Die Arbeitsbedingungen
für Lehrpersonen verschlechtern sich, monieren Lehrerverbände. Ein Blick in die
Statistiken zeigt jedoch: Von einem «Bildungsabbau» kann in der Schweiz keine
Rede sein.
Haben Lehrer wirklich Grund zu klagen? Ein Faktencheck. SRF, 22.4. von Irène Dietschi
«Lasst uns endlich
wieder unterrichten!» Unter diesem Slogan hat der Verband des Personals
öffentlicher Dienste (VPOD) zusammen mit den Lehrpersonen im März eine Petition lanciert.
Die Gewerkschaft
prangert die Arbeitsbedingungen an den Schulen an. Diese machten einen
Grossteil der Lehrpersonen krank. Studien hätten gezeigt, dass der
Gesundheitszustand von Lehrpersonen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung zu
wünschen übrig lasse. «Viele Lehrpersonen sind am Rande der Erschöpfung oder
gesundheitlich angeschlagen, bis hin zum Burnout», klagen sie.
Die Gründe laut
Gewerkschaften: Budgetkürzungen, schlechte Löhne, überfüllte Klassen, immer
mehr Aufgaben. Doch stimmen diese Vorwürfe? Ein Faktencheck.
Faktencheck
1: «An der Bildung wird gespart»
Es
ist die Keule, die am meisten schmerzt: der angebliche Bildungsabbau in der
Schweiz. Der Vorwurf treibt Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler sowie auch
Eltern immer wieder auf die Strasse zum Demonstrieren.
Der jüngste Protest zum Thema fand Ende
März dieses Jahres in Bern statt. «Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns
die Bildung klaut», skandierten die Demonstranten. Bund und Kantone seien von
«Sparwut» getrieben und würden so die Bildung untergraben.
In der Tat haben in den letzten paar Jahren
einzelne Kantone Sparmassnahmen ergriffen, die auch die Bildung und somit die
Lehrpersonen getroffen haben. Der Dachverband LCH hat ausgerechnet, dass von
2013 bis 2015 in den Kantonen «Leistungen im Wert von mindestens 265 Millionen
Franken abgebaut» worden seien.
Der Bildungsökonom Stefan Wolter
relativiert diese Entwicklung: «Einen eigentlichen Bildungsabbau gibt es
nicht», sagt er. Wolter ist Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle
für Bildungsforschung in Aarau. Er forscht unter anderem zu den öffentlichen
Bildungsausgaben im Langzeitverlauf.
Er
sagt: «Wenn man die Bildungsausgaben in einem Zeitraum von zehn, fünfzehn
Jahren betrachtet, sieht man, dass die Ausgaben pro Schulkind im Durchschnitt
stetig gestiegen sind.»
Ein
Blick in die Erhebungen des Bundesamtes für Statistik bestätigt dies: 1990 gab
die Schweiz 15,8 Prozent der gesamten Staatsausgaben für die Bildung aus. 2015
investierte sie 17,2 Prozent der Gesamtausgaben, wie die jüngsten vorhandenen
Zahlen zeigen.
In absoluten Zahlen: Innert 25 Jahren haben
sich die Bildungsausgaben von 16 Milliarden Franken auf nahezu 37 Milliarden
Franken mehr als verdoppelt.
Faktencheck 2: "Die Klassen sind überfüllt"
Der
VPOD verlangt in seiner Petition kleinere Klassen. Die heutigen Klassengrössen
von maximal 25 Kindern würden von den Lehrpersonen als «Stress- und
Belastungsquellen» empfunden.
Tatsache ist, dass sich die Klassengrössen
in der Schweiz im internationalen Vergleich am unteren Level bewegen. Laut
aktuellstem Bildungsbericht der Schweiz aus dem Jahr 2014 (der
nächste Bildungsbericht erscheint im kommenden Juni) sitzen in einer Klasse der
Schweizer Volksschule im Durchschnitt 19,1 Kinder. In den 35 Ländern der OECD
sind es signifikant mehr, nämlich 21, 3 Kinder.
Ähnlich sehen die Relationen bei den
Betreuungsverhältnissen aus: Im OECD-Durchschnitt kommen auf eine Lehrperson
fast 16 Kinder, in der Schweiz ist es ein Kind weniger.
Silvia Steiner (CVP) lehnt kleinere Klassen
rundweg ab: «Diese Forderung ist illusorisch. Sie ist politisch eigentlich noch
nie mehrheitsfähig gewesen und wird es auch in Zukunft nicht sein.»
