Für
die britische «Times» ist er der einflussreichste Bildungsforscher der Welt.
John Hattie (68) hat Studien über Millionen Lehrer und Schüler rund um den
Globus analysiert, um eines herauszufinden: Was ist guter Unterricht? Hier gibt
er die Antwort – und er glaubt, dass die Schweiz einen grossen Fehler begeht.
Was ist guter Unterricht? Star-Bildungsforscher John Hattie erklärt, wie Kinder am besten lernen, Schweiz am Wochenende, 28.4. von Yannick Nock
Es klingt anmassend, «wahnsinnig» nennt gar
«Die Zeit» John Hatties Vorhaben. Und ein bisschen ist es das auch. Denn der
Neuseeländer tat, was vor ihm noch niemand versucht hatte. Er sichtete sämtliche
englischsprachigen Studien zum Lernerfolg und kombinierte sie zu einer
Megaanalyse.
20 Jahre hat das gedauert, 250 Millionen
Schüler rund um den Globus waren beteiligt. Daraus entstand ein Buch: «Visible
Learning». Seit 10 Jahren versetzt es die Bildungsforschung in Aufruhr. Noch
heute ergänzen Hattie und sein Team ihre Erkenntnisse. Neu berücksichtigen sie
auch deutschsprachige Studien.
«Die Schweiz am Wochenende» erreicht Hattie
zu Hause in Australien, in der Nähe von Melbourne. Im Gespräch ist er kaum zu
bremsen. «Ich liebe es, über Bildung zu sprechen.»
John Hattie, einige Ihrer
Kollegen behaupten, Sie hätten den Heiligen Gral der Bildung gefunden, weil Sie
erklären, was guter Unterricht ist. Sehen Sie das auch so?
John Hattie: Nicht
einmal Monty Python ist es gelungen, den Heiligen Gral zu finden (lacht). Mir
auch nicht. Ich hoffe aber, dass meine Studie ihren Teil dazu beigetragen hat,
dass der Unterricht weltweit besser geworden ist. Und noch besser wird.
Seit über 20 Jahren werten Sie
die weltweit wichtigsten empirischen Studien zu Schülerleistungen aus. Was hat
Sie zu diesem langwierigen Unterfangen motiviert?
Als ich an der Universität begann, ist mir
etwas aufgefallen: Alle, egal ob Professoren, Lehrer oder Eltern, hatten eine
Meinung, wie Kinder besser lernen würden. Das Problem ist nur: Nicht Meinungen
zählen, sondern messbare Evidenz. Jeder hatte eine Studie parat, die sein
Anliegen stützte. Jeder glaubte, recht zu haben. Das machte mich skeptisch.
Deshalb begann ich, Studien zu vergleichen. Ich fragte mich nicht, was wirkt,
sondern: Was wirkt am besten?
Ihre Antwort?
Nehmen wir die Lehrer: Gut sind jene,
welche die Freude der Kinder für ein Fach wecken können. Und jene, die ein
Talent in den Kindern sehen, von dem die Schüler nicht einmal selber wussten,
dass sie es haben. Es geht letztlich darum, Freude am Lernen zu vermitteln.
Klingt banal.
Das ist es nicht. Oft sprechen Lehrer über
die Strukturen des Unterrichts, die neusten Methoden oder die Zusammenarbeit
mit der Schulleitung. Und selbst wenn diese Punkte wichtig sind, interessieren
sie mich nicht. Lehrer sollten sich eine Frage stellen: Was bewirke ich bei
meinen Schülern? Das war doch überhaupt der Grund, Lehrer zu werden. Heute geht
es viel zu oft um Ressourcen oder um die neusten Lehrmittel oder was auch immer
in einem Land gerade bildungspolitisch diskutiert wird.
Was können Lehrer konkret tun?
Lehrer sind die Dirigenten eines
Orchesters: Sie müssen den Ton angeben, das Tempo setzen und wissen, wohin sie
mit dem Stück wollen. Doch ab einem gewissen Punkt sollten sie den Musikern den
Platz geben, sich zu entfalten.
