessen. Ich predige meinen
Lernenden mit Migrationshintergrund immer wieder, dass sie mehr leisten müssen
als ihre schweizerischen Schulkameraden. Sie müssen happige
Anpassungsleistungen erbringen, vor denen ich grossen Respekt habe.
«Doch die von manchen ‹Integrationsspezialisten› immer wieder
gepredigte Umwertung aller Werte – keine Noten, keine Leistung, viele
aufpäppelnde Sonderbetreuungen» (Beat Kappeler) – und die Suggestion, dass
dieses Land eigentlich rassistisch sei und es nicht gut mit einem meine,
schadet ausgerechnet den Kindern unserer Migranten. Denn dadurch kommen sie
plötzlich auf die Idee, dass sie ja im Grunde Opfer seien und für allfällige
schulische Misserfolge nicht selber verantwortlich. Das glauben sie dann ein
Leben lang und werden so zum Mündel der gutalimentierten Sozialindustrie, die
sich ihrer gerne annimmt.
Der marokkanische Blogger Kacem El Ghazzali, mittlerweile eingebürgert,
schilderte dies einmal treffend im Tages-Anzeiger: «Ich war
einmal an einem Informationsanlass der Juso für Asylbewerber. Das war eine
seltsame Erfahrung. Sie haben uns nur von den dunklen Seiten des Landes
erzählt: Die SVP als grösste Partei sei gegen Migranten, es stünden
Verschärfungen der Asylgesetzgebung bevor. Aber die Linke kämpfe dagegen an.
Nach der Veranstaltung waren ich und meine Schicksalsgenossen verunsichert. Wir
dachten, die Schweiz sei ein rassistisches Land und alle würden uns hassen.»
Ich möchte hier keineswegs das Problem des Rassismus banalisieren oder
die hiesigen Probleme schönreden. Aber wir müssen aufpassen, dass der Kampf
gegen Rassismus nicht zu einem beliebigen Imagemarketing à la Fifa verkommt,
und es gilt, die Verhältnismässigkeit zu wahren. Alles andere wäre
kontraproduktiv.
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