7570 Zürcher
Schülerinnen und Schüler haben in den vergangenen Wochen mit Herzklopfen den
Briefkasten geöffnet, um zu erfahren, ob sie die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium
bestanden haben. Nicht einmal die Hälfte konnte den Satzbeginn «Wir freuen
uns, . . .» lesen. Rund 55 Prozent schaffen den Übertritt nicht,
die Prüfung ist ein Nadelöhr. Nicht wenige der Erfolgreichen dürften im Vorfeld
gemeinsam mit ihren Eltern Französischvokabeln und Grammatikregeln gebüffelt
oder private Vorbereitungskurse besucht haben. Jahr um Jahr kreist deshalb
dieselbe Frage über Stamm-, Familien- und Redaktionstischen: Ist der Eintritt
in die höhere Bildung von Herkunft und Finanzkraft der Eltern bestimmt?
Zugang zum Gymnasium: Die Chancengerechtigkeit ist eine Illusion, NZZ, 28.4. von Lena Schenkel
Die unangenehme Antwort
lautet: Ja. Kinder aus deutschsprachigen, bildungsnahen, gutsituierten
Haushalten haben einen immensen Startvorteil für den Gang ans Gymnasium. Aufnahme- und Maturitätsquoten sind im Kanton Zürich dort
am höchsten, wo der Sozialindex am tiefsten ist. Schülerinnen und Schüler aus
gebildetem Elternhaus haben in der Schweiz eine viermal höhere Chance auf einen
Hochschulabschluss.
Ob diese von Hause aus
intelligenter sind, ist fraglich. Während Akademiker ihre Kinder jedoch
mitunter regelrecht ans Gymnasium stossen, treten bildungsferne Eltern gerne
auf die Bremse. Jahr für Jahr melden sich Schüler zur Gymiprüfung an, die es
besser bleiben liessen – und solche, die geeignet wären, bleiben ihr fern oder
starten mit schlechteren Voraussetzungen, weil ihnen das zusätzliche Testdoping
fehlt. Das Resultat: Zu viele landen am Gymnasium, die dort nicht hingehören.
Scheitern
an der Quotenhürde
Angesichts des
Fachkräftemangels in der Schweiz ist es ein wirtschaftliches Desaster, wenn
kluge Köpfe dem universitären Bildungssystem verloren gehen. Darin sind sich
alle einig – nicht aber darin, wie Chancengerechtigkeit erreicht werden kann.
Ein immer wieder diskutierter Ansatz sind flächendeckende und kostenlose Gymiprüfungs-Vorbereitungskurse
an den Volksschulen. Der Zürcher Kantonsrat lehnte solche 2016 aber mit gutem
Grund ab.
Förderprogramme für
weniger Privilegierte, wie das Zürcher Projekt «Future Kids», bei dem Mentoren
Primarschüler aus bildungsfernen Familien in schulischen Belangen unterstützen,
wären da schon zielführender. Dasselbe gilt für das Projekt «Chagall» des
Zürcher Privatgymnasiums Unterstrass, das begabte und motivierte Migranten aus
bescheidenen Verhältnissen unentgeltlich auf die Aufnahmeprüfung vorbereitet.
Trotz derartigen Bemühungen bleibt das Ideal jedoch unerreicht, wonach
Gymnasiasten entsprechend ihrer Begabung ausgewählt werden und die Bevölkerung
einigermassen angemessen abbilden. Kinder, die Deutsch erst als zweite Sprache
gelernt haben, sind an den Gymnasien deutlich, Knaben leicht untervertreten.
Mitschuldig daran dürfte
die Aufnahmeprüfung sein: Gute Deutschkenntnisse helfen hier, die in Worten
formulierten Mathematikaufgaben zu verstehen. Eine Möglichkeit wäre nun, die Prüfung ganz fallenzulassen, um
das Ergebnis weniger von der Tagesform oder einem gezielten «teaching to the
test» abhängig zu machen. Vor allem Innerschweizer Kantone machen gute
Erfahrungen mit Lehrerempfehlungen. In Kantonen, wo der Andrang derart stark
ist wie in Zürich, kämen dann allerdings die Volksschullehrer massiv unter
Druck, und die Zahl der Gymnasiasten stiege. Die Aufnahme mittels Prüfungs- und Vornoten bleibt
da die effizientere, zuverlässigere und objektivere Variante – auch wenn die
Hälfte der Prüflinge an der Quotenhürde scheitert.
Die Mittelschulen
betonen, ihren Nachwuchs nach qualitativen, nicht nach quantitativen Kriterien
auszuwählen. Indirekt steuert die Politik die verfügbaren Plätze aber über die
Finanzen. Die Gymnasien kommen nicht umhin, die Aufnahmeprozedur so anzupassen,
dass schliesslich nur die politisch gewünschte Zahl Prüflinge besteht. Für
jene, die von den hinteren Plätzen aus starten, ist diese Platzknappheit indes
problematisch: Sie landen eher zwischen als auf den Stühlen. Ein Trost kann
ihnen sein, dass im Kanton Zürich die Bildungsdirektorin kürzlich erklärte, die
Quote der Berufsmaturanden von derzeit 15 Prozent auf das Niveau der
gymnasialen Maturitätsquote von 20 Prozent anheben zu wollen. Weshalb das Nadelöhr
dann nicht gleich zur Tür gemacht werde, fragen deshalb insbesondere
ausländische Akademikereltern, die in ihrer Heimat bis zu doppelt so hohe
Quoten kennen.