Gemäss neusten Zahlen ist jeder
dritte Lehrer Burnout-gefährdet. Bürden Sie Lehrern zu viel auf?
Es ist ein sehr anstrengender Beruf, keine
Frage. Unsere Recherchen zeigen, dass 60 Prozent der Lehrer einen sehr guten
Job machen, manchmal halten sie sich aber mit den falschen Fragen auf. Sie
müssen in erster Linie den Kindern helfen, dafür sind sie da.
Sind die Schüler nicht selbst
verantwortlich für ihren Lernerfolg?
Natürlich, aber die Lehrer müssen ihnen das
Werkzeug an die Hand geben, um selbstständig lernen zu können.
Wie funktioniert das am besten?
Feedback ist unglaublich wichtig, ein
mächtiges Mittel. Falsche Antworten sind nicht schlimm, sondern helfen beim
Lernen. Allerdings konzentrieren sich die Schulen zu oft auf negatives
Feedback. Wenn jemand gut war, erhält er keine Rückmeldung. Das ist ein Fehler.
Welches sind die
Schlüssel-Erkenntnisse Ihrer Meta-Studie?
Die erste haben wir bereits angesprochen:
Lehrer sollen sich fragen, was sie bewirken und wie sie den Kindern helfen
können. Zweitens muss die Debatte über guten Unterricht ändern. Kinder lernen
nicht nur durch zuhören, sondern dadurch, dass sie etwas tun und die Aufgaben
selbstständig lösen.
Das ist doch heute schon der
Fall.
Nein, viel zu selten. Wenn ich in eine
Schule gehe und Kinder frage, was einen guten Schüler ausmacht, sind ihre
Antworten erschreckend: Sie sagen: Jemand, der pünktlich ist, oder jemand, der
immer die Hausaufgaben macht. Aber das stimmt nicht. Man muss verschiedene
Arten des Lernens beherrschen. Zuhören, diskutieren, recherchieren. Erst dann
ist man ein guter Schüler.
Und ein dritter Punkt?
Lehrer müssen besser zusammenarbeiten, sie
sollten in die Stunden ihrer Kollegen sitzen und schauen, ob die Kinder
tatsächlich etwas lernen oder ob sie einfach nur zuhören. Leider möchten viele
Lehrer am liebsten ihren Unterricht allein halten. Das ist nicht gut genug. Sie
müssen sich austauschen.
Es gibt auch Lehrer, die sagen,
Sie verstünden nichts von Unterricht.
Das kann ich verstehen, vielleicht rede ich
viel, aber ich bin sehr erfahren. Ich war in Dutzenden Ländern, habe ihre
Schulsysteme analysiert und die Leistungen der Kinder und Lehrer verglichen.
Ich weiss, wovon ich spreche.
Welche Länder tun sich hervor?
Ich kann Ihnen sagen, wer sich stark auf
unsere Befunde stützt: Dänemark, Schweden, England, Kanada, Australien und
Neuseeland. Nun kommen viele osteuropäische Länder hinzu. Aber es gibt auch das
Gegenteil: In einigen Ländern wurden Bücher darüber geschrieben, warum mein
System schlecht sein soll. Das sehe ich anders.
Wie bewerten Sie die Schweiz?
Was mich überrascht hat, ist, dass es
verschiedene Arten von Hochschulen gibt. Die Lehrerausbildung findet an den
Pädagogischen Hochschulen statt, die nicht den gleichen Ruf geniessen wie eine
Universität. Das ist schade. Entscheidend ist aber, dass Recherchen und
Forschung zur Bildung an den Universitäten stattfinden. Wenn ihr aber die
Lehrer woanders ausbildet, als dort, wo geforscht wird, hat das negative
Folgen: Es gibt zu wenige Daten und zu wenige Wissenschafter, die sich um die
Bildung kümmern. Und das ausgerechnet in der Schweiz, wie enttäuschend!
Warum ausgerechnet?
