Behinderte und schwache Schüler werden seit zehn Jahren in normalen Klassen unterrichtet. Integration nennt sich das und wird, je nachdem, ob man mit Bildungsbeamten, Lehrern oder Eltern redet, komplett anders beurteilt.
Davonrennen, nachhumpeln, Weltwoche, 22.3. von Daniela Niederberger
In der Theorie klingt es grossartig. Beamte der Schulämter und
Dozenten von pädagogischen Hochschulen sprechen vom «Menschenrecht auf
Integration» und von der «Teilhabe aller». So auch an einer Veranstaltung von
Pro Infirmis, die jüngst in Winterthur stattfand und gut besucht war.
Filmausschnitte sollten zeigen, wie schön das funktioniert. Im Dokumentarfilm
«Elenas Chance» sah man, wie die muntere Elena, ein Mädchen mit Down-Syndrom,
in der Klasse und im Turnen mitmacht und auch gerügt wird, wenn sie beim
Aufräumen schlüüfe will.
Im Unterricht sitzt eine Heilpädagogin mit ihr am Pult.
In einem zweiten Film ging es um die stark körperbehinderten
Zwillinge Julian und Marius, die in eine normale erste Klasse gehen. Sie
können nur mühsam sprechen, sagen aber in die Kamera, dass sie etwas lernen und
vorwärtskommen wollen. Der schwerer behinderte Julian meint zwar nach einer
Schnupperwoche in der Sonderschule, dort sei es entspannter – aber eben, er
wolle vorwärtskommen. Die Mutter, eine Unternehmensberaterin, möchte unbedingt
dem Wunsch der Buben nachkommen; der Vater wäre eher für die Sonderschule.
Der zweite Film hinterlässt denn auch einen zwiespältigen
Eindruck. Wie geht es den Buben wirklich? Kommt der Wunsch, in die Regelschule
zu gehen, tatsächlich von ihnen oder von der Mutter? Diese Fragen wurden am
Anlass nicht gestellt, man feierte die Beispiele als gelungene Teilhabe und
klatschte eifrig.
Dabei sagte die Vertreterin der kantonalen Elternmitwirkungsorganisation
KEO, Gabriela Kohler, etwas, was zu denken geben müsste. Bei einer Umfrage
unter Eltern mit behinderten Kindern kam nämlich heraus: 72 Prozent finden es
schlecht, dass Klein- und Sonderklassen abgeschafft wurden. Viele Eltern sind
überzeugt, es wäre für einige Kinder besser, in speziellen Klassen
unterrichtet zu werden. Auf das Votum wurde nicht eingegangen.
Kinder
verwalten statt unterrichten
Wie ist es für einen Lehrer, alle Kinder – von unaufmerksam und
behindert bis hochintelligent – in einer Klasse unterrichten zu müssen? «Es
bleibt zu wenig Zeit und Energie für die Kinder», so Marcel Blum*, Primarlehrer
im Mittelland. In seiner Klasse, einer gemischten 1. und 2. Klasse, hat er 21
Kinder. In erster Linie würden die Kinder verwaltet. «Sie werden in
Förderstufen eingestuft. Dazu braucht es Abklärungen beim Schulpsychologen.
Das ist alles langwierig, und es hat mit Lernen noch nichts zu tun. Das
Verwalten und Einordnen der Kinder wird fast wichtiger als der Schulalltag.
Könnte ich in der Zeit in kleinen Gruppen unterrichten, hätte ich mehr
erreicht.»
Stattdessen geben sich Heilpädagoginnen, Sprachlehrerinnen für
Ausländerkinder, bisweilen eine Ergotherapeutin und eine Logopädin die Klinke
in die Hand. «Für die Kinder und mich bringt das viel Unruhe.»
Der Fächer geht in seiner Klasse, was Alter und Fähigkeiten
angeht, weit auf. Und nun soll er jedes Kind dort abholen, wo es steht.
«Binnendifferenzierung und Umgang mit Heterogenität» heisst das im Pädagogen-Latein.
Dazu finden viele Weiterbildungskurse statt. Lehrer Blum sagt: «Ich soll den
Lernstoff so differenzieren, dass jedes Kind auf seinem Entwicklungsstand
angesprochen wird. Ich habe die Energie nicht, das zu tun. Wenn ich es täte,
könnte ich nicht ausreichend persönlich auf das einzelne Kind eingehen.»
«Das eine Kind rechnet noch im Zehner-, das andere schon im
Hunderterraum, eines hat Mühe mit Addieren, das andere mit Malrechnen. Ich
müsste jede Entwicklungsstufe abdecken. Doch Erst- und Zweitklässler sind noch
nicht so selbständig, dass sie die Lerninhalte, die man für sie präpariert,
selber bearbeiten können. Sie sind schnell abgelenkt. Sie schlüüfed, schauen
beim Banknachbarn ab oder lassen das Blatt verschwinden. Bei 21 Kindern habe
ich, wenn ich mich an die geforderte Binnendifferenzierung halte, den
Überblick nicht mehr. Meine Pflicht als Lehrer ist es, jedem Kind gerecht zu
werden. Das kann ich so nicht.»
Lehrer Blum denkt, Klein- und Einführungsklassen wären für die
Kinder besser. Auch von Kolleginnen und Kollegen hört er, dass sie an Grenzen
stossen. Kritik wird aber kaum geäussert. «Viele Lehrer haben Angst, zu sagen,
‹Ich werde nicht jedem Kind gerecht.› Sie wollen nicht als schlechte
Berufsleute dastehen. Binnendifferenzierung gilt heute als professionell.»