Aber die gymnasiale
Schweizer Maturität ist eben nicht bloss Attest einer breiten Allgemeinbildung,
die alle Türen offen hält: Sie ist in erster Linie das Eintrittsbillett für die
Universität. Sie sichert den Maturanden einen prüfungsfreien Zugang an die
Hochschule – mit Ausnahme der medizinischen Fakultät. Das soll auch so bleiben.
Mehr Gymnasiasten hiesse zudem weniger leistungsstarke Lehrlinge, was für den
Fachkräftemangel in technischen Berufen und die gesteigerten Anforderungen im
Arbeitsmarkt – Stichwort Digitalisierung – fatal wäre. Eine faktisch fixierte
gymnasiale Maturitätsquote bedeutet freilich nicht, dass ihr Prozentsatz in
Stein gemeisselt sein muss. Zu denken gibt, dass diese je nach Kanton stark
variiert: Am höchsten ist sie in der Romandie und im Tessin, am tiefsten in der
Ostschweiz. Geografische und historische Gründe mögen diese Unterschiede
erklären – gerecht ist es nicht, wenn Jugendliche in der Waadt leichter zu
einem Ausweis für die universitäre Zulassung kommen als ihre Altersgenossen in
St. Gallen. Dass es nicht alle ans Gymnasium schaffen, ist aber nicht per
se ungerecht.
Experten werden nicht
müde zu betonen, wie durchlässig das Schweizer Bildungssystem sei. In Realität
aber bleibt diese vielbeschworene Bildungsmobilität oft genug Theorie. Das
liegt nicht allein am Elternhaus, sondern auch am Schulsystem, konkret an der
frühen Selektion: Zürcher Schüler etwa landen bereits nach der sechsten Klasse
in den Schubladen Sek A, B, C oder Langgymnasium. Untersuchungen von
Bildungsverläufen zeigen, dass für die meisten damit die Weichen schon gestellt
sind. Kein Wunder also, wird das Langgymnasium in Zürich immer beliebter.
Tatsächlich scheint der Zeitpunkt für die Selektion in der Primarschule reichlich früh. Kaum
jemand vermag die mittelfristige Entwicklung und damit auch das schulische Potenzial
eines zwölfjährigen Kindes einzuschätzen, das die Schwelle der Pubertät gerade
erst oder noch nicht einmal erreicht hat – geschweige denn diese selbst. Vor
allem Knaben hätten zu diesem Zeitpunkt einen «genetischen» Nachteil im
Selektionsprozess, sagen Lehrer hinter vorgehaltener Hand.
Später ans Gymnasium
Die wirksamste und
einfachste Methode, um zumindest den Zugang zur gymnasialen Bildung gerechter
zu gestalten, wäre eine Abschaffung des Langgymnasiums. Damit würde man jenen
wissbegierigen, sprachaffinen Schülern jedoch keinen Gefallen tun, die ihre
akademische Karriere hier optimal anbahnen können. Indem man den Begabtesten
die angemessene Förderung entzöge, würde man einfach eine neue Ungerechtigkeit
schaffen. Dieser Preis wäre zu hoch.
Nachvollziehbar ist
hingegen, dass die Zürcher Regierung eine «spätere und stärker
leistungsbezogene Aufnahme ans Gymnasium» wünscht. Dass gleich 60 Prozent der
Gymnasiasten eine akademische Frühförderung benötigen, darf tatsächlich
bezweifelt werden. Und der massenhafte Ansturm aufs Langgymnasium schafft
Probleme auch in der Sekundarschule: Statt dass dort stärkere Schüler schwächere
mitziehen und diese weiterhin in einen heterogenen Klassenverbund integriert
sind, werden die Kinder in einer entscheidenden Entwicklungsphase getrennt. Die
Ungleichheit ihrer Startvoraussetzungen wird sich zwar auch bei einem späteren
Gang ans Gymnasium nicht vollständig ausmerzen lassen, aber zumindest der
Startschuss sollte für möglichst viele zum selben Zeitpunkt fallen. Denn wenn
die Mehrheit der besten Köpfe nach der sechsten Klasse abwandert, schwächt dies
nicht nur die Sekundarschule insgesamt, sondern auch deren Schulkameraden, die
erst nach der zweiten oder der dritten Sekundarklasse ans Kurzgymnasium
wechseln.
An welchem Rädchen man
letztlich auch dreht – ob an der Prüfung, der Quote oder dem Schulmodell:
Gefragt sind in erster Linie die Wächter der gymnasialen Tore. Das sind die
Lehrer, die sich mit ihren Kollegen austauschen, um zu verhindern, dass soziale
Stereotype ihre Beurteilung unbewusst beeinflussen. Wie jener Sekundarlehrer,
der ein afghanisches Flüchtlingsmädchen mit auffallenden mathematischen
Fähigkeiten fürs «Chagall»-Programm vorschlug. Aber auch die Eltern sind
gefordert. Sie müssen sich mitunter auch einmal eingestehen, dass ihr Sohn oder
ihre Tochter im Kurzgymnasium oder in einer Berufslehre besser aufgehoben wäre.
Lehrer und Eltern zusammen sind es, die verborgene Potenziale zur Entfaltung
bringen können, ohne den Einzelnen zu überfordern.
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