Wenn ich an die Schweiz denke, denke ich an
Jean Piaget, einen der bedeutendsten Bildungsforscher überhaupt. Damals war die
Schweiz führend. Aber wenn ich die Erhebungen der letzten 10 Jahre anschaue,
sind zu wenige verlässliche Daten daraus hervorgegangen. Das wird sich rächen.
Die Daten sind das eine, wie
bewerten Sie unseren Unterricht?
Je nach Kanton und Region wird anders
unterrichtet. Das macht es schwierig, allgemeingültige Aussagen zu tätigen.
Aber wenn die Region – und damit letztlich der Zufall – eine Rolle spielt, wie
ein Kind unterrichtet wird, kann ich nur sagen: Das ist einfach nicht gut
genug.
Die Schweiz ist stolz auf ihr
föderalistisches Schulsystem.
Dagegen habe ich nichts, das ist auch in
Australien der Fall. Es geht nur um die Frage der Zusammenarbeit. Sie muss
nicht vom Bund vorgegeben sein, aber ein Austausch ist nötig. Nationale
Standards für einen guten Unterricht sind wichtig. Mir macht Angst, wenn ich
sehe, wie in manchen Ländern die politische Gesinnung mehr Einfluss auf die
Klassen hat als messbare Evidenz.
Lassen Sie uns über einige der
Schweizer Bildungsfragen sprechen. Neu sollen Primarlehrer ein Master-Studium
absolvieren. Eine gute Idee?
Das ist zumindest der weltweite Trend,
allerdings gibt es keine Daten, die beweisen, dass eine längere Ausbildung
automatisch bessere Lehrer hervorbringt. Verstehen Sie mich nicht falsch, eine
gute Ausbildung ist wichtig. Aber nicht jeder muss deswegen einen Master
machen. Wir sollten die Besten auswählen und weiterbilden. Ihnen muss es
gelingen, die Lernerfolge der Kinder zu beeinflussen.
Streit gibts über Fremdsprachen
auf Primarstufe. Sind Französisch und Englisch in jungen Jahren zu viel?
Je früher Kinder mit einer Fremdsprache beginnen,
desto besser. Das zeigen auch unsere Untersuchungen. Deshalb denke ich, zwei
Fremdsprachen in der Primar wären die richtige Lösung.
Als letztes Dauerthema:
Schulleiter plädierten zuletzt für die Abschaffung der Hausaufgaben. Ist das
gut?
Die Frage habe ich so oft gehört. Viele
verwechseln die Qualität einer Schule damit, ob sie Hausaufgaben aufgibt oder
nicht. Dabei ist der Effekt der Hausaufgaben auf Primarschüler gleich null, der
zeigt sich erst, wenn die Kinder älter sind. Trotzdem würde ich die Hausaufgaben
nicht komplett abschaffen. Mein Rat ist deshalb: Haltet die Hausaufgaben kurz
und wiederholt, was in der Stunde gelernt wurde. Und gebt keine Projekte auf.
Da misst man nur, was die Eltern leisten, nicht das Kind.
Zuletzt gab es Diskussionen um
Helikopter-Eltern, die alles für den Erfolg ihrer Kinder tun. Einige begleiten sie bis in die Universität.
Das ist ein grosser Fehler: Sobald die
Unterstützung wegfällt, wird die Leistung zusammenbrechen. Je länger die Eltern
involviert sind, desto schlimmer ist der Effekt. Das müssten gerade die
Schweizer wissen.
Wie kommen Sie darauf?
Die Schweiz war eines der ersten Länder überhaupt,
die Kinder zur Schule geschickt haben, weil ihr eben gemerkt habt: Lehrer
können die Kinder besser unterrichten als ihre Eltern.
Wie verhielt es sich mit Ihren
Eltern?
Ich komme aus einer kleinen Stadt auf
Neuseelands Südinsel, mein Vater war Schuhmacher, meine Mutter Hausfrau, die
Familie nicht wohlhabend. Zum Glück redete mir niemand ein, ich könne nicht
erfolgreich sein.
Sind die Schulen besser als
damals?
