Bildungs-Staatssekretär Mauro Dell’Ambrogio
kritisiert steigende Bürokratie in Lehre und Forschung. Und er wehrt sich
dagegen, dass Primarlehrer einen Masterabschluss brauchen.
"Wer in der Mathematik die Proportionalität nicht begriffen hat, darf die Matura nicht erhalten": Staatssekretär Dell'Ambrogio, Bild: Annette Boutellier
Bildungs-Staatssekretär: "Die Lehrer sind vernünftig genug", NZZaS, 22.4. von René Donzé
NZZ am Sonntag: Was
läuft falsch im Schweizer Bildungswesen?
Mauro Dell'Ambrogio: Die Schweiz hat
ein exzellentes Bildungssystem, um das uns das Ausland beneidet. Was mir Sorgen
bereitet, ist die Tendenz zu mehr Bürokratie - und dass immer höhere
Forderungen an die Ausbildung von Berufsleuten gestellt werden. Die
Grundausbildungen werden teilweise unnötig verlängert und damit auch verteuert.
Können Sie Beispiele
nennen?
Ich sehe etwa nicht ein,
weshalb es für Hebammen ein Masterstudium gibt. Oder weshalb Primarlehrer und
Kindergartenlehrpersonen einen Master brauchen, wie das nun gefordert wird.
Es geht doch um eine
Aufwertung dieser Berufe.
Hinter solchen Ideen
steht in erster Linie der Ruf nach höheren Löhnen. Das hat nichts mit
Bildungspolitik zu tun, sondern ist korporatives Denken, wie es sich durch die
ganze öffentliche Verwaltung zieht. Dahinter steht ein Systemfehler, nämlich,
dass die Löhne in der Verwaltung - und dazu gehören auch die Schulen und
Hochschulen - sich an der Dauer der Ausbildung orientieren. Wird diese
verlängert, steigen die Löhne. Wenn Sie daran etwas ändern wollen, stossen Sie
auf Granit.
Haben Sie das als
Staatssekretär einmal erlebt?
Das spürte ich immer
wieder. Etwa als ich in einer Diskussion die Idee einbrachte, dass man
differenzierte Löhne für Gymnasiallehrer einführen könnte, um mehr Lehrpersonen
für naturwissenschaftliche Fächer zu finden. Sofort rückte die
Gleichstellungsfrage in den Vordergrund, man befürchtete eine Bevorzugung
männlicher Fachlehrer.
Und wo orten Sie
wachsende Bürokratie?
Jahrelang hat man
versucht, Lehrer und Forscher von Administration zu entlasten, indem
zusätzliche Verwaltungsstellen geschaffen wurden. Erreicht wurde das Gegenteil,
weil diese zusätzlichen Aufwand verursachen. Man kann Arbeit nicht loswerden,
indem man Bürokraten anstellt.
Werden Sie konkret!
Denken Sie zum Beispiel
an Schulverwaltungen oder an administratives Personal in der Forschung. Früher
konnten Professoren ihre Kongresse noch selber organisieren.
Ihr Staatssekretariat
ist ja auch Teil dieser Bildungsbürokratie. Also überflüssig?
Wir sind das kleinste
Bildungsministerium der Welt und kosten nicht einmal fünf Promille der Gelder,
die wir verteilen. Ich denke, wir sind sehr schlank aufgestellt.
Bildung ist Sache der
Kantone und Gemeinden; braucht es überhaupt zentrale Steuerung?
Wenn es um das System
als ganzes geht, ist eine gewisse Koordination nötig, damit es einheitliche
Bildungsgänge und Abschlüsse gibt. Sobald es aber um Inhalte geht, wird es
gefährlich. Jedes Bundesamt will seine speziellen Interessen in das
Bildungswesen einbringen. Etwa in Bezug auf Gesundheitserziehung, auf
Nachhaltigkeit oder anderes. So wird jeder Modebegriff zum Schulthema. Das ist
zwar gut gemeint, überfordert und demotiviert aber jene, die am Ende die
Inhalte vermitteln müssen.
Es ist doch wichtig,
dass Lehrer den Kindern Werte mitgeben.
Die Lehrer sind
vernünftig genug, zu wissen, was Kinder lernen müssen. Sie brauchen nicht
seitenweise Vorschriften, sondern gute Lehrmittel.
Das tönt wie die
Fundamentalkritik, die am Lehrplan 21 geübt wurde.
Ach wissen Sie, diese
Kritik ist übertrieben. Die Deutschschweizer scheinen den Lehrplan preussisch
genau zu nehmen. In der lateinischen Schweiz ist man viel entspannter gegenüber
dem zentralen Lehrplan.
