23. April 2018

Unnötige Verlängerung der Grundausbildungen

Bildungs-Staatssekretär Mauro Dell’Ambrogio kritisiert steigende Bürokratie in Lehre und Forschung. Und er wehrt sich dagegen, dass Primarlehrer einen Masterabschluss brauchen. 
"Wer in der Mathematik die Proportionalität nicht begriffen hat, darf die Matura nicht erhalten": Staatssekretär Dell'Ambrogio, Bild: Annette Boutellier
Bildungs-Staatssekretär: "Die Lehrer sind vernünftig genug", NZZaS, 22.4. von René Donzé



NZZ am Sonntag: Was läuft falsch im Schweizer Bildungswesen?
Mauro Dell'Ambrogio: Die Schweiz hat ein exzellentes Bildungssystem, um das uns das Ausland beneidet. Was mir Sorgen bereitet, ist die Tendenz zu mehr Bürokratie - und dass immer höhere Forderungen an die Ausbildung von Berufsleuten gestellt werden. Die Grundausbildungen werden teilweise unnötig verlängert und damit auch verteuert.

Können Sie Beispiele nennen?
Ich sehe etwa nicht ein, weshalb es für Hebammen ein Masterstudium gibt. Oder weshalb Primarlehrer und Kindergartenlehrpersonen einen Master brauchen, wie das nun gefordert wird.

Es geht doch um eine Aufwertung dieser Berufe.
Hinter solchen Ideen steht in erster Linie der Ruf nach höheren Löhnen. Das hat nichts mit Bildungspolitik zu tun, sondern ist korporatives Denken, wie es sich durch die ganze öffentliche Verwaltung zieht. Dahinter steht ein Systemfehler, nämlich, dass die Löhne in der Verwaltung - und dazu gehören auch die Schulen und Hochschulen - sich an der Dauer der Ausbildung orientieren. Wird diese verlängert, steigen die Löhne. Wenn Sie daran etwas ändern wollen, stossen Sie auf Granit.

Haben Sie das als Staatssekretär einmal erlebt?
Das spürte ich immer wieder. Etwa als ich in einer Diskussion die Idee einbrachte, dass man differenzierte Löhne für Gymnasiallehrer einführen könnte, um mehr Lehrpersonen für naturwissenschaftliche Fächer zu finden. Sofort rückte die Gleichstellungsfrage in den Vordergrund, man befürchtete eine Bevorzugung männlicher Fachlehrer.

Und wo orten Sie wachsende Bürokratie?
Jahrelang hat man versucht, Lehrer und Forscher von Administration zu entlasten, indem zusätzliche Verwaltungsstellen geschaffen wurden. Erreicht wurde das Gegenteil, weil diese zusätzlichen Aufwand verursachen. Man kann Arbeit nicht loswerden, indem man Bürokraten anstellt.

Werden Sie konkret!
Denken Sie zum Beispiel an Schulverwaltungen oder an administratives Personal in der Forschung. Früher konnten Professoren ihre Kongresse noch selber organisieren.

Ihr Staatssekretariat ist ja auch Teil dieser Bildungsbürokratie. Also überflüssig?
Wir sind das kleinste Bildungsministerium der Welt und kosten nicht einmal fünf Promille der Gelder, die wir verteilen. Ich denke, wir sind sehr schlank aufgestellt.

Bildung ist Sache der Kantone und Gemeinden; braucht es überhaupt zentrale Steuerung?
Wenn es um das System als ganzes geht, ist eine gewisse Koordination nötig, damit es einheitliche Bildungsgänge und Abschlüsse gibt. Sobald es aber um Inhalte geht, wird es gefährlich. Jedes Bundesamt will seine speziellen Interessen in das Bildungswesen einbringen. Etwa in Bezug auf Gesundheitserziehung, auf Nachhaltigkeit oder anderes. So wird jeder Modebegriff zum Schulthema. Das ist zwar gut gemeint, überfordert und demotiviert aber jene, die am Ende die Inhalte vermitteln müssen.

Es ist doch wichtig, dass Lehrer den Kindern Werte mitgeben.
Die Lehrer sind vernünftig genug, zu wissen, was Kinder lernen müssen. Sie brauchen nicht seitenweise Vorschriften, sondern gute Lehrmittel.

Das tönt wie die Fundamentalkritik, die am Lehrplan 21 geübt wurde.
Ach wissen Sie, diese Kritik ist übertrieben. Die Deutschschweizer scheinen den Lehrplan preussisch genau zu nehmen. In der lateinischen Schweiz ist man viel entspannter gegenüber dem zentralen Lehrplan.