Wir erwarten heute so viel mehr von den
Schulen als vor 20, 30 oder 40 Jahren. Wenn man damals lesen, schreiben und
rechnen konnte, war man schon ziemlich gut unterwegs. Das ist vorbei. Lassen
Sie mich raten, immer wenn es ein Problem in der Schweiz gibt, fordern
Politiker, Experten oder sonst wer ein neues Schulfach. Richtig?
Das ist etwas zugespitzt, aber
ja.
Sehen Sie, heute erwarten wir, dass die
Schulen soziale, gesellschaftliche und technologische Probleme lösen. Wir
verlangen zu viel von den Schulen. Sie gehen hervorragend damit um, passen sich
den Gegebenheiten an, aber irgendwann wird der Punkt kommen, wo nicht noch mehr
dazukommen kann. Auch euer neuer Lehrplan ist sehr dicht.
Der Lehrplan 21?
Ja, er ist voll damit, was Kinder alles
können und wissen müssen. Mein Ratschlag: Nehmt die Hälfte aus dem Lehrplan,
wenn es sein muss. Denn macht es wirklich einen Unterschied, ob sie dieses oder
jenes Detail aus dem und dem Fach lernen? Ich denke nicht. Es geht um die
Balance. Viel Information wird ihnen langfristig keinen Vorteil bringen.
Was sollen Kinder denn lernen,
um für die Zukunft gerüstet zu sein?
Ich beschäftige mich lieber mit der
Gegenwart. Wir alle wissen, dass die heutigen Primarschüler in einem Job
arbeiten werden, der noch gar nicht erfunden worden ist. Berufe werden von
Robotern übernommen. In 20 Jahren werden sie Operationen durchführen – und das
besser als jeder Arzt. Deshalb ist es ja so wichtig, dass wir den Kindern das
Werkzeug in die Hand geben, sich selber weiterbilden zu können. Und wir müssen
ihnen beibringen, andere zu respektieren. Wenn Sie den Arbeitsmarkt anschauen, reicht
es nicht, nur gut ausgebildet zu sein. Wichtig ist auch eine hohe
Sozialkompetenz. Dann ist die Chance grösser, wieder angestellt zu werden.
Wird die neue Technik, etwa das
iPad, die Schulzimmer erobern?
Wissen Sie, die technologische Revolution
kommt doch schon seit 50 Jahren. Jeder erzählt mir, die Revolution ist da, doch
grundlegend hat sich der Unterricht nicht geändert. Vielleicht werden
Präsentationen heute per Video statt mit Pappmaché gemacht und Google anstelle
von Enzyklopädien genutzt. Aber sonst ist vieles gleich. Dabei könnten neue
Lernplattformen und die sozialen Medien sehr hilfreich für den Lehrer sein.
Aber ob neue Vermittlungsformen so schnell kommen, wage ich zu bezweifeln. Was
ich aber sagen kann: Gute Lehrer werden in 20 Jahren wichtiger sein als jeder
Arzt. Sie sind entscheidend für die Zukunft unserer Kinder.
John Hattie hält offenbar nicht viel vom Lehrplan 21, er würde ihn auf die Hälfte zusammenstreichen. Auch "selbstgesteuertes Lernen" mit minimalem Lehrerinput und Digitalisierung, die den Schüler alleine lässt, tragen kaum etwas zum Lernerfolg bei. Am meisten helfen den Kindern gute Lehrer, die guten Unterricht machen, bei dem sie mit den Kindern eine gute Beziehung aufbauen und schauen, dass die Schüler wirklich etwas lernen. Nach ihm wird es sich für die Schweiz rächen, wenn zu wenig verlässliche, pädagogische Daten über den Lernerfolg gesammelt werden und stattdessen wie beim Lehrplan 21 Politiker und Experten immer neue Schulfächer fordern, wenn irgendein Problem auftaucht. Er glaubt nicht, dass man den Anschluss verpasst, wenn man nicht allem Neuen nachrennt, weil die technologische Revolution nichts Neues sei und schon seit 50 Jahren stattfinde. Für ihn werden gute Lehrer auch in 20 Jahren wichtiger sein: „Sie sind entscheidend für die Zukunft unserer Kinder!“
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