In der Kritik stehen
immer wieder auch Gymnasien und die Matur. Teilen Sie die Meinung, dass sie an
Wert verloren hat?
Das Problem ist vor
allem die unterschiedliche Qualität von Kanton zu Kanton. Studien zeigen, dass
das Niveau der Schüler dort tiefer ist, wo die Maturquote höher ist. Die Quote
als solche steht richtigerweise im Kontext kantonaler und regionaler Gegebenheiten.
Ein echtes Problem ist eher die Kompensierbarkeit von ungenügenden Noten.
Inwiefern?
Es braucht gewisse
Grundkompetenzen in Sprache und Mathematik. Schlechte Leistungen in diesen
Fächern dürfen nicht kompensiert werden mit guten Noten in anderen Fächern. Wer
in der Mathematik die Proportionalität nicht begriffen hat, darf die Matur
nicht erhalten. Diese muss garantieren, dass die Studierfähigkeit vorhanden
ist. Aber da gibt es ja Bestrebungen, das System anzupassen.
Im Vergleich zum Ausland
ist die Maturquote in der Schweiz ohnehin schon tief.
Aber im Ausland gibt es
auch keine Berufsmaturität, keine Fachhochschulen und keine höhere
Berufsbildung. Insgesamt ist unsere Quote hoch genug. Bei der gymnasialen Matur
sollte diese nicht erhöht werden. Sonst passiert dasselbe, wie in anderen
Ländern, wo es fast nur noch Studenten gibt: Die Qualität sinkt. Wir wollen mit
fähigen Studenten arbeiten, nicht mit einer breiten Masse an jungen Leute, die
einfach einen akademischen Abschluss wollen, um Karriere zu machen.
Aber es ist doch paradox: Wir limitieren den Zugang zu den
Gymnasien und holen dann ausländische Studierende an die Unis und Fachkräfte in
die Wirtschaft.
Ein Land wie die Schweiz
kann sich Autarkie nicht leisten. Wir brauchen Spezialisten aus dem Ausland,
wir brauchen auch Studierende aus dem Ausland. Weil das Potenzial in der
Schweiz nun einmal beschränkt ist. Es ist nicht eine Frage der Quantität der Studierenden,
die wir ausbilden, sondern der Qualität. Das ist das Schöne an unserem dualen
System: Wir haben hervorragende Bildungswege für alle Begabungen. Wir können
insbesondere stolz sein auf unsere Berufsbildung.
Und doch haben Sie
kürzlich geschrieben, dass diese sich nicht ins Ausland exportieren lässt.
Wieso?
Weil die Berufsbildung
nur funktioniert, wenn eine Gesellschaft dafür bereit ist. Ich habe
festgestellt, dass in vielen Ländern bereits die Mittelschicht ihre Kinder
nicht in eine Lehre schicken will. Dort ist die Lehre etwas für Verlierer. Dies
zu verändern, braucht Generationen. Das können wir nicht von der Schweiz aus
beeinflussen.
Ihr Chef, Bundesrat
Johann Schneider-Ammann, wirbt aber bei jeder Gelegenheit im Ausland für die
Lehre.
Er und auch andere
Bundesräte sowie verschiedenste Organisationen verweisen engagiert auf die
Erfahrung der Schweiz in Sachen Berufsbildung. Aber machen wir uns keine
Illusionen. Es gibt kein Land, das die Berufsbildung in unserem Sinne
übernehmen könnte, weil die Voraussetzungen dafür fehlen. Wir können höchstens
hier und dort etwas am Bewusstsein arbeiten.
Was muss die Schweiz
tun, damit sie weiterhin Weltspitze in Sachen Bildung und Forschung bleibt?
Unser System in seiner
erwiesenen Funktionalität pflegen und bewahren. Es braucht vielleicht da und
dort zwischendurch Retuschen, doch im Grossen und Ganzen geht es darum, unser
Bildungswesen zu stärken. Wir müssen der Versuchung widerstehen, auf alle
kurzfristigen wirtschaftlichen oder politischen Bedürfnisse zu reagieren.
Was hat Sie am meisten
geärgert in den letzten zehn Jahren als Staatssekretär?
Dass das
Gesundheitswesen indirekt alles Geld verbraucht, das der Bund in die
Universitäten investiert.
Bitte?
Der Bund unterstützt die
Universitäten mit jährlich 600 Millionen Franken, und diese bezahlen ebenso
viel an ihre Universitätsspitäler. Das Bildungswesen wird eigentlich
ausgebeutet durch diese Spitäler. Ein grosser Teil der steigenden
Bildungsausgaben ist auf die Kostenexplosion im Gesundheitswesen zurückzuführen.
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