Marcel Blum hatte einmal ein behindertes Kind in der Klasse, einen Jungen mit
einer Muskelkrankheit, der zeitweise im Rollstuhl sass. Das Kind war kognitiv
und sprachlich begabt, das war nicht das Problem. Das Problem war die Grob- und
Feinmotorik. Konkret heisst das: die Pausen und das Turnen. «Jungen in dem
Alter messen sich untereinander. Im Turnen war er wie selbstverständlich
ausgeschlossen. Was mache ich da als Lehrer? Ich mache Übungen, die für die
anderen Kinder nicht herausfordernd sind. Eine Weile geht das, dann nicht
mehr.»
Der Lehrer musste dem Kind die Turnschuhe an- und ausziehen.
Eigentlich hätte dafür die Ergotherapeutin kommen müssen. «Und dann wartet sie
eine Turnlektion lang, bis sie ihn wieder ausziehen kann? Und wird dafür
bezahlt? Das kann es ja nicht sein.»
Auch musste der Junge öfter getragen werden, weil im Schulhaus
Rampen fehlten. «Dabei haben wir in der Gemeinde ein Schulheim, wo alle
Einrichtungen und die entsprechenden Fachkräfte vorhanden wären», sagt Blum.
Irgendwann ging es nicht mehr. «Ich bedauerte sehr, dass ich als
Klassenlehrperson viel zu wenig auf den Jungen eingehen konnte, ohne dass ich
meine Pflicht gegenüber den anderen Kindern zu stark vernachlässigt hätte.
Dieses Dilemma konnte ich nicht lösen.»
Der Bub tat ihm leid. «Das, was ich bieten kann, und die Umgebung
einer Regelklasse entsprechen dem Bedürfnis eines solchen Kindes überhaupt
nicht. Es hat eine so kurze Lebenserwartung. Da würde ich in den Wald gehen
mit ihm; Bäume bestimmen und Bodenmandalas machen. Aber sicher würde ich es
nicht ins Turnen schicken und es dem Vergleich mit den anderen aussetzen. Dort
kann es doch nie und nimmer mithalten.»
Es gab auch Erfolgsmomente: Der Knabe war im Rechnen flink. Doch
das Negative überwog. «Es war ganz trivial. In der Pause rannten ihm die anderen
davon, und er versuchte nachzuhumpeln. Er hätte dabei sein wollen und konnte es
wegen seines Körpers nicht. Das prägt sich ein. Das ist für das
Selbstwertgefühl nicht gut.»
Integration
als gesunde Abhärtung?
Lehrer Blum glaubt, die Sonderschule wäre der humanere Weg. «Dort
haben die Kinder ähnliche Schicksale, sie verstehen sich, sehen die Welt mit
ähnlichen Augen. Der ständige Vergleich mit den Gesunden fällt weg.»
Anderer Ansicht ist Christina Lee, zuständig für die schulische
Integration in Winterthur Nord. Es stimme zwar, dass die «Auseinandersetzung
mit Normalität und Anderssein in integrierten Settings eine grosse
Herausforderung für Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung» sei. «Aber
gleichzeitig lernen sie in der Schule, mit diesem Lebensthema umzugehen.»
Integration als gesunde Abhärtung?
Le hat selber einen körperbehinderten Sohn, der mittlerweile
erwachsen ist. Er ging in die Sonderschule, wäre aber gern mit seinen Freunden
aus dem Dorf zur Schule gegangen. «Das war ein Riesenthema. Er wollte seine
Freunde selber aussuchen und nicht reduziert werden auf einen kleinen Kreis,
so, wie wir das auch wünschen. Er wollte nicht in die Behindertenecke gedrängt
werden.» Nach der Schulzeit arbeitete er in einer Werkstatt für Menschen mit
Behinderung. «‹Wenn ich schon da arbeite›, sagte er, ‹will ich wenigstens in
der Freizeit Kontakte mit Menschen ohne Behinderung›.» Ausser mit seinem besten
Freund, der die gleiche Beeinträchtigung hat. «Sonst bin ich lieber allein.»
Auffallend ist die Abwertung des Behindertseins durch die
Propagandisten der Integration oder durch Behinderte selber. «Nicht in die
Ecke drängen lassen.» Das tönt nach Schandecke. Da gibt es ein gut und weniger
gut. Dabei tun sich in allen Gesellschaften die Gleichen zusammen. Es ist weniger
anstrengend. Albaner mit Albanern, Studenten mit Studenten, die Reichen in
St. Moritz mit anderen Reichen.
Mittlerweile nimmt der junge Mann an einem Pilotprojekt der
Pädagogischen Hochschule Unterstrass teil, die Behinderte zu Assistenzlehrern
ausbildet. Da ist er eine Ausnahme. Gabriela Kohler von der Elternorganisation
KEO hört oft von Eltern mit behinderten Kindern, dass die Integration in der
Schule zwar einigermassen geklappt hat – «doch dann, bei der Lehrstellensuche,
kommen sie auf die Welt». Sie hoffen dann natürlich auf eine Stelle im ersten
Arbeitsmarkt, so Koller, «aber der ist noch nicht bereit».
Für Lehrer Blum hat der «Zwang zur Integration mehr mit Ideologie
zu tun als mit einem Bedürfnis der Kinder». Die Erwachsenen machten ihre Probleme
zum Problem der Kinder. Doch: «Kinder sind im Hier und Jetzt. Sie sind
zufrieden, wenn es dort, wo sie sind, gut ist.» Für Kinder sei die Beziehung
zur Lehrperson das Wichtigste. «Kann ich ihr vertrauen, ist sie mir
wohlgesinnt, versteht sie mich, erkennt sie das Wesentliche meiner Person,
damit sie mich wirklich fordern und fördern kann? Das alles braucht Zeit für Beziehung.»
* Name geändert
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