Interessant
ist die Verteilung grosser und kleiner Klassen, wie der Bildungsbericht
hervorhebt: Diese ist in der Schweiz sehr heterogen. In manchen Gemeinden und
Schulen sind die Klassen nur halb so gross wie andernorts; der Anteil der
grossen Klassen ist zwischen 1990 und 2010 stark zurückgegangen, während
derjenige der kleinen Klassen markant angestiegen ist.
Autor Stefan Wolter bezeichnet die Klagen
bezüglich «überfüllten Klassen» als teilweise berechtigt, wenn es um Schulen
mit einem Migrantenanteil von 80 Prozent gehe, und wenn dazu noch 25
Schülerinnen und Schüler in einer Klasse seien.
Faktencheck 3: "Lehrer sind unterbezahlt"
Der Dachverband LCH beklagt seit Jahren die
angeblich schlechten Löhne von Lehrerinnen und Lehrern. Diese seien «deutlich
tiefer als diejenigen von Berufsleuten anderer Branchen mit vergleichbaren
Anforderungen». Die Lohnsituation im Kindergarten und in der Primarschule nennt
der Verband «prekär» und «in vielen Kantonen diskriminierend tief».
In anderen Wirtschaftszweigen wie
Finanzdienstleistungen oder Chemie und Pharma seien die Löhne seit 1990 um
beinahe 30 Prozent gestiegen. Die Lehrerlöhne jedoch hätten nicht einmal mit
der durchschnittlichen Steigerung aller Branchen von 14,4 Prozent Schritt
halten können. Doch mit höherer Entlöhnung wäre der Lehrberuf attraktiver,
argumentiert der LCH, «und Stellen könnten mit geeignetem und gut ausgebildetem
Personal besetzt werden».
Was aber sind «vergleichbare Anforderungen»? Und
wie viel ist das auf dem Markt tatsächlich wert?
Wer heutzutage Primarlehrperson werden will, muss
ein dreijähriges Bachelor-Studium an einer pädagogischen Hochschule
absolvieren. Mit diesem Fachhochschulabschluss in der Tasche verdienen
Berufseinsteigerinnen in der Deutschschweiz zwischen 71’400 und 90'800 Franken
Jahreslohn (Erhebung der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz D-EDK
2017). Im 11. Dienstjahr klettert der durchschnittliche Jahreslohn einer
Primarlehrerin auf 99'700 Franken.
Bis zur Pensionierung steigen die Löhne weiterhin
kontinuierlich, wobei die kantonalen Unterschiede beträchtlich sind: Am meisten
zahlt der Kanton Zürich mit 140'000, am knausrigsten zeigt sich Graubünden mit
110'900 Franken Maximallohn. Nach der Statistik der D-EDK bezahlt Graubünden
das tiefste Salär überhaupt: 60'000 Franken Einstiegslohn bei den
Kindergärtnerinnen.
Mit welchen Branchen lassen sich die Löhne von
Primarlehrpersonen nun vergleichen? Realistischer als der Vergleich mit der
Finanzwirtschaft oder der Pharma-Industrie ist jener mit freien Berufen wie
Architekt oder Journalistin oder mit den Gesundheits- und Sozialberufen. Auch
hier verfügen die meisten, die diese Berufe ausüben, über mindestens einen
Fachhochschulabschluss – doch sie verdienen weniger oder höchstens gleich viel
wie Lehrpersonen.
Bei den Architekten und Bauingenieuren reichen die
Einstiegslöhne von 66'500 Franken bis rund 82'500 Franken. Der
durchschnittliche Monatslohn eines Journalisten beträgt 6000 Franken. Hebammen
(mit Masterabschluss!) verdienen einen mittleren Jahreslohn von 73'000 Franken,
Sozialarbeiter (Bachelor) kommen im Durchschnitt auf 85'000 Jahreslohn.
Bildungsökonom Stefan Wolter sagt, bei den Löhnen
habe es in den letzten Jahren nirgends grosse Sprünge gegeben, weder im
öffentlichen Sektor noch in der Privatwirtschaft. «Das Phänomen der
Lohnstagnation hat alle Erwerbstätigen in diesem Land getroffen», bilanziert
er. Und: «Würden Lehrpersonen aus dem Lehrberuf aussteigen, so ist anzunehmen,
dass sie in anderen Berufen keine viel bessere Situation antreffen würden.»