In der Kritik stehen immer wieder auch Gymnasien und die Matur. Teilen Sie die Meinung, dass sie an Wert verloren hat?
Das Problem ist vor allem die unterschiedliche Qualität von Kanton zu Kanton. Studien zeigen, dass das Niveau der Schüler dort tiefer ist, wo die Maturquote höher ist. Die Quote als solche steht richtigerweise im Kontext kantonaler und regionaler Gegebenheiten. Ein echtes Problem ist eher die Kompensierbarkeit von ungenügenden Noten.

Inwiefern?
Es braucht gewisse Grundkompetenzen in Sprache und Mathematik. Schlechte Leistungen in diesen Fächern dürfen nicht kompensiert werden mit guten Noten in anderen Fächern. Wer in der Mathematik die Proportionalität nicht begriffen hat, darf die Matur nicht erhalten. Diese muss garantieren, dass die Studierfähigkeit vorhanden ist. Aber da gibt es ja Bestrebungen, das System anzupassen.

Im Vergleich zum Ausland ist die Maturquote in der Schweiz ohnehin schon tief.
Aber im Ausland gibt es auch keine Berufsmaturität, keine Fachhochschulen und keine höhere Berufsbildung. Insgesamt ist unsere Quote hoch genug. Bei der gymnasialen Matur sollte diese nicht erhöht werden. Sonst passiert dasselbe, wie in anderen Ländern, wo es fast nur noch Studenten gibt: Die Qualität sinkt. Wir wollen mit fähigen Studenten arbeiten, nicht mit einer breiten Masse an jungen Leute, die einfach einen akademischen Abschluss wollen, um Karriere zu machen.

Aber es ist doch paradox: Wir limitieren den Zugang zu den Gymnasien und holen dann ausländische Studierende an die Unis und Fachkräfte in die Wirtschaft.
Ein Land wie die Schweiz kann sich Autarkie nicht leisten. Wir brauchen Spezialisten aus dem Ausland, wir brauchen auch Studierende aus dem Ausland. Weil das Potenzial in der Schweiz nun einmal beschränkt ist. Es ist nicht eine Frage der Quantität der Studierenden, die wir ausbilden, sondern der Qualität. Das ist das Schöne an unserem dualen System: Wir haben hervorragende Bildungswege für alle Begabungen. Wir können insbesondere stolz sein auf unsere Berufsbildung.

Und doch haben Sie kürzlich geschrieben, dass diese sich nicht ins Ausland exportieren lässt. Wieso?
Weil die Berufsbildung nur funktioniert, wenn eine Gesellschaft dafür bereit ist. Ich habe festgestellt, dass in vielen Ländern bereits die Mittelschicht ihre Kinder nicht in eine Lehre schicken will. Dort ist die Lehre etwas für Verlierer. Dies zu verändern, braucht Generationen. Das können wir nicht von der Schweiz aus beeinflussen.

Ihr Chef, Bundesrat Johann Schneider-Ammann, wirbt aber bei jeder Gelegenheit im Ausland für die Lehre.
Er und auch andere Bundesräte sowie verschiedenste Organisationen verweisen engagiert auf die Erfahrung der Schweiz in Sachen Berufsbildung. Aber machen wir uns keine Illusionen. Es gibt kein Land, das die Berufsbildung in unserem Sinne übernehmen könnte, weil die Voraussetzungen dafür fehlen. Wir können höchstens hier und dort etwas am Bewusstsein arbeiten.

Was muss die Schweiz tun, damit sie weiterhin Weltspitze in Sachen Bildung und Forschung bleibt?
Unser System in seiner erwiesenen Funktionalität pflegen und bewahren. Es braucht vielleicht da und dort zwischendurch Retuschen, doch im Grossen und Ganzen geht es darum, unser Bildungswesen zu stärken. Wir müssen der Versuchung widerstehen, auf alle kurzfristigen wirtschaftlichen oder politischen Bedürfnisse zu reagieren.

Was hat Sie am meisten geärgert in den letzten zehn Jahren als Staatssekretär?
Dass das Gesundheitswesen indirekt alles Geld verbraucht, das der Bund in die Universitäten investiert.

Bitte?
Der Bund unterstützt die Universitäten mit jährlich 600 Millionen Franken, und diese bezahlen ebenso viel an ihre Universitätsspitäler. Das Bildungswesen wird eigentlich ausgebeutet durch diese Spitäler. Ein grosser Teil der steigenden Bildungsausgaben ist auf die Kostenexplosion im Gesundheitswesen zurückzuführen.


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