In einer Woche bestreiten Zürcher Schüler die Aufnahmeprüfung fürs
Langzeitgymnasium. Wer sie besteht, wird bald ein neues Fach haben: Latein.
Daran führt kein Weg vorbei. Der Kanton bietet Sechstklässlern keine
Möglichkeit, einem Gymnasium ohne Latein beizutreten. Dieser Lateinzwang für
alle 12-Jährigen ist ein Witz – zumal seit ein paar Monaten sogar die Sprachstudenten
davon befreit sind. Mit den Medizinern und Juristen hatte man schon vor
Jahrzehnten Erbarmen.
Klassisches Langzeitgymnasium: Die Kantonsschule Freudenberg in Zürich. Bild: Wikipedia
Mit dem Latein am Ende, Tages Anzeiger, 5.3. von Philippe Zweifel
Kein Wunder: Die Studenten haben Wichtigeres zu tun, als die
lateinischen Begriffe für «Schild» und «Speerspitze» oder andere absurde
Begriffe aus Cäsars Kriegstagebuch zu lernen. Doch wenn Latein auf
universitärer Stufe nicht mehr gefragt ist, wieso dann noch in der Schule?
Diese Frage stellt sich umso mehr, als Gymnasiasten oft unter grösserem Druck
stehen als Studenten. Sie haben einen vollen Stundenplan, und die Ansprüche,
die Arbeitsmarkt und Gesellschaft an sie stellen, steigen von Jahr zu Jahr.
Dass da im Stundenplan des ersten Gymi-Jahres sechs Lektionen Latein auf drei
Lektionen Englisch kommen, ist nicht nachvollziehbar.
Ein praktisches Selektionstool
Oder etwa doch? Latein ist ein praktisches Selektionstool, um die Anzahl
Schüler zu steuern. Das war es schon immer. Aber heute haben vor allem Kinder
aus bildungsfernen Schichten oder solche mit Migrationshintergrund damit zu
kämpfen. Ihre Eltern haben nie Latein gebüffelt und können ihnen nicht unter
die Arme greifen. In einem Land wie der Schweiz, wo wir trotz wachsenden
Bedarfs an Hochqualifizierten eine tiefe Maturitätsquote von 20 Prozent haben,
ist ein solcher Stolperstein nicht nur elitär und ungerecht, sondern auch
unklug.
Es wird niemand dazu gezwungen, Latein zu lernen, lautet das
Gegenargument. Die Kurzzeitgymnasien nach der Sekundarschule würden sich ja auf
Wirtschaft, Sprachen oder Naturwissenschaften konzentrieren. Das ist richtig,
aber scheinheilig. Zum einen ist die Aufnahmeprüfung nach der Sekundarschule
wegen fehlender Vornoten schwieriger als nach der sechsten Klasse. Und wieso
sollten gerade naturwissenschaftlich begabte Kinder zwei Jahre warten, bis sie
auf ihre Kosten kommen?
Die inhaltlichen Argumente der Lateiner sind altbekannt und allesamt
leicht zu widerlegen. Lateinunterricht vermittelt die Grundlagen von Kultur,
Philosophie und Politik? Lernt man auch in anderen Fächern! Latein lehrt einen,
mit Sprachen umzugehen? Nützlicher wäre es, weitere Fremdsprachen zu lernen!
Latein schult die Selbstdisziplin? Tun alle Fächer, gerade die mathematischen!
Dass Latein das logische Denken fördere und so auch den Anforderungen der
Digitalgesellschaft zugutekomme, ist das irritierendste Argument der
altphilologischen Zwangsbeglückung. Wenn es junge talentierte Menschen gibt,
die sich gerne mit Programmieren beschäftigen, sollen sie Algorithmen
studieren, keine Verbtafeln.
Geist und Kultur stecken nicht nur im Latein
Muss immer alles zielgerichtet und nutzenorientiert sein? Geht es nur
noch um «Bildung» von Arbeitskräften? Kurz: Sollte die Schule nicht auch ein
Ort sein, an dem Geist und Kultur gepflegt werden? Natürlich. Aber Geist und
Kultur stecken nicht nur im Latein. Humanistische Bildung ist
kein Gegensatz zu unserer heutigen digitalen Kultur. Latein auszulassen, heisst
nicht, Bildung zu verpassen. Es heisst, mehr Zeit für Bildung zu schaffen.
Ausserdem soll ja nicht das Latein als Fach abgeschafft werden, sondern
der Zwang dazu. Schüler sollten wählen können, ob sie Latein lernen wollen oder
nicht. Alternativen dazu gäbe es je nach Interesse des Schülers genügend:
Sprachen, Informatik oder Musik.
Denn: Non scholae, sed vitae discimus, heisst es. Wer das nicht
verstanden hat – und das dürften die meisten sein – muss sich nicht ungebildet
vorkommen. Man kann es ganz einfach auch auf Deutsch sagen: Nicht für die
Schule, sondern für das Leben lernen wir.
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