Noch nie habe er in seiner langjährigen
Tätigkeit derart viele Reaktionen aus den Schulen erhalten, sagt Philipp
Grolimund, Co-Präsident des Verbands Schulleiterinnen und Schulleiter Aargau.
Für Irritation und Empörung sorgt die sogenannte Pauschalierung der
«verstärkten Massnahmen» – dies, nachdem das kantonale Departement Bildung,
Kultur und Sport den Aargauer Schulen mitgeteilt hat, wie viele Lektionen ihnen
ab dem neuen Schuljahr noch zustehen.
Drohender Aargauer Sparhammer: "Viele Schulen stehen vor grossen Problemen", Aargauer Zeitung, 5.4. von Jörg Meier
Von
individuell zu pauschal
Unter dem Begriff «verstärkte Massnahmen»
versteht man die zusätzliche Unterstützung, die Kinder und Jugendliche mit
einer Behinderung oder einer erhöhten Beeinträchtigung erhalten. Möglich ist
dies entweder als Angebot einer Sonderschule oder als individuelle
Unterstützung in der Regelschule. Ziel ist es, dass diese Kinder und
Jugendlichen aus dem Schulunterricht einen sinnvollen Nutzen für ihre weitere
Entwicklung ziehen und am gemeinschaftlichen Leben der Klasse teilnehmen
können.
So machen es die verstärkten Massnahmen zum
Beispiel möglich, dass Kinder mit einer Behinderung dank der individuellen
Unterstützungsangebote trotzdem die Regelschule besuchen können. Bisher klärte
der Schulpsychologische Dienst ab, wie viele Lektionen aus dem Topf dieser
verstärkten Massnahmen ein Kind mit Behinderung braucht. Diese Lektionen wurden
vom Bildungsdepartement bewilligt und von Fachpersonen erteilt.
Doch ab dem Schuljahr 2018/19 werden die
verstärkten Massnahmen nicht mehr individuell für die einzelnen Schülerinnen
und Schüler gesprochen. Künftig werden die Ressourcen für verstärkte Massnahmen
nach einem komplizierten Schlüssel pauschal den einzelnen Schulen zugeteilt.
Als wichtigstes Kriterium gilt dabei die Schülerzahl.
Schulen, die unter erschwerten Bedingungen
arbeiten müssen, können einen Antrag auf zusätzliche Lektionen stellen.
Ausserdem können Schulleitungen verstärkte Massnahmen für genau definierte
Einzelfälle beantragen. «Dieser Systemwechsel von der individuellen zur
pauschalen Zuteilung der verstärkten Massnahmen stellt die Schulleitungen vor
grosse Probleme», sagt Grolimund.
Behinderte
nicht mehr integriert?
Bei der Pauschalierung der verstärkten
Massnahmen handelt es sich primär um eine vom Regierungsrat beschlossene
Sparmassnahme. Noch im November 2017 hatte man den Schulleitungen versichert,
die Kürzungen würden maximal 14 Prozent betragen. Nun stellten aber
verschiedene Schulen fest, dass sie nach der neuen Regelung bis zu 40 Prozent
der Ressourcen für verstärkte Massnahmen verlieren werden, sagt Grolimund
weiter; und das sei doch ziemlich irritierend. Die Konsequenzen der
Pauschalierung, die er in diesem Bereich grundsätzlich für falsch hält, sieht
Grolimund auf drei Ebenen: Leidtragende sind einerseits Schülerinnen und
Schüler, die auf einmal nicht mehr genügend Förderung erhalten. Das könne dazu
führen, dass es künftig nicht mehr möglich sein werde, Kinder mit einer
Behinderung weiterhin in der Regelklasse zu unterrichten.
Betroffen sind aber auch etwa
heilpädagogische Lehrpersonen, die mit Pensenreduktionen oder gar Kündigungen
rechnen müssen. Betroffen sind letztlich auch die Schulleitungen, die aufgrund
der unklaren Situation keine zuverlässige Pensenplanung vornehmen können. Sie
stehen besonders unter Druck. Denn die Kündigungsfrist läuft am 30. April ab.
«Unglückliches»
Vorgehen
Bereits ist der Schulleiter-Verband beim
Bildungsdepartement vorstellig geworden und hat verlangt, dass Gesuche für
zusätzliche Ressourcen für verstärkte Massnahmen grosszügig behandelt und
bewilligt werden. Schon jetzt zeichne sich aber ab, dass der «Topf» für
zusätzliche Ressourcen verschwindend klein sei. «Viele Schulen stehen vor
grossen Problemen», konstatiert Grolimund.
Als «unglücklich» stuft Grolimund das
Vorgehen des Bildungsdepartements auch im Hinblick auf das Projekt «Neue
Ressourcierung der Volksschule» ein, das ab Schuljahr 2020/21 umgesetzt werden
soll. Vorgesehen ist, dass jede Schule alle Lektionen pauschal zugeteilt erhält
und dann frei entscheiden kann, für welche Angebote sie diese verwendet.
«Angesichts der aktuellen Situation fragen sich viele Schulleitungen, ob die
geplante neue Ressourcierung, wie sie das Departement propagiert, der Schule
vor Ort wirklich weiterhelfen wird», sagt Grolimund.
Volksschul-Chef wehrt sich gegen Kritik
AntwortenLöschen«Kinder mit einer Behinderung haben wie alle anderen Kinder in der Klasse das Recht auf eine optimale Förderung.» Das hält Christian Aeberli, Leiter Abteilung Volksschule beim Kanton, auf Anfrage der AZ fest. Und er betont: «Auch mit der neuen, pauschalierten Zuteilung der Unterstützungslektionen bleibt dies gewährleistet.» Neu würden die Ressourcen der Schule zur Verfügung gestellt und nicht dem einzelnen Kind. Damit werden laut Aeberli die Einsatzmöglichkeiten vergrössert. «Schulleitung und Lehrpersonen zusammen können entscheiden, wie die Förderung aller Kinder in einer Klasse am besten gelingt.» So könne es in einem Fall vorteilhafter sein, zwei Lerngruppen zu bilden, in einem anderen Fall sei vielleicht die enge Betreuung eines einzelnen Kinds besser. Die Änderungen erfolgten laut Aeberli auch vor dem Hintergrund, dass die Diagnosen von erheblichen sozialen Beeinträchtigungen innerhalb von fünf Jahren um 90 Prozent zugenommen hätten.
Vor zwei Jahren wurden im Grossen Rat Vorstösse zur integrativen Schule diskutiert. SVP und FDP stellten das Modell massiv infrage, Regierungsrat Alex Hürzeler versprach Anpassungen auf das Schuljahr 2018/19. Aeberli sagt, die Pauschalierung der Unterstützungslektionen sei eine Reaktion der Regierung auf die politischen Vorstösse. «So wird das Wachstum bei den verstärkten Massnahmen gebremst». Zudem könnten Aufsicht und Betreuung neu an Assistenzpersonen delegiert werden. Schliesslich wurde laut Aeberli der Behinderungs-begriff präzisiert. «Für einen Anspruch auf Unterstützungslektionen muss eine stark eingeschränkte Funktionsfähigkeit nachgewiesen werden.» Er betont, die Lehrerschaft sei über die Änderungen via Schulblatt informiert worden.
Quelle: Aargauer Zeitung, 5.4.