Faktencheck 4: "Lehrer müssen immer mehr leisten"
Lehrpersonen
monieren, sie müssten immer mehr Aufgaben übernehmen, die eigentlich nicht zum
Kerngeschäft des Unterrichtens gehörten. Die Solothurner Heilpädagogin und
Kantonspolitikerin Franziska Roth (SP) bringt es auf den Punkt: «Es gibt keinen
gesellschaftlichen Bereich, der nicht irgendwie von der Politik als Auftrag an
die Bildung gelangt ist, sei es Suchtprävention, sei es Gewaltprävention,
Sexualaufklärung, Umgang mit digitalen Medien etc.»
Handkehrum
hat diese Entwicklung dazu geführt, dass in Schulhäusern ganz unterschiedlich
qualifiziertes Personal zum Einsatz kommt, das den Lehrpersonen bei
ausserordentlichen Aufgaben zur Seite steht: schulische Heilpädagoginnen und
-pädagogen, Fachleute für Logopädie, Psychomotorik oder Schulsozialarbeit,
Klassenassistenzen und Betreuungspersonal für Tagesstrukturen, Schulleiterinnen
und -leiter ebenso wie Verantwortliche für Informatik oder Begabtenförderung.
Kurz: So wie die Aufgaben in der Schule
mehr geworden sind, hat auch der Support der Lehrpersonen zugenommen. Doch die
Lehrpersonen selber vergessen häufig zu erwähnen, dass ihnen ganz viel Arbeit
abgenommen wird.
Bildungspolitikerinnen und -experten bestätigen,
dass der Lehrberuf anspruchsvoller geworden sei. Doch dies ist kein exklusives
Phänomen: Die Dynamiken, die den Lehrberuf erfasst haben, treffen auf die
meisten anderen Berufe ebenfalls zu.
«Die Arbeit ist generell anspruchsvoller
geworden, weil die Geschwindigkeit höher geworden ist», sagt der Solothurner
Bildungsdirektor Remo Ankli (FDP). Man versuche jedoch in seinem Departement,
Lehrerinnen und Lehrer nach Möglichkeit zu unterstützen.
Was
bleibt schliesslich von den Klagen der Lehrpersonen? Es scheint, dass in dieser
Diskussion alle das sehen und sagen, was sie wollen. Die Widersprüche bleiben.
Fakt ist: 20 Prozent der Lehrpersonen sind
überfordert. Fakt ist auch, dass die Politik immer mehr Geld für die Bildung
ausgibt. Fakt ist auch, dass in gewissen Bereichen trotzdem gespart worden ist.
Und Umfragen zeigen, dass die meisten Lehrpersonen, obwohl sie am Limit laufen,
ihren Beruf lieben. Und mit keinem anderen tauschen möchten.
Stellvertretend für die Kommentare auf der Webseite SRF hier zwei Äusserungen:
AntwortenLöschenZu "Fakt" 1: Unbestritten machen oblig. Schulen den grössten Posten der Bildungsausgaben aus. Dieser Posten hat in den Jahren 2000 - 2015 um 54.70 % zugenommen, 51.8 zu 49.49 % der Gesamtausg. Der Kostenpunkt Forschung hat im gleichen Zeitraum um 528.77 % zugelegt, 3,06 zu ca. 10 % Anteil, die tertiäre Stufe um 66.98 %. Dabei fliesst das Geld längst nicht direkt in den Unterricht: Umsetzung Frühfremdsprachen, ICT, Spezielle Förderung, Harmos, Lehrplan 21...etwas differenzierter bitte.
samuel mollet (mollet_s)
Gestern, 21:53 Uhr
Sparen muss man nicht in der Bildung, sondern in der 'Bildungsadministration'! In diesen 'Ämtern' und 'Departementen' arbeiten alle 'sozial Ausgebildeten', denen die Schule zuviel wurde, sich als Lehrkraft nie durchsetzen konnten und nun sich und Ihresgleichen ein 'Jöbli' generieren müssen. Diese Kultur der letzten 10-15 Jahre wird nur durch die subversive Unterwanderung der Fachhochschulen übertroffen, die den Lehrerberuf mit Pseudoausbildungen an die Wand fahren. Lehrerberuf ADE !!
Mehr dazu auf https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/wochenende-gesellschaft/lehrer-am-limit-haben-lehrer-wirklich-grund-zu-klagen-ein-faktencheck