2. April 2018

Erfahrungen mit früher Einschulung


Zerstört eine frühe Einschulung, wie Macron sie plant, das Familienleben – oder stärkt sie die Chancengleichheit? Erfahrungen aus Frankreich, der Schweiz und Spanien
Mit drei zur Schule, Zeit, 31.3. von Elisabeth KagermeierAnnika JoeresMatthias Daum und Julia Macher


Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat angekündigt, dass alle Kinder in seinem Land künftig mit drei Jahren zur Schule gehen sollen. In Deutschland wäre das undenkbar: Hier gilt die Schulpflicht ab sechs Jahren, davor wird gespielt. Es herrscht zwar ein Konsens über die Bedeutung frühkindlicher Bildung, und einzelne Bildungsexperten und Lokalpolitiker argumentieren, eine Kindergartenpflicht stärke die Chancengleichheit. Deswegen haben deutsche Eltern seit 1996 einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab drei Jahren, seit 2013 sogar ab dem ersten Geburtstag.
Aber eine Kitapflicht, wendet die Mehrheit ein, zerstöre das Familienleben. Stattdessen fordert die neue Familienministerin Franziska Giffey mehr Qualität in den Kitas. So sollen kleine Kinder dazu angeregt und nicht dazu gezwungen werden, Deutsch zu sprechen, zu turnen, mit Musikinstrumenten oder draußen mit Matsch und Stöcken zu experimentieren. Gegen eine Kitapflicht sprechen auch die derzeitigen Kosten: Kitas gelten als Dienstleistung für berufstätige Eltern, deswegen zahlen sie meist Gebühren dafür. Je jünger die Kinder sind, desto höher sind die Gebühren. In manchen Bundesländern gibt es inzwischen kostenfreie Kitajahre, und im Koalitionsvertrag streben Union und SPD vage an, alle Kindergärten und Kitas kostenfrei zu machen. Das wäre eine erste Voraussetzung für eine Kitapflicht.

Nicht nur im Vergleich zu Deutschland ist Frankreichs Weg außergewöhnlich. Europäische Länder gehen sehr unterschiedlich mit frühkindlicher Bildung um. In Österreich müssen seit 2010 Kinder ab fünf Jahren für ein Jahr verpflichtend eine Kindereinrichtung besuchen, mindestens 20 Stunden pro Woche auf fünf Werktage verteilt. Während der Schulferien entfällt die Pflicht. Fernbleiben ist an höchstens drei Wochen im Jahr erlaubt, egal ob die Kinder wegen Krankheit oder Urlaub entschuldigt sind.

Lesen Sie hier, wie es Frankreich, Spanien und die Schweiz halten.
Frankreich: Alle sollen die gleichen Wörter lernen
Mit dem verpflichtenden Schulbesuch ab drei Jahren sollen nach dem Willen der französischen Regierung alle Kinder dieselben Startchancen erhalten. Dabei gehen in Frankreich ohnehin fast alle Jungen und Mädchen schon vor der Grundschule in die sogenannte école maternelle: 97 Prozent waren es 2017. Für die meisten französischen Familien findet die Einschulung schon mit drei Jahren statt. Wer seinen Nachwuchs später zur Schule schickt, ist oft religiös, christlich wie muslimisch, oder wohnt in Überseegebieten wie Mayotte.

Die écoles maternelles funktionieren ähnlich wie Schulen: Sie beginnen für alle Altersstufen jeden Morgen pünktlich um 8.30 Uhr. Dreijährige lernen zählen, Vierjährige malen ihre ersten Buchstaben, und Fünfjährige nehmen ein Zeugnis mit nach Hause. Darin steht, ob sie schon kurze Wörter schreiben, Dreiecke und Vierecke auseinanderhalten und Geschichten vom Wochenende erzählen können. Die Kleinen lernen in Klassen mit 25 bis 30 Kindern, unterrichtet werden sie von einer Lehrerin und einer Hilfskraft. Ab 16.30 Uhr können sie abgeholt werden oder noch in der Betreuung bleiben. Die langen Zeiten und großen Gruppen verwundern viele deutsche Eltern. Französische Eltern aber sind daran gewöhnt: Vier von fünf Frauen arbeiten trotz Kinder in Vollzeit weiter. Selbst die Krippen für Babys ab drei Monaten sind bis abends um halb sieben oder länger geöffnet – und gut besucht.

Durch das neue Gesetz will Macron hervorheben, wie wichtig seiner Meinung nach die ersten Lernjahre sind. Gerade beraten Bildungsexperten über das Programm der künftigen maternelle: Vor allem die Sprachfähigkeit der Kleinen soll gefördert werden. Denn wie Bildungsminister Jean-Michel Blanquer gerne erwähnt: Ein Kind aus einem privilegierten Elternhaus hat bis zu seinem vierten Lebensjahr insgesamt 30 Millionen Wörter mehr gehört als ein Kind mit weniger gebildeten oder sprachfaulen Eltern. Ab dem Schuljahr 2019 sollen nun wirklich alle kleinen Franzosen und Französinnen gleich viele Wörter hören – in der Schule und nicht zu Hause.
von Annika Joeres, Paris

Schweiz: Zähneputzen steht im Lehrplan
In Schweizer Kindergärten wird ebenfalls nicht nur gespielt, sondern nach Lehrplan gelernt: Tierezeichnen, Liedersingen oder Sich-alleine-die-Zähne-Putzen. Für Ferien oder Feiertage gelten die gleichen Regeln wie später: Urlaub nur während der offiziellen Schulferien, und wer nicht kommt, muss es begründen.

Diese Regelung begann in der Schweiz mit der großen Bildungsreform Harmos vor gut zehn Jahren. Sie vereinheitlichte die vorher unterschiedlichen Schulsysteme. So sollten es Kinder in der Schule leichter haben, wenn sie von einem Schweizer Gliedstaat in einen anderen umziehen. Mit der Reform kam auch die frühere Schulpflicht. Kinder werden nun im Alter von vier Jahren eingeschult, die obligatorische Schulzeit dauert nun elf statt wie bisher neun Jahre.

Die damalige Diskussion über Harmos glich einem Kulturkampf: Von "Staatskindern" war die Rede und von "Erziehungskolchosen". Für die Kleinsten änderte sich aber nicht viel. Bereits vor der Bildungsreform besuchten 86 Prozent aller Kinder zwei Jahre lang einen Kindergarten. Auch heute können Eltern noch den Eintritt in den Kindergarten um ein Jahr verschieben, wenn sie das Gefühl haben, ihre Tochter oder ihr Sohn sei noch nicht reif genug.



Krach gab es trotzdem, nämlich bei der Frage, welche Sprache im Kindergarten gesprochen werden soll: Mundart oder Hochdeutsch? Entscheiden konnten das die einzelnen Gliedstaaten beziehungsweise die Bürgerinnen und Bürger in mehreren Volksabstimmungen.
von Matthias Daum, Zürich

Spanien: Schulpflicht mit drei – nur indirekt
Wer in Madrid, Barcelona oder Sevilla einen Dreijährigen fragt, ob er schon ins cole geht, erntet fast immer ein stolzes Nicken. Die Schulpflicht beginnt zwar auch in Spanien erst mit sechs Jahren, aber knapp 96 Prozent der spanischen Eltern schicken ihre Kinder ab drei Jahren zur Vorschule. Im Baskenland und im Großraum Madrid ist die Quote mit fast 100 Prozent am höchsten, auf den Kanarischen Inseln und in den Exklaven Ceuta und Melilla am niedrigsten.

Spaniens Politiker und Erziehungsexperten feiern die frühe De-facto-Einschulung als großen Erfolg. Für die meisten Familien ist die Betreuung aber schlicht eine Notwendigkeit: In der Regel arbeiten beide Elternteile, und die spanischen Arbeitszeiten sind im europäischen Vergleich überdurchschnittlich lang.

Außerdem fördert die spanische Schulstruktur eine frühe Einschulung. Vorschulen sind räumlich und organisatorisch an Grundschulen angegliedert. Die pädagogischen Konzepte der Grundschulen unterscheiden sich jeweils stark, deshalb gilt die Wahl der passenden Grundschule als wegweisend für die spätere Laufbahn des Kindes. Weil die Plätze für gute Grundschulen begehrt sind und der Besuch einer Vorschule einen Platz in der dazugehörigen Grundschule garantiert, beeilen sich viele spanische Eltern mit der Einschulung. Wer mit drei angemeldet wird, bleibt oft bis zum Ende der sechsten Klasse sogar im gleichen Klassenverband. Wer hingegen bis sechs zu Hause geblieben ist, bekommt einen Platz zugewiesen – je nachdem, wo noch einer frei ist. Alternativ können Eltern den Nachwuchs an einer kostenpflichtigen privaten oder halbprivaten Schule anmelden.

Die Schulglocke läutet für alle spanischen Kinder in der Regel um neun, der Unterricht endet zwischen 16 und 17 Uhr. Turnhalle, Musikraum und Kantine werden geteilt. Die erzieherischen Leitlinien gelten für alle Schülerinnen und Schüler.

Seit 2006 garantiert Spanien jedem Kind ab drei Jahren einen Platz in den kostenlosen Kinderschulen. Gesetzliches Ziel ist die "physische, affektive, soziale und intellektuelle Entwicklung der Kinder". Zusätzlich zum öffentlichen Angebot schließen die Verwaltungen Abkommen mit gemeinnützigen Einrichtungen ab. Die halbprivaten escuelas concertadashaben häufig ein religiöses Profil und genießen größere Lehrfreiheit.
Engpässe gibt es vor allem bei der Betreuung von unter Dreijährigen. In Spanien gibt es weder Elterngeld noch Elternzeit, und der gesetzliche Mutterschutz endet nach 16 Wochen. Plätze an subventionierten öffentlichen Kitas sind selten, und private Kitas sind teuer. Nur 34 Prozent der Familien mit geringerem Einkommen lassen ihr Kleinkind außer Haus betreuen. Bei den Familien mit höherem Einkommen sind es 56 Prozent. Der spanische Kongress hat deshalb im letzten Jahr die Regierung aufgefordert, auch für unter Dreijährige eine kostenlose Betreuung zu garantieren.
von Julia Macher, Barcelona


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